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Prof. Dr. E. Flitner.
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1
Max Weber, Religionssoziologie II. [1]
Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen.
Hinduismus und Buddhismus.
I. Das hinduistische soziale System
1
). - Indien und die allgemeine Stellung des
Hinduismus S. 1. - Die Art der Propaganda des Hinduismus S. 8. - Lehre und Ri-
tus im Hinduismus S. 22. - Die Stellung des Veda im Hinduismus S. 27. - Die
Stellung der Brahmanen und das Wesen der Kaste im Verhältnis zum “Stamm”,
zur Zunft” und zum Stand” S. 33. - Die soziale Rangordnung der Kasten im
Allgemeinen S. 45. - Die Stellung der Sippe und die Kasten S. 51. - Die Haupt-
gruppen der Kasten S. 57. - Kastenarten und Kastenspaltungen S. 98. - Die Ka-
stendisziplin S. 106: Die Kasten und der Traditionalismus S. 109. - Die religiöse
Heilsbedeutung der Kastenordnung S. 116. - Historische Entwicklungsbedingun-
gen der Kasten in Indien S. 122.
I.
Indien ist und war, im Gegensatz zu China, ein Land der Dörfer und der denkbar
unerschütterlichsten geburtsständi-
1
) L i t e r a t u r . Grundlagen, für die Kenntnis Indiens und jetzt namentlich auch des
Kastensystems sind die Statistiken und vor allem auch die ausgezeichneten soziologi-
schen Arbeiten, welche darüber in den Publikationen des zehnjährigen Zensus von Indi-
en enthalten sind. (Census of India, Reports, stets ein besonderer Generalbericht und
dann je ein Report mit Tabellen für jede Presidency außer den reinen Zahlenbänden, -
Erscheinungsort: Calcutta). Namentlich der Zensus von 1901 förderte zum ersten Male
umfassendes Material für ganz Indien zutage, welches der Zensus von 1911 in wichti-
gen Punkten ergänzte. Die General- und Provinzialberichte von Risley - dem Verfasser
der Castes and Tribes of Bengal(Calc. 1891/2) - Blunt, Gait u. a. gehören zum be-
sten, was die soziologische Literatur überhaupt aufzuweisen hat. Ein in seiner Art mu-
stergültiges Nachschlagewerk über Indien ist der Imperial Gazetteer of India, alphabe-
tisch, mit 4 systematischen, die natürlichen, geschichtlichen, ökonomischen, sozialen
und Kultur-Verltnisse Indiens, unter dem Namen: The Indian Empire, behandelnden
Einleitungsbänden (New. Ed. Oxford, Clarendon Press, 1908/9). Die Referenten des
Zensus setzen sich auch mit den zahlreichen modernen Kasten-Entstehungs-Theorien
von S é n a r t (Les Castes dans l´ Inde, Paris 1896) und B o u g 1 é (Essais sur le
régime des castes (Trav. de 1' Année sociol., Paris 1908) und dem älteren Werke
N e s f i e l d s (Brief View of the Caste System of the North Westen Provinces and
Oudh, Allahabad 1885) u. a. auseinander. Beste moderne Arbeit; B a i n e s : Ethno-
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2
Hinduismus und Buddhismus [2]
schen Gliederung. Aber zugleich ein Land des Handels, nicht nur des Binnen-,
sondern gerade auch des Fernhandels, insbe-
.
.
graphy in Bühlers Grundriß der Indo-arischen Philologie (Straßburg 1912) mit ausgiebigstem
Literaturverzeichnis. Diese Werke, ebenso wie die bekannten großen Arbeiten der hervorra-
genden deutschen Indologen: A. W e b e r , Z i m m e r , H. O l d e n - b e r g zur indi-
schen Kulturgeschichte sind nachstehend selbstverständlich überall benutzt, aber nur dann be-
sonders zitiert, wenn ein sachlicher Anl vorlag. Zu den besten Arbeiten über die indische So-
zialgeschichte gehört R. F i c k s Soziale Gliederung im norstlichen Indien zu Buddhas
Zeit” (Kiel 1897), ergänzt durch die an geeigneter Stelle zu zitierenden Aufsätze von Wash-
burne Hopkins (namentlich in India Old and New, New York 1911), Caroline Rhys Davids u.
a. Zu vergleichen ist aus der historischen Literatur namentlich Vincent A. S m i t h , Early Hi-
story of India from b. C. 600 to the Mahomm. Conquest (Oxford 1904). Grant D u f f , Hi-
story of the Mahrattas, London 1911) und etwa die “Rulers of India Series” (Oxford). Gute
Abrisse zur Einführung in The Indian Empire. Andere Literatur ist an gegebenen Stellen zitiert.
Für die neuere Heeresgeschichte am bequemsten das Buch von P. H o r n , Heer- und Kriegs-
wesen der Großmoghuls (Leiden 1894). Für die Wirtschaftsgeschichte sind die benutzten Ar-
beiten bei den betreffenden Teilen der folgenden Darstellung zitiert. Die überreichlichen mo-
numentalen Quellen enthalten für die Spezialgeschichte massenhaftes, aber bisher nur zum
kleinsten Teil zusammenfassend verarbeitetes Material. Die größte Zahl solcher Inschriften,
von denen bisher Uebersetzungen vorliegen, sind mit dieser und mit sprachlichen und sachli-
chen Kommentaren fortlaufend herausgegeben, teils in der archäologischen Zeitschrift: Indian
Antiquary” (bisher 45 Quartbände) teils in der nur Epigraphik treibenden Zeitschrift “Epi-
graphia Indica”: in beiden finden sich ausgezeichnete Einzeluntersuchungen von Hultzsch,
Fleet, vor allem auch von Bühler. Leider konnte ich. Hultzsch's South Indian Inscriptions und
das Corpus Inscr. Indic. diesmal nicht einsehen.
Von den unermlichen literarischen Quellen liegen in deutschen und englischen Ueberset-
zungen vor die wichtigsten Teile der Veden. Dazu sind für soziologische Zwecke die ausge-
zeichneten “Vedischen Studienvon Pischel und Geldner, für die Entwicklung des Brahmanen-
tums Bloomfield, The Atharva Veda (Bühlers Grundriß der Indo-arischen Philologie, Straß-
burg 1899), für die religiöse Entwicklung aber H. Oldenberg, Die Religion des Veda zu benut-
zen. Von den E p e n : Teile des M a h a b h a r a t a (dazu D a h l m a n n , S. J.: Das
Mahabharata als Epos und Rechtsbuch, Berlin 1895) und des R a m a y a n a. Die Sutralitera-
tur, soweit übersetzt, in den Sacred Books of the East. Auf den (ins Englische übersetzten)
sehr wichtigen frühbuddhistischen Legenden, den Jataka's, vornehmlich beruhen die erwähnten
Arbeiten von Fick, Mrs.Rhys Davids, W. Hopkins über die Hindu-Gesellschaft dieser Epoche.
Sodann: die R e c h t s b ü c h e r des A p a s t a m b a , Manu, Vasishtha, Brihaspati,
Baudhâyana (diese in den Sacred Books of the East). Ueber das indische Recht ist zu verglei-
chen vor allem das Buch von J o l l y in Bühlers Grundriß der Indo-arischen Philologie, ferner
West und Bühler, Digest of Hindu Law (Bombay 1867/69). Die griechischen Quellen hat Mc.
Crindle gesammelt und (in englischer Uebersetzung) herausgegeben. Der chinesische Reisebe-
richt Fa Hien's ist von Legge übersetzt. Aus der gewaltigen Masse der eigentlich religiösen Li-
teratur der Brahmana- und Purana-Periode wird das, was übersetzt ist und benutzt wird, zu
Abschnitt II. zttiert. - Ueber den Hinduismus als religiöses System existieren zusammenfassen-
de und zur Einführung brauchbare Darstellungen für die Gegenwart vor allem in den eingangs
3
I. Das hinduistische soziale System. [3]
sondere nach dem Occident , wie es scheint seit altbabylonischer Zeit, und des
Darlehenswuchers. Es hat in seinen Nordwestteilen unter einem immerhin hlba-
ren hellenischen Einfluß gestanden: Im Süden waren früh Juden ansässig. Im
Nordwesten wanderten die persischen Zarathustrier ein; eine hier ganz dem
Großhandel zugewendete Schicht. Dann kam der Einfluß des Islam und die ratio-
nalistische Aufklärung des Großmoghuls Akbar. Unter den Großmoghuls, und
auch vorher mehrere Male, war ganz oder fast ganz Indien generationenlang eine
politische Einheit. Dazwischen lagen stets wieder lange Perioden der Zersplittert-
heit in zahlreiche sich ständig bekriegende politische Herrschaften. Fürstliche
Kriegführung, Politik und Finanzwirtschaft waren rational. Sie wurden literarisch,
die Politik sogar vollendet machiavellistisch”, theoretisiert: Der Ritterkampf so-
wohl wie das disziplinierte und vom rsten equipierte Heer haben ihre Zeit ge-
habt. Die Verwendung der Artillerie hat allerdings nicht, wie gelegentlich be-
hauptet wurde, hier zuerst, aber doch frühzeitig, sich entwickelt. Staatsgläubiger-
tum, Steuerpächtertum, Staatslieferantentum, Verkehrsmonopole usw. waren
ganz nach patrimonialer occidentaler Art entstanden. Die Städteentwicklung nä-
herte sich jahrhundertelang in wichtigen Punkten, wie wir sehen werden, mittelal-
terlichen occidentalen Erscheinungen. Das heutige rationale Zahlensystem, die
technische Grundlage aller Rechenhaftigkeit”, ist indischen Ursprungs
1
). Die In-
der haben, im Gegensatz zu China, rationale Wissenschaft (darunter Mathematik
und Grammatik) gepflegt. Sie haben die Entwicklung zahlreicher philosophischer
Schulen und religiöser Sekten von fast allen überhaupt möglichen soziologischen
Typen
zitierten Zensus-Publikationen, historische in den verschiedenen Sammelquellen über verglei-
chende Religionswissenschaft und im “Indian Empire”. S. ferner: B a r t h , Les Relig. de l' In-
de, Paris 1879 und Monier W i l l i a m s , Rel. Thought and life in India p. I 1891. Andere
Werke und die benutzte Einzelliteratur werden zu Abschnitt II. zitiert. Die meisten Einzelauf-
sätze sind im Journal of the Royal Asiatic Society ( J. R. A. S.), im Journal Asiatique (J. A.)
und in der Zeitschrift der deutschen Morgenländischen Gesellschaft (Z. D. M. G.) enthalten.
Die Gazetteers” der einzelnen Presidencies waren mir leider nicht zugänglich, das Journal of
the Asiatic Soc. of Bengal nur teilweise. Ueber die indische Literatur im ganzen jetzt: Winter-
nitz, Geschichte der indischen Literatur. Leipzig 1908.
1
) Positionszahlensystem seit unbestimmt alter Zeit. Die Null seit 5./ 6. Jahrh, nach Chr. nachweis-
lich. Gerade Arithmetik und Algebra gelten als autochthon. Für negative Größen der Ausdruck
chulden(ksaya).
4
Hinduismus und Buddhismus. [4]
.
erlebt. Zum großen Teil waren sie auf dem Boden eines penetranten intellektuali-
stischen und dabei systematisch rationalen Bedürfnisses erwachsen, welches sich
der allerverschiedensten Lebensgebiete bemächtigte. Die Toleranz gegen religiö-
se und philosophische Lehrmeinungen wär in großen Zeiträumen nahezu absolut,
jedenfalls ungleich größer als irgendwo im Occident vor der allerneusten Zeit.
Das indische Recht weist zahlreiche Bildungen auf, welche r kapitalistische
Bedürfnisse ebenso brauchbare Ansatzpunkte geboten hätten, wie die entspre-
chenden Institutionen unserer mittelalterlichen Rechtsentwicklung. Die Autono-
mie der Händlerschicht in der Rechtsschöpfung war mindestens so groß wie die-
jenige unseres Mittelalters. Die indischen Handwerkerleistungen und die Spezia-
lisierung der Gewerbe waren sehr hoch entwickelt. Der Erwerbstrieb der Inder al-
ler Schichten hat wahrlich nie zu wünschen übrig gelassen und nirgends bestand
so wenig Antchrematismus und so hohe Schätzung des Reichtums. Moderner Ka-
pitalismus ist innerhalb des Indertums aber weder früher noch in den Jahrhunder-
ten englischer Herrschaft entstanden, sondern erst Importprodukt. Er ist als ferti-
ges Artefakt übernommen worden, ohne autochthone Anknüpfungspunkte vorzu-
finden. Hier soll nun untersucht werden, in welcher Art an diesein Ausbleiben der
kapitalistischen Entwicklung (im occidentalen Sinn) etwa - als ein Moment neben
sicher zahlreichen andern - die indische Religiosität beteiligt sein kann. Die na-
tionale Form dieser ist der Hinduismus. “Hindu” ist ein Ausdruck, der erst seit
der Fremdherrschaft der Mohammedaner r die nicht konvertierten Eingebornen
Indiens aufkam. Als Hinduismus” haben diese selbst ihre religiöse Zugehörigkeit
erst in der modernen Literatur zu bezeichnen angefangen. Es ist die offizielle Be-
zeichnung des englischen Zensus r den Komplex derjenigen Religiosität, für
welche in Deutschland auch das Wort Brahmanismus” üblich war. Dieser Ter-
minus drückt aus: daß eine bestimmte Art von Priestern, die Brahmanen, die Trä-
ger der gemeinten Religiosität seien. Bekannt ist, daß die Brahmanen eine Ka-
ste” waren und sind, und daß die Institution der Kasten” überhaupt, eine Art be-
sonders exklusiver, strenger Geburtsstände also, eine Rolle im indischen sozialen
Leben spielten und noch spielen. Und bekannt sind auch die Namen der vier
Hauptkasten der klassischen indischen Lehre,
5
I. Das hinduistische soziale System. [5]
wie sie z. B. Manu's Rechtsbuch darstellt: der Brahmanen, Kschatriya (Ritter),
Vaiçya (Gemeinfreie), Çudra (Knechte). Alles Nähere pflegt naturgemäß - etwa
mit Ausnahme sehr allgemeiner Vorstellungen von einer Herrschaft des Seelen-
wanderungsglaubens - nicht gewußt zu werden. Diese Vorstellungen sind nicht
falsch, sie bedürfen nur der Klärung an der Hand der überreichen Quellen und Li-
teratur. Die Tabellen des Census of India” von 1911 hren in der Spalte Reli-
gion” rund 217
1
/
2
Millionen Menschen als Hinduauf, gleich 69,39 % der Be-
völkerung. Als Nicht- Hindufinden sich, neben den importierten Konfessionen:
Muselmanen (66
2
/
3
Millionen 21,26 %), Christen, Juden und Zarathustriern und
den Animisten” (10,29 Millionen = 3,28 %) folgende Einträge in Indien selbst
heimischer Religionen: Sikh”
1
) (rund 3 Millionen = 0,86%), - Jaina (1,2
.Millionen = 0,40%) -, Buddhist” (10,7 Millionen = 3,42%, diese jedoch alle bis
auf
1
/
3
Million dem seit alters zu fast
9
/
10
buddhistischen Birma und in den Grenz-
gebieten von Tibet, also nicht auf klassisch indischem, sondern auf mongo- loi-
dem, teils hinterindischem teils zentralasiatischem, Boden).
Soweit die Aufnahmen der einzelnen Jahrzehnte vergleichbar sind - was freilich
nur mit einigen Vorbehalten zutrifft - ist der Prozentsatz der Hindusseit 1881
von 74,32 auf 69,39% gesunken, gegenüber dem Ansteigen des Islam von 19,74.
auf 21,22, des Christentums von 0,73 auf 1,24 und endlich der Animisten” von
2,59 auf 3,28%. Die letzte Zahl und damit ein Teil der Verschiebung beruht ne-
ben dem allerdings erheblichen Kinderreichtum dieser kulturlosen animistischen
Stämme sicher sehr stark auch auf Unterschieden der Zählung. Ein weiterer klei-
ner Teil der relativen Abnahme der Hindus” ist durch Erweiterung des Zensus in
Birma vorgetäuscht, welche eine starke Zunahrne der gezählten Buddhisten zur
Folge hatte. Im übrigen ist der relative Rückgang der Hindus teils durch Unter-
schiede der Geburtenziffer und der Sterblichkeit bedingt, von denen neben dem
relativ niedrigen sozialen Stand und der entsprechend niedrigen Lebenshaltung
der Masse der Hindus ein Teil religiöse Gründe hat (Kinderehe, Mädchentötung,
Witwenzölibat und dadurch bedingte geringe Kinderzahl und große
1
) Auf diese politisch sehr wichtige, anfangs pazifistische, später einen kriegerischen Orden bildende,
Mischsekte aus Islam und Hinduismus ist in unserem Zusammenhang kein Anl besonders ein-
zugehen.
6
Hinduismus und Buddhismus. [6]
Frauensterblichkeit der Oberkasten, Sehwierigkeiten der Ernährung infolge der
Speise-Tabu's bei Mißernten in den unteren Schichten). Ein anderer kleiner Teil
ist den Einzel-Konversionen zum Islam und zum Christentum, hauptsächlich aus
den Unterkasten zur Verbesserung der sozialen. Lage, zuzuschreiben. Förmliche
Uebertritte zum Hinduismus dagegen existieren offiziell nicht. Sie existieren
nicht, weil sie wenigstens nach der Theorie des Hinduismus eigentlich unmöglich
sind. Dies führt uns sofort zur Betrachtung wichtiger Eigenarten seines Wesens.
Eine Sekte”, im soziologischen Wortsinn also: ein exklusiver Verein religiöser
Virtuosen oder doch religiös spezifisch Qualifizierter, rekrutiert sich durch indivi-
duelle Aufnahme nach Feststellung der Qualifikation. Eine “Kirche”, als universa-
listische Massen-Heilsanstalt, erhebt, wie ein Staat”, den Anspruch: daß jeder,
mindestens jedes Kind eines Mitgliedes, ihr durch Geburt angehöre. Sie fordert
zwar SakramentalhandIungen und eventuell Nachweis der Bekanntschaft mit ih-
ren Heilslehren als Voraussetzung der Mitgliedsrechte, statuiert aber die Ver-
pflichtung, daß jene die aktiven Mitgliedsrechte bedingenden Sakramente oder
Handlungen vollzogen werden. Bei ganz konsequenter Durchbildung ihres Typus
und wo sie die Macht hat, zwingt sie die Widerstrebenden dazu nach dem Prin-
zip: coge intrare”. In diesem Sinn wird man normalerweise in sie hinein gebo-
renund die Einzel-Konversion und Aufnahme gilt nur r die Zeit, bis das prin-
zipielle Ziel: die Einigung aller in der universalen Kirche, erreicht sein wird. Einer
strikten Geburtsreligion endlich wie dem Hinduismus gehört man durch die bloße
Tatsache der Geburt von Hindu - Eltern an. Exklusiv” ist sie in dem Sinn: daß
man auf anderem Wege eigentlich überhaupt nicht in ihre Gemeinschaft, zum
mindesten nicht in deren als religiös vollwertig geltende Kreise, gelangen kann.
Der Hinduismus will gar nicht die Menschheit” umfassen. Wer nicht zum Hindu
geboren ist, bleibt, - sein Glaube oder seine Lebenspraxis mögen sein wie immer,
- draußen, ein Barbar, dem der Zugang zu den Heilsgütern des Hinduismus, we-
nigstens dem Prinzip nach, versperrt ist. Es gibt zwar auch open-door-castes”
1
),
aber sie sind unrein. Und im Gegensatz
1
) Wie fast alle allgemeinen Sätze über Hinduismus, ist eben auch dieser nur relativ richtig. Wenn
man von den vereinzelten modernen Auflockerungen
7
I. Das hinduistische soziale System. [7]
.
zur universalistischen kirchlichen Gnadenanstalt, welche die Exkommunikation”
für gewisse Religiorisfrevel zwar kennt,
.
der alten Exklusivität zwischen gleichgeordneten höheren Kasten absieht, die der Census Report be-
richtet, so bleibt doch bestehen; die Rekrutierung mancher der niederen Kasten schließt nicht nur ex-
kommunizierte frühere Mitglieder anderer Kasten ein, sondern ist gelegentlich auch ziemlich wahllos.
So rekrutiert sich die unreine Kaste der Bhangi in der Provinz Bombay zum Teil aus outcastes höheren
Kasten. Und die Bhangi der “United Provinces” waren ein Beispiel für das Vorkommen der Rekrutie-
rung auch durch Einzel-Eintritt (sie werden daher oft, so von Blunt im Census Report 1911, mit den
Tschandala, der niedrigsten unreinen Kaste der alten Rechtsbücher, identifiziert). Auch einige andere
Kasten gibt es, die Einzelne prinzipiell aufnehinen. Zu den Kasten, welche sich durch Zuwachs von
outcastes (und zwar im bedeutenden Umfang) rekrutieren, gehören namentlich die Baishnabs, eine
Sektenkaste, in welche ein gut Teil aller gegen die Brahmanenherrschaft sich Auflehnenden noch jetzt
einströmt. Noch nicht voll zur “Kaste” hinduisierte Stämme” und die mit Resten ihrer Stammes-
Herkunft belasteten “Stammeskasten” (darüber später) - sind oft lax bei der Aufnahme auch Einzelner.
Am laxesten die ganz tief stehenden Pariastämme der Matten- und Korb-Flechter. Je strenger hindui-
siert nach klassischem Schema aber eine Kaste ist, desto exklusiver ist sie auch und für die eigentlichen
alten Hindukasten steht außer Zweifel, daß Einzelaufnahmen, durch “Eintrittunbekannt waren und
sind. Ketkar (Hinduism, London, 1911) geht also zu weit, wenn er auf jene Sachlage den Satz aufbaut:
es sei im Hinduismus den einzelnen Kasten “überlassen”, ob sie Fremde aufnehmen wollen oder nicht,
darüber nne keine Kaste der andern Vorschriften machen. Das letztere trifft formell zu. Wenn aber
die Kaste überhaupt einigermen nach hinduistischer Art organisiert ist, so würde dem einzeln Eintre-
tenden jede Sippenbeziehung fehlen. Irgendwelche “Regeln” über Vorbedingungen und Art einer sol-
chen Einzel - Aufnahme sind bisher noch nirgends bekannt geworden. Wo sie tatsächlich möglich ist,
da ist ein Einzel-Eindringen Fremder in eine Kaste Ausdruck einer noch bestehenden Regellosigkeit,
nicht aber, einer Regel. Auch bei systematischer Hinduisierung eines Gebiets konnten wenigstens nach
der alten Theorie die hinduisierten Barbaren (Mlechcha) nur in die unterste unreine (Tschandala-) Ka-
ste gelangen. Es wird gelegentlich (Manu-bhâshya II, 23) die Frage erörtert, unter welchen Umständen
erobertes Barbarenland als Stätte von Opfern geeignet, also rituell “reinsei und dahin beantwortet:
nur dann, wenn der König die vier Kasten dort errichte, die unterworfenen Barbaren aber zu Tschan-
dala mache. Daß die andern Kasten (auch die Çudra-Kasten) nur durch Einwanderung von Hindus der
betreffenden Kasten überhaupt an einem Orte entstehen können, versteht sich ersichtlich völlig von
selbst (Vgl. Vanamali Chakravanti, Indian Antiq. 41, 1912, p. 76, welcher meint, daß die zahlreichen
Tschandala der Südostgebiete von solchen “vorschriftsmäßigen” Eroberungen herrührten.) Es m je-
denfalls der Barbar rein als solcher sozusagen “von der Pike aufdienen und kann nur im Wege der
Seelenwanderung weiter avancieren. Damit ist nicht gesagt, daß der “Barbar” ein für allemal als sozial
noch niedriger stehend gelte als die rezipierte unreine Kaste. Das kommt auf Lebenslage und Lebens-
gewohnheit an. Für die “Central Provinces” berichtet der Report von 1901, daß die außerhalb des Ka-
sten - Systems stehenden Stämme eben deshalb, weil sie nicht Unterworfene” sind, sich höherer Ach-
tung erfreuen als die niederen Kasten der unreinen Dorfarbeiter. Würden sie als Kasten rezipiert wer-
den, dann unter die reinen Kasten. Es liegt damit offenbar ähnlich, wie mit der relativen sozialen
8
Hinduismus und Buddhismus. [8]
aber nur in dem Sinn, daß der Gebannte der kirchlichen Gnadenmittel verlustig
geht, der kirchlichen Strafgewalt aber unterworfen und also der Anstalt untertan
bleibt, ist der Hinduismus in dem Sinn, nach Art einer Sekte, exklusiv”, daß er
Religionsfrevel kennt, welche den Ausgestoßenen für immer und von jeder Be-
ziehung zur Gemeinschaft ausschließen. Die Wiedaufnahme von Mitgliedern,
welche nach einer Zwangskonversion zum Islam sich zur Wiederaufnahme
meldeten, machte eine Brahmanenkaste trotz Vollzug der auferlegten Büßen und
Reinigungen wieder rückgängig, nachdem sich herausstellte, daß sie genötigt
worden waren, Rindfleisch zu essen : ähnlich etwa wie die heroistischen Sekten
des Christentums; zuletzt noch die Montanisten im Gegensatz zur Anstaltskirche,
die Teilnahme an dem von den Römern eben deshalb erzwungenen Kaiserkult in
den Zeiten der diokletianischen Verfolgung r absolut irreparabel hielten (wegen
Matth. 10, 33). Diese ausgestoßenen Brahmanen hätten immerhin in einer jener
unreinen Kasten Unterkunft finden können, welche Rindfleischesser sind (so weit
Einzelrekrutierung stattfindet). Aber ein Mensch, von dem feststände, daß er wis-
sentlich eine Kuh getötet hätte, wäre in der Hindugemeinschaft absolut unmög-
lich
1
).
Freilich gab und gibt es eine Propaganda des Hinduismus, in der Vergangenheit
im allergrößten und noch jetzt in praktisch beachtlichem Maßstab. Von einem
kleinen Bereich Nordindiens aus hat sich im Verlauf von etwa 8 Jahrhunderten-
gegenüber dem animistischenVolksglauben und im Kampf mit hochtentwickel-
ten Erlösungsreligionen das heutige hinduistische” System über mehr als 200
Millionen Menschen durch Mission verbreitet und verbreitet sich von Zensus zu
Zensus noch jetzt weiter. In einer
Schätzung von lndianern und Negern in den Vereinigten Staaten. Der letzte Grund der höheren
Schätzung der ersteren ist - wenn man der Sache auf den Grund geht - ”They did'n't submit to slave-
ry”. Deshalb besteht mit ihnen für den Gentleman Konnubium und Kommensalität mit dem Negerab-
kömmling nie. Ein Nicht-Hindu, also z. B. ein Europäer, findet in Gebieten, in welchen die Kasten-
ordnung ungebrochen besteht, lediglich Angehörige unreiner Kasten als häusliche Dienstboten, wäh-
rend umgekehrt die Hausdiener der rituell reinen Hindukasten ausnahmslos reinen Kasten angehören
(und angehören müssen), - wie noch zu erörtern sein wird.
1
) Oder genauer gesagt: die Kasten, welche im begründeten Verdacht stehen, sich an der Praxis der
Rindervergiftung zu beteiligen (Gerber - Kasten namentlich); sind der Abscheu jedes Hindu, obwohl
sie selbst offiziell korrekte Hindu sind.
9
I. Das hinduistische soziale System. [9]
Art, die meist ungefähr folgendem Typus entspricht: Die Herrenschicht eines
animistischenStammesgebiets beginnt einige spezifisch hinduistische Bräuche
nachzuahmen. Also nacheinander etwa: das Meiden des Fleisches, besonders des
Rindfleisches und vor allem die Nichtschlachtung der Kuh, die Vermeidung gei-
stiger Getränke und gewisse andere spezifische Reinheitsvorschriften guter Hin-
dukasten; sie gibt ihre etwaigen abweichenden Ehe - Gewohnheiten auf
1
), und or-
ganisiert sich dafür in exogamen Sippen unter Ablehnung jeglicher Verehelichung
ihrer Töchter mit nnern der sozial tiefer stehenden Volksschichten, von deren
Berührung und Speisegemeinschaft sie sich zurückzieht, veranlaßt ihre Witwen
zum Zölibat, gibt ihre Töchter ungefragt und vor der Pubertät in die Ehe, beginnt
ihre Toten, statt sie zu begraben, zu verbrennen und den Ahnen Totenopfer
(sraddha) zu veranstalten und tauft ihre einheimischen Gottheiten auf den Namen
hinduistischer Götter und Göttinnen um. Schließlich schafft sie ihre Stammesprie-
ster ab und bittet irgendwelche Brahmanen, die Versorgung der Riten zu über-
nehmen und dabei auch sich zu überzeugen und zu bescheinigen, daß sie - die
Herrenschicht des Stammes - von altem, nur zeitweise in Vergessenheit gerate-
nem Ritter - (Kschatriya-) Blut seien. Oder aber, unter dafür nstigen Umstän-
den, stellen ihre Stammespriester nach Annahme der Lebensweise der Brahmanen
und Aneignung einiger Veda - Kenntnis, die Behauptung auf: sie, die Priester,
selbst seien Brahmanen, von der und der Vedaschule und aus der auf den und den
Weisen (Rischi) zurückführenden altbekannten Brahmanen - Sippe (Gotra), und
es sei nur in Vergessenheit geraten, daß sie vor langen Jahrhunderten aus einer
althinduistischen Gegend eingewandert seien. Sie suchen Beziehungen mit aner-
kannten indischen Brahmanen anzuknüpfen.
Es hält nicht immer leicht, echte Brahmanen zu finden, welche sich auf solche
Zumutungen einlassen, und ein Brah-
1
) Uebrigens sind die Brahmanen auch in bezug auf Ehegebräuche oft weitgehend tolerant. Sie ha-
ben z. B. bei der Hinduisierung mancher kleinen Gebiete die bestehenden Mutterfolgen ruhig be-
stehen lassen und auch Kasten, die viel auf sich halten, haben Reste totemistischer Verfassung,
wie wir sehen werden. Ebenso steht es mit dem Alkohol und dem Essen von anderem als Rind-
fleisch. In dieser Hinsicht unterscheiden sich, wie in späteren Abschnitten zu erörtern, auch in
vornehmen Kasten oft die Sektenangehörigen - Vishnuiten und Çivaiten - stärker voneinander
als die Kasten.
10
Hinduismus und Buddhismus. [10]
mane hoher Kaste würde es weder heute tun noch früher getan haben. Indessen
unter den zahlreichen Brahmanenunterkasten fanden und finden sich solche, deren
Brahmanen - Qualität zwar anerkannt, die aber, weil sie niedere Kasten, etwa
Fleischesser oder Weintrinker, bedienen, als sozial degradiert gelten, und zu sol-
chen Diensten bereit waren und sind. Stammbaum und, was auch dazu gehört, ei-
ne möglichst in die epischen und vorepischen Zeiten zurückreichende religiöse
Ursprungssage für die Herrengeschlechter, welche den Rang als Radschputen”
(“Königsverwandte”, der heutige Ausdruck für Kschatriya”) beanspruchen, wer-
den rezipiert oder auch einfach erfunden
1
) und beurkundet. Dann werden die noch
vorhandenen Irregularitäten der Lebenspraxis beseitigt, eine notdürftige vedische
Bildung und als deren Abschldie Zeremonie der Umrtung des Epheben mit
der heiligen Schnur (Jünglingsweihe) für die Ritter und die als wiedergeborene”
Vollfreie (Vaiçya) anzuerkennenden Schichten eingeführt, die rituellen Rechte
und Pflichten der einzelnen Berufsklassen nach hinduistischer Art reglementiert.
Dies geschehen, versucht die herrschende Schicht mit den entsprechenden
Schichten althinduistischer Gebiete auf gleichem Fzu verkehren, womöglich
Konnubium und Tischgemeinschaft mit dortigen Radschputen-Sippen, Annahme
von in Wasser gekochter Nahrung durch dortige Brahmanen, Zulassung der eige-
nen Brahmanen durch die altbrahmanischen Schulen und Klöster zu erreichen.
Das ist nun äußerst schwierig und scheitert zunächst regelmäßig. Eine Ursprungs-
sage einer solchen neugebackenen Radschputeri-Schicht wird, wenn etwa ein Eu-
ropäer, den sie interessiert hat, einem echten (oder heute r echt gehaltenen),
Brahmanen oder Radschputen davon berichtet, mit verständnisvoller stiller Hei-
terkeit angehört; keinem echten Brahmanen oder Radschputen fällt es ein, die
neuen Genossen als sozial gleich zu behandeln. Indessen die Zeit geht hin, und
vor allem tun Reichtum: - gewaltige Mitgiften an Radschputen, welche die Töch-
ter heiraten, - und andere soziale Machtmittel das Ihre: Irgendwann, heutzutage
sogar oft verhältnismäßig schnell, ist die Art des Ursprungs vergessen und die so-
ziale Rezeption
1
) Massenhafte gefälschte Stammbäume von Fürsten stellte Fleet in Südindien schön für das 9. Jahr-
hundert fest. (Ep. Ind. III, S. 171)
11
I. Das hinduistische soziale System. [11]
vollzogen, wennschon ein gewisser Rest von Deklassierung im Rang dauernd auf
den Parvenus zu lasten pflegt.
Dies ist im wesentlichen der Typus, nach welchem sich die extensive Propaganda
des Hinduismus in neuen Gebieten seit den Zeiten seiner Vollentwickluxig voll-
zogen hat. Neben ihr her ging eine intensive Propaganda innerhalb seines Herr-
schaftsgebiets von prinzipiell ganz ähnlicher Art. Ueberall gab es (und mehrfach
gibt es noch heute) innerhalb der hinduistischen Gemeinwesen die soziale Er-
scheixluxlg der “Gastvölker”. Wir kennen sie in Rudimenten bei uns heut nur
noch in den Zigeunern, einem typischen altindischen (nur, im Gegensatz zu an-
dern, gerade außerhalb Indiens wandernden) Gastvolk. In viel erheblicherem Um-
fang fand sich ähnliches von jeher in Indien. Aber die Erscheinung fand und fin-
det sich dort, und übrigens nicht nur dort, - keineswegs vornehmlich in dieser
Form des absoluten, nirgendwo bodenständigen Wandervolkes. Sondern weit
häufiger in der unentwickelteren Gestalt von Stämmen, welche eigene Dorfsied-
lungen zwar noch besitzen, aber die Produkte ihres Hausfleißes oder Stammes-
gewerbes interlokal vertreiben oder sich interlokal periodisch als Ernte- oder an-
dere Gelegenheits-, Reparatur- oder Aushilfsarbeiter verdingen, oder endlich tra-
ditionell den interlokalen Handel in bestimmten Produkten monopolisieren. Die
Volkszunahme von Barbarenstämmen in den Wald- und Berggebieten einerseits,
der zunehmende Arbeitsbedarf der Kulturgebiete mit wachsendem Reichtum and-
rerseits hatte dort überall zahlreiche niedere oder als religiös unrein geltende
Dienste, welche die ortsansässige Bevölkerung zu übernehmen ablehnte, in die
Hände von solchen fremdstämmigen Arbeitern gebracht, welche namentlich in,
größeren Orten in beträchtlicher Zahl dauernd sich aufhielten, aber in ihrem
Stammesverband blieben. Endlich und am höchsten entwickelt aber findet sich
das Gastgewerbe auch in der Art, - die schon an der Schwelle des dem Lokalver-
band angehörigen Gewerbes steht : - daß bestimmte hochgelernte Gewerbe sich
durchweg in den Händen von Leuten befinden, welche zwar an Ort und Stelle an-
sässig sind, aber als Ungenossen der Dorfbewohner gelten, nicht im Dorf , son-
dern draußen, deutsch ausgedrückt: auf der Wurth”, wohnen, an keinerlei Rech-
ten der Dorfinsassen teilnehmen, vielmehr unter sich einen interlokalen Ver-
12
Hinduismus und Buddhismus. [12]
band bilden, der für sie verantwortlich ist und sie richtet, von seiten der shaften
Dorfgenossen aber nur ein Gastrecht, teils unter religiöser, teils unter rstlicher
Garantie, genien. Alle solche Erscheinungen finden sich auch außerhalb Indi-
ens. Sehr oft (wenn auch nicht immer) auch so, daß diese Gastgewerbetreiben-
den, weil von Konnubium und Tischgemeinsehaft ausgeschlossen, als rituell un-
rein” gelten. Wo solche rituellen Schranken einem Gastvolk gegenüber existieren,
wollen wir für unsre Zwecke dafür den Ausdruck P a r i a v o l k
1
) gebrau-
chen: Als Pariavolk in diesem spezifischen Sinn des Wortes soll also nicht ein-
fach jeder vom Standpunkt einer lokalen Gemeinschaft aus als fremd”, barba-
risch” oder magisch unrein geltende Arbeiterstamm gelten , sondern nur dann,
wenn er zugleich ganz oder dem Schwerpunkt nach ein G a s t volk ist. Am rein-
sten entspricht er diesem Typus natürlich dann, wenn er, wie die, Zigeuner, und in
andrer Art die Juden des Mittelalters, die e i g n e B o d e n s t ä n d i g k e i t
gänzlich eingebüßt hat, ökonomisch also völlig verflochten ist in die Bedarfsdek-
kung andrer bodenständiger Völker. Der Uebergang von der Gastarbeit eines
noch bodenständigen Stammeszu einem Pariavolk” dieses reinsten Typus ist
dabei infolge zahlreicher Uebergangsstufen natürlich ganz flüssig. Im Gebiet des
Hinduismus nun bestand und besteht gegenüber allen nicht in den hinduistischen
Verband aufgenommenen Stämmen eine absolute rituelle Schranke: Sie alle sind
magisch befleckt. Gewisse seit Jahrtausenden in jedem Dorf vertretene
unentbehrliche Gastarbeiter beispielsweise namentlich alle die, welche mit
Viehhäuten, also Leder, zu tun haben - sind trotz ihrer Unentbehrlichkeit absolut
unrein. Ihre bloße Anwesenheit verpestet, unter Umständen z. B. die Luft eines
Raums derart, daß die darin befindliche Speise magisch befleckt wird und bei
Vermeidung
1
) Der Ausdruck wäre, hinduistisch gesprochen, ganz unkorrekt. Die Pulayan-oder Parayan-
(“Pariah”-) Kaste Südindiens ist sehr weit davon entfernt, die sozialtiefste Schicht oder gar eine
Schicht von outcastes” darzustellen, wie Ab Raynal glaubte. Sie haben feste Kasten-
Privilegien; obwohl sie allerdings, als alte Weber- (jetzt auch Ackerarbeiter-) Kaste (zuerst im 11.
Jahrhundert inschriftlich erwähnt) sozial nicht hoch standen und außerhalb des Dorfbezirks woh-
nen mten. Nicht nur die Lederarbeiter- (Chamar-) und Gassenkehrer - Kasten standen tiefer,
sondern erst recht Kasten wie die Dom's (die meist den “Bodensatz” der Kasten darstellen) und
ähnliche. Wir brauchen den Ausdruck “Pariahhier in Anlehnung an den nun einmal jetzt üblichen
europäischen Sinn, ähnlich wie den Ausdruck “Kadi” in “Kadi-Justiz”.
13
I. Das hinduistische soziale System. [13]
bösen Zaubers weggescttet werden m
1
). Sie stehen also eigentlich ganz au-
ßerhalb des hinduistischen Verbandes. Kein Hindutempel ist ihnen zugänglich.
Allein die Macht der Umstände erzwang hier doch eine Menge von Uebergangs-
stufen bis zur vollen Eingliederung in die soziale Ordnung. Zunächst gab und gibt
es zahlreiche Abstufungen der Geschiedenheit. Die seit alter Zeit dauernd in je-
dem Dorf vertretenen religiös unreinen Gastarbeiter waren und sind zwar nicht
Mitglieder des Dorfverbandes. Aber deshälb waren und sind sie keineswegs
rechtlos. Nicht nur daß ihnen die Dorfgemeinde ein bestimmtes Entgelt r ihre
Dienste schuldete und daß ihnen die betreffende Erwerbsgelegenheit monopoli-
stisch reserviert wurde. Auch ihre rituellen Rechte und Pflichten waren und sind
reglementiert, und gerade in ihrer Abstufung untereinander sind sie Ausdruck ei-
ner positiv bestimmten Rechtsstellung. Und mag auch der Brahmane und andere
hohe Kasten ihre Berührung oder schon ihre boße Gegenwart, ebenfalls in be-
stimmt abgestufter Art meiden müssen, so sind es doch eben positive religiöse
Vorschriften des Hinduismus, welche über die Art dieser Beziehung entscheiden.
Vor allem: Eine Verletzung dieser Normen durch einen unreinen Gastarbeiter
zieht nicht nur von seiten der Brahmanen oder der Dorfgemeinschaft, sondern un-
ter Umständen auch von seiten der eigenen Gemeinschaft des betreffenden Gast-
arbeiters selbst Einschreiten und überdies religiöse Uebel (diesseitige magische
Nachteile und jenseitige Heilsverluste) nach sich. Mindestens r diejenigen un-
reinen Gastarbeiter und Pariavölker, bei denen solche Normen und Vorstellungen
praktisch in Kraft stehen, muß man um deswillen ihre Zugehörigkeit zur hinduisti-
schen Gemeinschaft trotz ihrer wesentlich nur negativen Privilegierung behaupten
und hat diese auch seit Jahrhunderten als unzweifelhaft gegolten: sie bilden nicht
fremde Barbarenstämme, sondern die unreinen Kasten” der hinduistischen Klas-
sifikation. Anders bei denjenigen Stämmen, deren Gaststellung zwar traditionsge-
bunden und geregelt ist, - wie dies ja selbst im ßenhandel mit ganz fremden
Fernhändlern nie völlig fehlt, - welche aber keinerlei positiven oder negativen re-
ligiösen Rang einnehmen, sondern einfach als unreine Barbaren gelten, weil sie
ihrerseits religiöse
1
) Die rituelle Infektion durch einen Mann unreiner Kaste vernichtet bei einem Brahmanen - je nach
der Kaste - eventuell die sexuelle Potenz.
14
Hinduismus und Buddhismus. [14]
Pflichten irgendwelcher Art im Sinn des Hinduismus nicht anerkennen, nicht nur
eigne Götter haben und, was wichtiger ist, nur eigne Priester in Anspruch neh-
men, - was übrigens beides auch bei Hindu-Kasten vorkommt, - sondern die Insti-
stutionen des Hinduismus einfach ganz ignorieren. Diese sind so wenig Hindus
wie Christen und Muselmanen es sind. Aber auch da gibt es die verschiedensten
Uebergangszustände, welche den Weg der Hinduisierung ebnen. Ein nicht ganz
unerheblicher Teil der Animisten” des Zensus betrachtet sich selbst als Hindus,
wie Blunt im Census Report bemerkt. Wieder andere, die der Zensus als unreine
Kasten behandelt, sind unter Umständen geneigt, jede Beziehung zum Hinduis-
mus, vor allem zu den Brahmanen, abzulehnen. Die Vertreter des Hinduismus
selbst andrerseits sind heute, im Kampf um die Bedeutung ihrer nationalen Kultur,
bestrebt, den Begriff des Hinduismus möglichst weit zu spannen und jeden, der
irgendeinen der möglichen tests” des Hinduismus, wie sie die Zensusbehörden
ermitteln, erfüllt, also auch einen Jaina oder Sikh oder Animisten” als Hindu in
Anspruch zu nehmen. Dabei kommt ihnen nun die tatsächlich bei diesen Außen-
seitern vorhandene Tendenz zur Hinduisierung entgegen. Diese verläuft bei den
inmitten des Hinduismus lebenden Gaststämmen etwa nach folgendem Typus :
Dauernd im Gasterwerbsverhältnis stehende Angehörige solcher Fremdstämme
begannen und beginnen leicht, gewisse Leistungen von Brahmanen in Anspruch
zu nehmen, deren sich auch die unreinen Kasten regelmäßig bedienen. Z. B. vor
allem : die Stellung des Horoskops r Eheschließungen und ähnliche Familienak-
te, die sie im übrigen auch weiterhin durch eigene Priester besorgen ließen.
Wandten sie sich in ihrem Erwerb den Beschäftigungen hinduistischer, sei es -
reiner oder (meist) unreiner, Kasten zu, so waren sie genötigt, sich ähnlichen
Vorschriften zu fügen, wie sie anderwärts r diese galten, um nicht auf zu schar-
fen Widerstand zu stoßen. Und je mehr sie sich dem reinen Typus des Paria-
volks” annäherten, d. h. je mehr ihre eigene Bodenständigkeit im geschlossenen
Stammesgebiet schwand oder an Bedeutung zurücktrat, desto ausschließlicher
abhängig wurde ihre soziale Lage von den Normen, welche ihre hinduistische
Umgebung dafür schuf und desto größer zugleich die Chance, daß sie sich in ih-
rem rituellen Verhalten dieser anpaßten und typische Bräuche von ihr übernah-
men, bis sie
15
I. Das hinduistische soziale System. [15]
sich schließlich in allen wesentlichen Punkten in der Lage einer (meist: unreinen)
Hindukaste befanden. Der Fortbestand des alten Stammesnamens als Kastenbe-
zeichnung, entweder - bei Pariavölkern mit altem Gewerbe- oder Handelsmono-
pol - allein, oder, wo sie als eine eigene endogame Kastenabteilung zur alten Hin-
dukaste traten, neben dem normalen Kastennamen, sind dann die letzte Reminis-
zenz der Rezeption. Die mannigfachsten Uebergangszustände der “Hinduisie-
rung, d. h. der Verwandlung eines Stammes” in eine Kaste”, finden sich. Dar-
unter auch Fälle, wo die Rezeption teils nach dem hier r die extensive, teils
nach dem r die intensive Propaganda aufgestellten Typus verläuft, oder ein
Stamm als Gastvolk in mehrere Kasten rezipiert wird, daneben aber einzelne Tei-
le auch in Form der Stammesorganisation bestehen bleiben
1
). Uns soll diese Ka-
suistik hier nicht beschäftigen, - sie ergibt jedenfalls, daß die Grenzen des Hindu-
ismus nach außen ziemlich fssige sind.
Die Propaganda vollzog und vollzieht sich also in Form einer meist sehr langsam
vor sich gehenden Aufnahme ganzer Verbände in die hinduistische Gemeinschaft
und kann, im Prinzip wenigstens, nicht anders erfolgen, weil der Einzelne nie als
Einzelner direkt Glied dieser Gemeinschaft sein kann, sondern stets nur als Glied
eines andern Verbandes: einer Kaste. Und stets geht sie so vor sich, daß nach
vollzogener Rezeption die Fiktion besteht: der betreffende Verband sei von jeher
eine Kaste gewesen, ähnlich etwa, wie ein katholisches Dogma nie neu, wie ein
modernes Gesetz, geschaffen, sondern nur, als von jeher geltend, gefunden” und
definiert” werden kann. Darin äußert sich eben die Qualität des Hinduismus als
einer Geburtsreligion.
1
) Ein Mischbeispiel sind die Ahir, ein hinduisierter ursprünglicher Schäfer- und Hirtenstamm. In der
Provinz Bombay haben noch jetzt (1911 manche Kasten eine Ahir- und eine andere Unter-Kaste
nebeneinander. So in Khandesch die Brahmanen, die Sonars, die Lohars, die Koli. Es besteht dort
und sonst noch jetzt oft kein connubium zwischen Ahir-Zimmerleuten, -Goldschmieden, -
Schmieden und den gleichen Berufskasten, die nicht Ahir sind, während andrerseits z. B. zwischen
Ahir-Zimmerleuten und Ahir-Schmieden mehrfach, obwohl sie verschiedenen Kasten angehören,
dennoch connubium besteht. Diejenigen Ahir ferner, welche Hirten geblieben sind, sind vielfach
noch jetzt totemistisch, wie ein Stamm, und nicht nach Sippen, wie eine Kaste, organisiert. And-
rerseits sind aber - in manchen Kasten die Ahir als Unterkasten ganz verschwunden oder haben
nie existiert. (Noch eine Inschrift eines Feudalfürsten aus Iodhpur - Ind. Ant. IX, 272 - erwähnt,
daß dieser den Stamm der Ahir aus einem Dorfe gejagt und dort die Kastenordnung etabliert ha-
be.)
16
Hinduismus und Buddhismus. [16]
Welche Motive nun waren und sind es, welche die Rezeption bewirken? Auf sei-
ten der Brahmanen, die dabei als Vermittler beteiligt sind, in erster Linie solche
materieller Art : die Erweiterung der Erwerbschancen an Gebühren r ihre Lei-
stungen, von den Gebühren für die Horoskopstellung angefangen bis zu den
Pfründen und Opferanteilen der Haus- und Opferpriester. Reiche Stiftungen an
Vieh, Geld, Kostbarkeiten und vor allem auch an Land und Landrenten (Pfeffer-
Renten) entlohnten insbesondere von jeher den oder die Brahmanen, welche die
nötigen Beweise” für die vornehme Abkunft der hinduisierten Herrenschichten
eines in Rezeption begriffenen Gebiets geliefert hatten. Und auf seiten der Rezi-
pierten? Die Stämme”, zu mal ihre herrschenden Schichten, welche zu “Kasten
wurden, nahmen damit, wie wir noch sehen werden, ein Sklavenjoch von rituellen
Pflichten auf sich, wie die Welt es kaum zum zweiten Male kennt und opferten
Genüsse - so den Alkohol -, welchem überall freiwillig nur sehr schwer entsagt zu
werden pflegt. Was also war der Grund ? Soweit die Herrenschicht in Betracht
kommt, wirkte hier jene Funktion einer anerkannten Religion, welche überall bei
einem Bund politisch und sozial herrschender Gewalten, mit der Priesterschaft
mgebend war. Die Eingliederung in die hinduistische Gemeinschaft l e g i -
t i m i e r t e die soziale Lage der Herrenschicht religiös. Sie gab, heißt das, den
Herrenschichten dieser Barbaren nicht nur einen in der Kulturwelt des Hinduis-
mus anerkannten sozialen Rang, sondern sicherte sie durch die Umwandlung in
Kasten” auch nach unten hin gegen die von ihr beherrschten Klassen, und zwar -
wie wir später noch näher sehen werden - in einer so wirksamen Weise, wie dies
schlechthin keine andere Religion jemals vermocht hat. Um dieser Leistung wil-
len waren es in der fernen Vergangenheit regelmäßig nicht, wie wir im vorstehen-
den, entsprechend den Verhältnissen des letzten Jahrhunderts vorausgesetzt ha-
ben, die Adelsschichten allein und oft auch nicht vornehmlich sie, welche die Re-
zeption des Hinduismus trugen; - es ist aus später zu besprechenden Gnden
nicht unwahrscheinlich, daß sie gelegentlich direkte Gegner des Brahmanentums
waren, - sondern vor allem: die Könige: Wie die Slawenfürsten des Ostens deut-
sche Geistliche, Ritter, Kaufleute und Bauern ins Land riefen, so die Könige der
östlichen Gangesebene und dindiens, bis zu den Tamils an der Südspitze hinab,
schrift-
17
M a x W e b e r , Religionssoziologie II. 2
I. Das hinduistische soziale System. [17]
und verwaltungskundige Brahmanen, um mit ihrer Hilfe ihre Herrschaft in hindui-
stischer Art patrimonialbürokratisch und ständisch fest zu organisieren und selbst
die Weihe eines legitimen Radscha und Maharadscha im Sinn der hinduistischen
Dharmaçastras, Brahmanas und Puranas zu empfangen. Die über ganz Indien zer-
streut sich findenden Urkunden über Landstiftungen, zuweilen r Dutzende,
selbst Hunderte von oft ganz offensichtlich zugewanderten Brahmanen auf ein-
mal, reden dafür eine unzweideutige Sprache. Wirkte so das Legitimitäts-
Interesse bei den Herrenschichten, so spielte bei der freiwilligen Annahme hin-
duistischer Riten durch solche Pariavölker, welche dadurch in die immerhin er-
niedrigende Lage einer unreinen Kaste” gerieten, zunächst ein ähnliches Interes-
se mit. Unreinwaren sie r ihre hinduistische Umgebung ohnehin und die In-
nehaltung der daraus vom Standpunkt des Hinduismus folgenden negativen
Schranken durch sie zwang ihnen also ihre Lage ohnedies auf. Positiv aber, r
die Sicherung ihrer Arbeitsgelegenheit, war es immerhin ein Vorteil, wenn sie als
eine legitime, sei es auch noch so negativ privilegierte Kaste” und nicht als ein
bles Fremdvolk galten. Und auch die Uebernahme gewisser, dem Hinduismus
eigentümlicher Organisationen (so z. B. des später zu besprechenden Kasten-
panchayat”), welche gerade bei den niedern Kasten eine gewerkschaftsartige, als
legitim geltende, Interessenwahrung nach außen und innen ermöglichte, konnte
für sie von praktischer Bedeutung sein. Immerhin rden sich dafür Surrogate
wohl haben schaffen lassen. Dagegen darf als ein vielleicht oft nicht unwichtiges
Moment r die Hinduisierung solcher Pariavölker, in der Vergangenheit wenig-
stens, auch die Eigenart der religiösen Hoffnungen angesehen werden, welche,
wie wir sehen werden, der Hinduismus gerade den sozial gedrückten Schichten
eröffnete. Diese zum Teil erst später zu erörternden Eigenmlichkeiten werden
es auch erklären, daß wir verhältnismäßig weit weniger von Widerständen solcher
negativ privilegierter Klassen gegen die Hinduisierung hören, als wir bei der in al-
ler Welt unerhörten Schroffheit des Abstandes, den der Hinduismus zwischen den
sozialen Schichten aufrichtete, erwarten würden. Gewiß kamen und kommen, wie
wir sehen werden, Auflehnungen gegen die hinduistische Ordnung auch aus dem
Kreise der unreinen Kasten
18
1. Hinduismus und Buddhismus. [18]
vor. Von einigen spezifisch proletarischen brahmanenfeindlichen Prophetien wird
später (Abschnitt II) zu reden sein. Und es gibt auch heut unter ihnen eine An-
zahl, welche jegliche Autorität der Brahmanen ausdrücklich ablehnen. Die offizi-
elle hinduistische Auffassung und ihr folgend die Zählung des Zensus ist in sol-
chen Fällen geneigt, die betreffende Gemeinschaft trotzdem im Zweifel als Ka-
ste”, gewissermaßen wider ihren Willen, und nicht als reines Gastvolk, zu behan-
deln, sofern sie in irgendwelchen Hinsichten sich äußerlich wie eine Kaste ver-
hält. Aber nicht daß solche Auflehnungen unzweifelhaft vorkamen, sondern daß
sie nicht weit häufiger vorkamen, daß vielmehr die großen historisch wichtigen
religiösen Revolutionen gegen die hinduistische Ordnung ganz andern, relativ be-
sonders hoch privilegierten, Schichten entstammten und im wesentlichen auch in
ihnen ihre Wurzel behielten, ist offenbar das, wofür eine Erklärung zu fordern ist
und später versucht werden soll. Hier können wir vorerst an der annäherungswei-
se zutreffenden Auffassung festhalten : daß die innere” Rezeption negativ privi-
legierter Schichten, Gast- und Pariastämme, in die hinduistische Lebensordnung
meist ein Prozeß der Anpassung sozial schwacher Schichten an die gegebene fe-
ste Kastenordnung im Sinn der Legitimierung ihrer sozialen und ökonomischen
Lage war. Die Bewegung sowohl gegen wie für die Rezeption des Hinduismus
für ganze Gebiete dagegen ist regelmäßig von Herrschern oder Herrenschichten
ausgegangen und die Rezeption hatte in deren Legitimitätsinteresse ihr unzweifel-
haft wichtigstes Motiv. Die Wirkung war eine ganz gewaltige. Es hat Jahrhunder-
te gegeben, in welchen in fast allen damaligen indischen Kulturgebieten zwei spe-
zifisch brahmanenfeindliche Erlösungsreligionen : der Jainismus und, in noch
stärkerem Maße, der Buddhismus, die wenn auch keineswegs universell herr-
schenden, so doch offiziell rezipierten Konfessionen waren. Sie sind der Restau-
ration des Hinduismus derart vollständig erlegen, daß die Jainas mit nur noch
(1911) 0,40% der Bevölkerung (1891 noch 0,49, 1901: 0,45)
1
) vertreten sind, und
zwar in stärkerem Maße fast nur in einer Anzahl Städte
1
) Ob die Abnahme wirklich nur, wie der Census Report von 1911 meint, von der stärkeren Sterb-
lichkeit der Städte herrührt, ist doch fraglich. 1881 - 91 hatte eine relative Zunahme (0,45 auf
0,49) stattgefunden. Die Jaina der Städte haben im ganzen geringere Sterblichkeit als städtische
Hindu.
19
I. Das hinduistische soziale System. [19]
des westlichen Indien, und daß von der alten nationalen buddhistischen Kirche
nur noch in Orissa eine Gemeinschaft von etwa 2000 Personen übrig ist, die sonst
in Vorderindien gezählten Buddhisten aber Immigranten sind. Eigentlich blutige
Verfolgungen dieser Heterodoxien haben in der Zeit der Wiederaufrichtung des
Hinduismus zwar nicht gefehlt, sind aber offenbar für den außerordentlich schnel-
len Sieg des Hinduismus nicht entscheidend gewesen. Sondern neben einer Reihe
andrer begünstigender vorwiegend politischer Umstände gab ganz offenbar grade
dies den Ausschlag: daß der Hinduismus jenen Legitimitätsinteressen der herr-
schenden Schichten in der besondern Art, wie sie sich aus den bald zu bespre-
chenden eigentümlichen sozialen Verhältnissen Indiens ergaben, eine
unvergleichliche religiöse Stütze zu bieten in der Lage war, welche - aus ebenfalls
später zu erörternden Gründen - jene Erlösungsreligionen nicht zur Verfügung
stellen konnten. Dem entspricht eine weitere auffallende Erscheinung.
Das Schwergewicht, welches der hinduistischen Kastenordnung innewohnt, lern-
ten wir bisher in der Ausbreitung des Hinduismus durch Rezeption von Stäm-
men” kennen. Ihre Anziehungskraft war aber da, wo sie einmal bestand, und ist
selbst jetzt noch so gr, daß sie die Tendenz hat, auch über die religiösen Gren-
zen des Hinduismus hinaus alles in ihre Formen einzubeziehen, was in soziale Be-
hrung zu ihr tritt. So ist von den ausgeprägt brahmanenfeindlichen, gegen die
Kastenordnung als solche und also direkt gegen eine der Grundlagen des Hindu-
ismus gerichteten religiösen Bewegungen die Mehrzahl in aller Form in die Ka-
stenordnung wieder eingemündet. Der Vorgang selbst findet seine einfache Erklä-
rung. Wenn eine prinzipiell kastenfeindliche Sekte bisherige Mitglieder beliebiger
hinduistischer Kasten in ihre Gemeinschaft aufnahm und aus ihrem rituellen
Pflichtenkreis herausriß, so war die Folge, daß ihre sämtlichen, die Riten ihrer
bisherigen Kaste verleugnenden, Proselyten von ihren Kasteri exkommuniziert
und kastenlos (outcastes) wurden. Die Sekte wurde damit, wenn es ihr nicht ge-
lang; die Existenz der Kastenordnung überhaupt gänzlich auszurotten, sondern
nur einen Teil ihrer Glieder loszureißen, vom Standpunkte der Kastenordnung aus
etwas einem Gast-Volk ähnliches, eine Art von konfessioneller Gast-
Gemeinschaft mit einer zunächst problematischen Stellung gegen-
20
Hinduismus und Buddhismus. [20]
über der neben ihr fortbestehenden hinduistischen sozialen Ordnung. Wie sich die
hinduistische Umgebung weiterhin zu ihr praktisch verhielt, hing von der Art der
Lebensführung ab, die sich innerhalb der neuen Gemeinschaft entwickelte. Ließ
sie eine Lebensführung zu, welche der Hinduismus als rituell befleckend ansah
(Rindfleischgenuß), so behandelte er sie wie ein Paria-Volk, und, je länger der
Zustand dauerte, wie eine unreine Kaste: wir sahen ja, daß der Unterschied flie-
ßend ist. Wenn nicht, so konnte auf die Dauer, zumal wenn die neue Sekte we-
sentlich ritualistischen Charakters war oder - wie fast regelmäßig - sich rituali-
stisch entwickelte, die rundum von dem festen Rangordnungsgefüge der Kasten
umgebene Gemeinschaft ihrerseits sich selbst als nichts wesentlich andres denn
als eine Kaste mit besondern rituellen Pflichten hlen. Sie mußte dann ein Inter-
esse daran haben, ihren sozialen Rang andern Kasten gegenüber zu sichern. Dem
stand ein Hindernis nicht entgegen, da es ja auch Hindu-Kasten gab, welche sich
der Brahmanen nicht bedienten, sondern eigene Priester hatten. Entweder wurde
dann die Sekte im Laufe der Zeit als Ganzes eine einzige anerkannte Kaste (Sek-
ten-Kaste). Oder eine Kaste mit Unterkasten von verschiedenem sozialen Rang.
Dies dann, wenn sie in sich stark sozial differenziert war. Oder endlich es vollzog
sich eine Entwicklung der Art, wie wir sie bei der Rezeption von Stämmen in die
Hindu-Ordnung kennen lernten. Die Oberschichten, Priester, Grundherren, rei-
chen Händler der Sekte suchten ihre Anerkennung als Brahmanen, Kschatriya,
Vaiçya und der übrigen plebs als einer oder mehrerer Çudra-Kasten zu erreichen,
um so der sozialen und ökonomischen Privilegien der entsprechenden oberen Ka-
sten ihrer hinduistischen Umgebung teilhaftig zu werden. In der Gegenwart macht
die alte Sekte der Lingayat diese Entwicklung durch, - ursprünglich, im Mittelal-
ter, eine Art von protestantischer” besonders schroffer und prinzipieller Reakti-
on gegen die Brahmanen und die Kastenordnung, welche aber jetzt von Zensus zu
Zensus mehr sich dieser Ordnung gt und nunmehr verlangt hat, daß ihre Ange-
hörigen nach den klassischen vier hinduistischen Kasten gegliedert registriert
werden sollten, nachdem sie schon seit geraumer Zeit in einer sehr charakteristi-
schen ständischen Entwicklung
1
) begriffen gewesen war. Die Mitglie-
1
) Etwa nach Art des heutigen Pedigree - Adels der Mayflower-Pilgerter
21
I. Das hinduistische soziale System. [21]
.
der der Jaina-Gemeinden, welche heute vielfach mit bestimmten (Händler-) Ka-
sten Konnubium haben, werden von Hinduisten gelegentlich bereits als Hindu”
angesprochen. Der Buddhismus hatte, wie wir sehen werden, die Kastenordnung
gar nicht prinzipiell angetastet; aber seine Mönche galten und gelten dem Hindu-
ismus aus später zu erörternden Gründen als spezifische Ketzer und betrachteten
sich auch selbst als Nicht-Hindus. Das hinderte nicht, daß die sich selbst überlas-
senen buddhistischen Gemeinden an der nordindischen Grenze eine eigentümliche
Kastengliederung annahmen, als die Klöster zu Pfründen säkularisiert worden wa-
ren. Aber auch der Islam ist in Indien der Hineinziehung in die Tendenz zur Ka-
stenbildung unterlegen. Diese konnte hier an die typische ständische Gliederung
des klassischen Islam anknüpfen: privilegiert waren in ihm die (wirklichen oder
angeblichen) Nachkommen des Propheten und bestimmte andere, seiner Sippe im
religiösen Rang nahestehende Familien (die Sajids und Scherifs). Ebenso, nach-
dem die wahllose Propaganda aus finanzpolitischen Gnden sistiert und die alte
Steuerfreiheit der Alt-Gläubigen den Neu-Konvertierten versagt worden war, jene
gegenüber diesen: in Indien also die vorderasiatischen und persischen Immigran-
ten gegeber den indischen Proselyten. Endlich, dem feudalen Charakter der al-
ten islamischen Gesellschaft entsprechend, die Grundherren-Sippen gegenüber
den sippenlosen Bauern und, vor allem, Handwerkern. Diese Scheidungen, mit
den entsprechenden Abwandlungen, haben die Art der Entwicklung der islami-
schen Kasten in Indien bestimmt. Daß daneben zahlreiche Hindu-Kasten islami-
schen Heiligen neben den Hindugottheiten Verehrung zollen, Mischbildungen wie
die Sikh”-Sekte entstanden und vom indischen Islam auch zahlreiche rituelle
Gewohnheiten hinduistischer Provenienz rezipiert wurden, soll uns hier weiter
nicht beschäftigen. Uns interessiert nur die Anziehungskraft der hinduistischen
Lebensordnung; welche durchweg vor allem durch ihre spezifische Leistung: Le-
gitimierung des sozialen Ranges und, nicht zu vergessen: der mit ihm eventuell
verbundenen ökonomischen Vorteile, bedingt war.
Diese zentrale Bedeutung der sozialen Lebensordnung innerhalb des Hinduismus
äußert sich nun vor allem in dem
.
in Neuengland galten vor ällem die Nachfahren der ersten Konvertiten als eine vornehme und
stark privilegierte Unterkaste gegenüber den späteren Proselyten.
22
Hinduismus und Buddhismus. [22]
gegenseitigen Verhältnis der lehrhaften und der ritualistisch - ethischen Seiten der
Religion.
Auch der Hinduismus kennt, wie China, den Dualismus von Lehre” und rituel-
ler Pflicht”: Aber in anderer Wendung. Die hinduistische Terminologie
1
) scheidet
zunächst Dharma” von Mata”. Mata heißt ein Bestandteil einer metaphysischen
Heilslehre. Zur christlichen Lehre (Kristi-mata) gehört also z. B. vor allem : daß
nur die Mensehen, aber auch alle Mensehen, eine Seele” haben, daß ein über-
weltliches Wesen die Welt und alle Seelen aus dem Nichts geschaffen hat, daß
jede Seele nur einmal auf der Erde lebt, daß sie aber dennoch “ewigist und spä-
ter entweder im Himmel oder in der Hölle ihr ewiges Dasein verbringen muß, daß
Gott mit einer Jungfrau einen gottmenschlichen Sohn gezeugt hat, dessen Taten
und Leistungen r die Menschen heilsbedeutsam sind. D die christliche Lehre
in bestimmten Punkten konfessionell gespalten ist, erregt dem Hindu keinerlei Be-
fremden. Denn das gleiche ist ihm aus den schroffen Lehr - Gegensätzen seiner
Philosophenschulen und Sekten vertraut: es gibt einige Vischnu- und Çiva-Sekten
unter den Brahmanen, welche gegenseitig den Namen des Gottes der andern nie-
mals auch nur aussprechen. Ebenso stört es den Hindu nicht, daß es einerseits
Lehrstücke gibt, deren Nichtannahme als Beweis der Nichtchristlichkeit gilt, -
denn einige solche gibt es, wie wir sehen werden, auch im Hinduismus (obwohl
manche Hindus dies geradezu leugnen), - und daß es andererseits wieder Lehren
gibt, welche innerhalb einer und derselben christlichen Kirche, auch einer Kirche
mit so straffer Lehrautorität wie die katholische es ist, umstritten sind und in de-
nen Freiheit der Meinung herrscht, - denn gerade diese Freiheit der Meinung
kennt der Hinduismus in denkbar weitestgehendem Maße. So weitgehend, daß
der Begriff eines Dogma” r ihn überhaupt fehlt. Höchst, wichtige und vor al-
lem höchst charakteristische, nach Ansicht jedes konfessionellen Christen gerade
nur seiner Konfession charakteristische, Lehrstücke könnte ein Hindu einfach ak-
zeptieren, ohne deshalb aufzuhören ein Hindu zu sein. Z. B. die ganze Christolo-
gie mit ihrem Beiwerk (welches auf die Entwicklung der vischnuitischen Krischna
1
) Vgl. z. B. Shridar V. K e t k a r , An Essay on Hinduism. London 1911. (modernistische” Hin-
du-Anschauungen und daher nicht ganz tendenzfrei).
23
I. Das hinduistische soziale System. [23]
Mythologie übrigens anerkanntermaßen tiefgebenden Einfluß gehabt hat). Ebenso
etwa die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben (denn diese Lehre exi-
stierte auch innerhalb des Hinduismus und zwar bei der Sekte der Bhagavats
schon in weit vorchristlicher Zeit). Es sind andere vom Hindu-Standpunkt aus
wichtigere Bestandteile oder richtiger: Voraussetzungen der Christenlehre, wel-
che sie r den Hindu zu einer Barbaren-Lehre (Mlechha-mata) machen, ähnlich
wie das Christentum r den Hellenen η τϖν βαρβαρων ϕιλοσοϕια war. Diese
Verschiedenheiten würden auch bedingen, daß die Christologie sowohl wie die
Rechtfertigungslehre ihren Sinn innerhalb des Hinduismus sehr stark ändern wür-
den. Und vor allen Dingen würden diese Lehren darauf zu verzichten haben, All-
gemeinltigkeit r alle Hindus zu beanspruchen. Denn im Hinduismus kann eine
Lehre als orthodoxund dennoch nicht als verbindlich” gelten, ähnlich wie et-
wa die Differenzen der Abendmahlslehren der Reformierten uud Lutheraner in ei-
ner unierten evangelischen Landeskirche. Und zwar betrifft dies nicht etwa Ne-
benpunkte, sondern gerade die r unsre Vorstellung von einer Religion” grund-
legend wichtigen Fragen. So vor allem die Art des Heilsziels (sadhya) selbst, der
Verheißung also, um deren willen allein man doch nach christlichen Begriffen ei-
ner Religion” angehört. Und erst recht die Lehre vom “Heilsweg” (“marga”),
von den Mitteln also, durch welche jenes Heilsziel r den Menschen erreichbar
ist. Sehen wir von den diesseitigen Heilsgütern des Hinduismus ab, so stellt er, als
Einheit betrachtet, nebeneinander zurn mindesten drei einander anscheinend aus-
schließende jenseitige Heilsziele (nebst Unterarten) zur Wahl. Nämlich I. Wie-
dergeburt zu neuem, endlichem und zeitlich begrenztem Leben auf der Erde in
ebenso glücklicher oder glücklicherer Lage als es die dermalige ist. Oder, - was
für den Hindu im Gegensatz zum Christen unter die gleiche Kategorie gehört: -
Wiedergeburt in einem Paradies, a) in der Welt Gottes (salokya) oder b) nahe bei
Gott (samipya), c) als selbst zum Gott geworden (sarupya), - mit dem gleichen
Vorbehalt, wie eine irdische Wiedergeburt, d. h. also auf begrenzte Zeit und so,
daß nachher wieder eine Wiedergeburt auf der Erde folgt, - a. zeitlich unbegrenz-
te Aufnahme in die selige Gegenwart eines überirdischen Gottes (Vischnu), also:
Unsterblichkeit der individuellen Seele, in einer, der Formen; a, b
24
Hinduismus und Buddhismus. [24]
oder c, - 3. Aufhören der individuellen Existenz und a) Aufgehen der Seele im All
- Einen (sayujya) oder b) Untergehen im “Nirwana”, wobei das Wesen dieses
letzteren Zustandes teils verschieden gedeutet wird, teils dunkel bleibt. Alle drei
Arten von Heilszielen sind orthodox”, wennschon das dritte (genauer: 3a) das
spezifisch brahmanische, z. B. von der vornehmsten Brahmanen - Sekte, den
Smartas, vertretene ist und namentlich die Unsterblichkeit” (Nr. 2) diesen Krei-
sen zwar nicht als antihinduistisch, aber doch als spezifisch unklassisch gilt,
etwa so wie die taoistische Heilslehre dem Konfuzianer oder die pietistische Art
der Gnadenaneignung dem klassischen Lutheraner. Zwischen dem ersten und drit-
ten Heilsziel aber hat jedenfalls auch der klassischste” Hindu die Wahl. Und die
Wege, welche zu jedem der drei Heilsziele führen, sind, je nach der Lehre, der er
anhängt, überaus verschieden: Askese, Kontemplation, rein ritualistische gute
Werke, gute Werke im Sinn der sozialen Leistung, insbesondere: Berufstugend,
gottinniger Glaube (bhakti) kommen teils kumulativ teils alternativ (je nach dem
Heilsziel), teils exklusiv in Betracht, und es fehlt in der klassischen Literatur
(Mahabharata) auch die Ansicht nicht, daß der Einzelne schlechthin diejenige Art
von Heilsgut und zwar auf dem Wege und durch den Gott erhalte, zu dem und
dessen Heilsgütern und Heilswegen er aufrichtig seine Zuflucht nehme. Also das:
dir geschehe, wie du geglaubt” in des Wortes verwegenster Bedeutung.
So angesehen, scheint es kaum eine Möglichkeit zu geben, religiöse Toleranz”
i n n e r h a l b einer und derselben Religion” noch weiter zu steigern. In
Wahrheit wird daraus wohl zu schließen sein: daß eben der Hinduismus etwas
anderes als eine Religion” in unserm Sinn des Wortes sei. Dies ist es denn auch,
was uns seine Vertreter (Ketkar u. a.) nachdrücklich versichern. Innerhalb des
hinduistischen Begriffsschatzes steht dem occidentalen Ausdruck Religion” am
nächsten der Begriff sampradaya”. Darunter versteht der Hindu Gemeinschaften,
deren Zugehörigkeit nicht durch Geburt erworben wird - die also in diesem Sinn
open-door-castessind -, sondern durch Gemeinsamkeit der religiösen Heilszie-
le und Heilswege, “Theophratrien”, wie hinduistische Gelehrte sie nennen. Solche
Theophratrien” waren in Indien vor allem der Jainismus und Buddhismus, eben-
so einige der revivals der vischnuitischen
25
I. Das hinduistische soziale System. [25]
Heilandsreligiosität und z. B. die früher erwähnte givaitische Sekte der Lingayats,
welche eberr eleshalb sämtlich als durchaus ketzerisch galten und, soweit sie ain
diesen Grundlagen festgehalten haben, noch gelten. Und zwar obwohl z. B. der
Buddhismus die Existenz und Macht der hinduistischen Götter nicht anficht, die
theophratrischen vischnuitischen Sekten aber und die Lingayats je einen der gro-
ßen Götter der hinduistischen Trias (Brahma - Vischnu - Çiva) verehren. Und
obwohl die ihnen eignen Heilsgüter und Heilswege sich von solchen, die auch der
orthodoxe Hinduismus kennt, wenigstens von unserm Standpunkt, meist aber
auch vom Hindustandpunkt aus, keineswegs grundsätzlich unterscheiden, minde-
stens entfernt nicht so sehr, als die verschiedenen als orthodox zugelassenen
Heilswege es untereinander tun. Alle diese “Theophratriennehmen im Gegen-
satz zum Hinduismus den Einzelnen als Einzelnen in ihre Gemeinschaft auf. Aber
dies ist noch nicht der entscheidende Grund. Denn Zugehörigkeit zu einer Sek-
te” an sich schließt nicht nur nicht vom Hinduismus aus, sondern ist gerade um-
gekehrt seit dem Entstehen der spezifisch hinduistischen Religiosität, wie sie die
späteren Teile der Epen und die Puranas darstellen, eine völlig normale Erschei-
nung. Ein eigentlich frommer Hindu ist nicht bloß Hindu, sondern Mitglied einer
Hindu-Sekte. Und zwar auch in der Art, daß z. B. der Vater Çivait, der Sohn
Vischnuit ist
1
). Was praktisch bedeutet: daß der eine von einem zu einer çivaiti-
schen, der andre von einem zu einer vischnuitischen Sekte gehörigen Directeur de
1'âme (“Guru) unterwiesen, nach vollendetem Unterricht durch Mitteilung der
mantra” (paroleartigen Gebetsformel) der Sekte in diese aufgenommen ist, die
Merkmale der Sekte (Stirnbemalung usw.) trägt, ihre Tempel besucht, ausschließ-
lich zu - je nachdem - Vischnu oder Çiva, direkt oder in Gestalt einer seiner In-
karnationen, betet (die betreffenden beiden andern Gestalten der Trias gelten ihm
als bloße Erscheinungsformen seines Gottes) und neben den Riten seiner Kaste
den Spezialriten der Sekte folgt. Das ist ein durchaus orthodox hinduistisches
Verhalten. Die Ketzerei der Theophratrien besteht vielmehr darin, daß
1
) Dies findet sich schon in den alten inschriftlichen Quellen. So erneuert (706 nach Chr.) ein
Maharadscha eine Stiftung seiner Vorfahren und es wird erwähnt, daß einer von diesen
ein Anhänger Vischnus, ein anderer Çivas, Enkel und Urenkel aber Verehrer der Bhaga-
vati (= Durga oder Lakschmi) waren.
26
Hinduismus und Buddhismus. [26]
sie den Einzelnen - im Gegensatz zu den orthodoxen Sekten - seinen eignen ritu-
ellen Pflichten, den Kastenpflichten also, in die er hineingeboren ist, entreißen,
sein Dharrna” also ignorieren oder zerstören. Damit verliert er, wenn es sich um
wichtige Pflichten handelt, die Kaste, und Kastenverlust bedeutet, da man nur
durch die Kaste zur hinduistischen Gemeinschaft gehört, Verlust dieser. Das
Dharma, die Ritualpflicht also, ist das Entscheidende: der Hinduismus ist primär
Ritualismus, was seine modernen Vertreter so ausdrücken, daß mata (Doktrin)
und marga (Heilsziel) wandelbar und vergänglich”, - gemeint ist: wahlfrei”, -
seien, das Dharma aber ewig”, - gemeint ist: unbedingt ltig”, - bestehe. Bei
jeder fremden Religion fragt daher der Hindu zunächst nicht nach der “Lehre”
(mata), sondern nach dem Dharma. Das Kristi - Dharma” eines Protestanten be-
steht r ihn positiv etwa in der Taufe, der Kommunion, dem Kirchgang und der
Arbeitsruhe Sonntags und an den andern christlichen Festen, dem Tischgebet.
Diese Dinge würden sich alle mit Zugehörigkeit zum Hinduismus guter Kasten,
vertragen; m i t A u s n a h m e der Kommunion, welche, unter beiderlei Ge-
stalt gegeben, direkten Alkoholzwang, immer aber Zwang zur Speisegemein-
schaft mit Nicht - Kastengenossen bedeutet. Aber schon die negativen Bestandtei-
le des Kristi - Dharma”, z. B. daß es dem Christen gestattet, Fleisch, insbeson-
dere Rindfleisch zu essen und Schnaps zu trinken, stempeln es zum Dharma un-
reiner Barbaren (Mlechha-Dharma). Was ist nun der Inhalt des Dharmaeines
Hinduisten? Darauf erhalten wir die Antwort: daß das Dharma je nach der sozia-
len Lage verschieden und auch insofern nicht absolut abgeschlossen sei, als es der
Entwicklung” unterliege. Gemeint ist zunächst: das Dharma richtet sich nach der
Kaste, in welche der Einzelne hineingeboren ist; entstehen durch Spaltung alter
neue Kasten, so spezialisiert sich das Dharma. Gemeint ist weiter auch: daß das
Dharma durch fortschreitende Erkenntnis weiterentwickelt werden könne: Dies
würden konservative Hindukreise nun freilich ohne Einschränkung nur r die
ferne Vergangenheit: r jenes Zeitalter prophetischer Geistesgaben anerkennen,
welche jede priesterlich reglementierte Religion, auch das Judentum, das Chri-
stentum und der Islam, als in der Gegenwart (in Indien: dem Kali - Zeitalter) nicht
mehr vorhanden ansehen muß, um sich gegen Neuerungen zu sichern. Aber je-
denfalls kann das
27
I. Das hinduistische soziale System. [27]
Dharma in dem Sinn entwickelt” werden, wie die göttlichen Gebote einer kon-
fessionellen Religion: durch Findungbisher unbekannter, aber von jeher gel-
tender, Konsequenzen und Wahrheiten. Vor allem im Wege der Judikatur und
bindender Responsen der zuständigen Instanzen, also z. B. für die Brahmanen der
Çastris und Pandits (in Brahmanenschulen regulär ausgebildeter Kenner der heili-
gen Rechte), der brahmanischen Hochschulen, endlich des heiligen Stuhles von
Schringeri (für den Süden) oder des Schri Sankaratscharya von Sankeschwar (für
den Norden und Nordwesten), brahmanischer Klostersuperioren, deren Stellung
etwa derjenigen der irischen Klöster in der Zeit der klostermäßigen Organisation
der alten irischen Kirche verglichen werden kann. Für andre Kasten: die Judikatur
ihrer Kasten - Organe, welche auch nach Bedarf - früher weit mehr a1s heute -
des Wahrspruches der Brahmanen bedienten. Das Dharma ruht also in erster Li-
nie auf heiliger Tradition: Spruchpraxis und literarisch rational entwickelter Lehre
der Brahmanen. Genau wie im Islam, im Judentum und in der alten christlichen
Kirche fehlt die unfehlbare” Lehrautorität irgendeines bestirnmten priesterlichen
Amtes, schon weil die Brahmanen keine Hierarchie von Beamten darstellen. Das
praktisch geltende Dharma der einzelnen Kasten stammt seinem Inhalt nach fak-
tisch zu einem sehr großen Teil aus der fernen Vergangenheit tabuistischer und
magischer Normen der Zauberer - Praxis. Seine Geltung als hinduistisches Dhar-
ma aber ist zu einem weit größeren und praktisch nach weit wichtigeren Teil, als
etwa die heutigen rituellen Gebote der katholischen Kirche, ausschließliches Pro-
dukt der Priester und der von ihnen geschaffenen Literatur. Diese hat tiefgreifen-
de Wandlungen geschaffen.
Offiziell zwar hat der Hinduismus in gleicher Art wie die Buchreligionen ein ab-
solut heiliges Buch: die Veden
1
). Zu den wenigen wenigstens im wesentlichen
verbindlichen “Glaubens” - Pflichten eines Hindu gehört offiziell: daß er deren
Autorität zum mindesten nicht direkt bestreitet. Eine Sekte, die dies tut, - wie die
Jainas und Buddhisten, - ist nach der unbezweifelbar
1
) Hier sollen darunter nur die Samhita, die Sammlungen der Hymnen, Gebete, Formeln ver-
standen sein. Im weiteren Sinn wurden zum Veda alle heiligen” Bücher, d. h. auch die
Brahmanas und Upanischaden eines jeden Veda und schließlich anch die Sutra's, gerech-
net.
28
Hinduismus und Buddhismus. [28]
überkommenen Auffassung eben deshalb keine Hindu - Sekte. Auch das ist heute
nicht durchaus allgemeinltig, aber doch das schlechthin Normale. Aber was be-
deutet jene Anerkennung der Veden - dieser Sammlungen von Liedern und Hym-
nen, rituellen und magischen Formeln sehr verschiedenen Alters - praktisch ? Die
Veden blieben, auch nachdem sie aus der ursprünglich rein mündlichen Ueberlie-
ferung der einzelnen, nach ihren Hauptbestandteilen (die der alten Arbeitsteilung
der vedischen Priester beim Opfer entsprangen) sich scheidenden Brahmanen -
Schulen in die Schriftform überführt worden waren, der Lektüre der Nichtbrah-
manen nach der alten korrekten Praxis ganz ebenso wie die Bibel in der katholi-
schen Kirche entzogen und durften von den Brahmanen an Laien nur der höchsten
Kasten, und auch diesen nur in bestimmten Partien, gelehrt werden. Dies war
nicht nur durch die Monopolisierung der magischen Formeln als Geheimkunst be-
dingt, welche alle Priester ursprünglich gleichmäßig geübt haben. Sondern es hat-
te, und zwar gerade nachdem die gefestigte Stellung der Brahmanen diese Rück-
sicht fortfallen ließ, auch sachlich hier noch zwingendere Gründe als bei der Vul-
gata. Wenn das Neue Testament Stellen ethischen Gehalts enthielt, welche zu-
nächst durch priesterliche Interpretation relativiert und dabei zum Teil in ihr gera-
des Gegenteil uminterpretiert werden mußten, um für eine Massenkirche über-
haupt und für deren priesterliche Organisation insbesondre anwendbar zu werden,
so fiel dieser Gesichtspunkt beim Veda fort. Denn er enthält von eigentlicher
Ethik” im rationalen Sinn des Wortes überhaupt nichts und seine ethische Welt
ist einfach die aller Heldenzeitalter, gespiegelt in der Auffassung von Sängern,
welche von den Gaben der Könige und Helden abhängig sind und diesen ihre ei-
gene Macht und die der Götter, welche sie magisch zu beeinflussen vermögen,
ans Herz zu legen nicht verabsäumen. Daß die Hymnen und vor allem die Gebets-
formeln früh als magisch erprobt galten und deshalb hieratisch stereotypiert wa-
ren, bewahrte sie vor jener Art von Purifikation, welche die gleichartige altchine-
sische Literatur durch Konfuzius (und vielleicht andre), die dische historische
und kosmogonische Literatur durch die Priesterschaft erfahren haben. Die Folge
aber ist, daß der Veda von den für den Hinduismus grundlegenden göttlichen und
menschlichen Dingen nahezu gar nichts enthält. Die drei großen Götter
29
I. Das hinduistische soziale System. [29]
des Hinduismus kennt er teils nicht einmal der Existenz, teils nicht dem heutigen
Namen, keinen aber dem ihm später spezifischen Charakter nach. Seine Götter
sind Funktions- und Heldengötter von einem dem homerischen äußerlich ähnli-
chen Typus, ganz wie die Helden der vedischen Zeit burgsässige, wagenkämp-
fende Kriegskönige mit Gefolgschaften homerischer Art und mit hier wie dort
stark vorwiegend viehzüchtenden Bauern neben sich sind. Die großen vedischen
Götter, gerade auch die beiden größten und in ihrem Gegensatz charakteristisch-
sten: Indra, der Gewittergott und als solcher (wie Jahwe) leidenschaftlich han-
delnder Kriegs- und Heldengott, daher Gott des irrationalen Heldenschicksals,
und Varuna, der weise, alles sehende Funktionsgott der ewigen Ordnung, vor al-
lem der Rechtsordnung, sind im Hinduismus praktisch so gut wie von der Bildflä-
che verschwunden, haben keinen Kult und leben wesentlich von der Gnade ve-
disch gebildeter Gelehrter ein historisches Leben. Indessen das wäre, bei der La-
bilit zahlreicher Hindu - Gottheiten und bei der von Max Müller als “He-
notheismusbezeichneten Gepflogenheit schon der alten Sänger, den jeweils an-
gerufenen Gott, um ihn zu gewinnen, als den mächtigsten oder auch als den einzi-
gen Gott zu bezeichnen, noch das wenigste. Aber der Veda schlägt dem Dharma
des Hinduismus geradezu ins Gesicht. Wenn die offizielle Anerkennung der Ve-
den dem Christen als eine Art Formalprinzip” des Hinduismus nach Art der pro-
testantischen Anerkennung der Bibel erscheinen könnte, - immer mit dem zu ma-
chenden Vorbehalt, daß sie nicht schlechthin unentbehrlich ist, -so gehört, - mit
ebenfalls einigen Vorbehalten, - zu dessen rituellen “Materialprinzipien”, zum
universellen hinduistischen Dharma also, wenn irgend etwas, dann die Heiligkeit
der Kuh und also das absolute Verbot der Kuhschlachtung. Wer sich daran aus-
drücklich nicht bindet, ist kein Hindu
1
). Wer überhaupt Rindfleisch ißt, ist entwe-
der
1
) Die Verehrung der Kuh (und, abgeschwächt, der Rinder überhaupt) ging sowohl in ihren
ökonomischen wie rituellen Folgen bis ins Extreme. Noch heut scheitert die rationelle
Viehzucht daran, daß die Tiere grundsätzlich nur eines natürlichen Todes sterben dürfen,
also noch gefüttert werden, nachdem sie längst keinen Nutzwert mehr haben. (Abhilfe
schafft das rituell illegale Vergiften durch verworfene Kasten.) - Kuhdung und Kuhurin
reinigt alles. Ein korrekter Hindu, der mit einem Europäer gespeist hat, wird noch heute
sich (und eventuell seine Wohnung) mit Kuhdung rituell desinfizieren. Kein korrekter
Hindu wird an einer urinierenden Kuh vorbeigehen, ohne seine Hand in den Strahl zu hal-
ten und sich, wie der Katholik mit Weihwasser, an
30
Hinduismus und Buddhismus. [30]
.
Barbar” oder Mitglied keiner hohen Kaste. Woher dies im Hinduismus stammt,
soll uns hier nicht beschäftigen. Jedenfalls kennt es der Veda nicht nur nicht, son-
dern die Unbedenklichkeit des Rindfleischgenusses, versteht sich für ihn von
selbst und von Verpönung der Schlachtung der Kuh weer nichts: Die Moder-
nisten” des Hinduismus erklären dies dadurch, daß das jetzige (Kali-) Zeitalter
derart verderbt sei, daß ihm die Freiheit der alten goldenen Zeit in dieser Hinsicht
nicht habe belassen werden können. Blicken wir von den rituellen Vorschriften
hinweg auf das innere sinnhafte Gefüge des Hinduismus, so fehlen so grundle-
gend wichtige Vorstellungen wie die Seelenwanderung und die auf ihr ruhende
später zu besprechende Karman - (Vergeltungs-) Lehre im Veda völlig oder sind
nur mit erheblicher Gewaltsamkeit in einige vieldeutige Stellen unbekannten Al-
ters hineinzuinterpretieren. . Die vedische Religion kennt nur einen Hades: das
Reich des Yama, und einen Götterhimmel, im wesentlichen wie die homerische
und germanische Heldenzeit: das Reich der Väter”. Aber weder den sehr beson-
dersartigen Himmel des Brahma oder die teils dem Christenhimmel, teils dem
Olymp ähnlichen Himmel des Vischnu oder Çiva, noch endlich das Rad” der
Wiedergeburten, vom Nirwana ganz zu geschweigen. Sie bejaht das Leben und
seine Güter nicht nur in dem Sinne wie es die Massen - Religiosität des Hinduis-
mus im Gegensatz zur Virtuosenreligiosität auch später tat, sondern war ganz
ebenso diesseitig orientiert wie es ähnliche, aus halb charismatischen, halb feuda-
len Kriegs- und Beute-Gemeinschaften herausgewachsene Religionen überall tun.
Aus dem Veda also, so viel steht schon jetzt fest, erhalten wir vielleicht über die
Vorgeschichte, nicht aber über den Gehalt des Hinduismus, auch nicht der älte-
sten historisch überhaupt zugänglichen Formen wirklich hinduistischer Religiosi-
tät, Aufschluß. Er ist nur ungefähr im gleichen Sinn ein heiliges Buch des Hindu-
ismus wie das Deuteronomium ein solches des Christentums. Anerkennung der
Autorität des Veda, wie sie vom Hindu gefordert wird, heißt fides implicita” in
einem noch weit fundamentaleren Sinn als in der katholischen Kirche : - schon
weil von keinem Heiland” berichtet ist, der kraft Offenbarung die neuen Gesetze
an die Stelle der alten gesetzt
.
Stim, Kleidern usw. damit zu befeuchten. Bei Mißernte wird auf das Heroischste vor al-
lem Futter für die Kuh herausgespart.
31
I. Das hinduistische soziale System. [31]
habe: Praktisch aber heißt sie einfach: Anerkennung der Autorität der hinduisti-
schen an den Veda anknüpfenden und sein Weltbild fortinterpretierenden Traditi-
on und der sozialen Rangstellung ihrer Träger, und das sind: die B r a h m a -
n e n . Im Veda sind auch von ihnen, und vollends von ihrer Stellung im klassi-
schen Hinduismus, nur die ersten Vorstufen der Entwicklung vorhanden, die spä-
ter eintrat.
Die Stellung der Brahmanen im klassischen Hinduismus und heute läßt sich aber
nur im Zusammenhang mit jener schon öfter berührten Institution besprechen, oh-
ne welche der Hinduismus, wie alles bisher Gesagte zeigt, gänzlich unverständ-
lich bleibt : der K a s t e . Auch sie kennt - und das ist wohl die schwerwiegend-
ste cke - der alte Veda n i c h t . Das heißt : er kennt die späteren vier Kasten-
namen an einer einzigen als ganz spät geltenden Stelle, den sachlichen Gehalt der
Kastenordnung aber nirgends in dem Sinn, den sie später annahm und welcher
erst der dem Hinduismus als solchem charakteristische ist
1
). Die Kaste, das heißt
also: die rituellen Pflichten und Rechte, welche sie auferlegt und gibt, und die
Stellung der Brahmanen sind die Grundinstitutionen des Hinduismus. Und zwar
vor allem: die Kaste. Ohne Kaste gibt es keinen Hindu, während die Stellung zur
Autorität des Brahmanen eine höchst verschiedenartige sein kann, von unbeding-
ter Unterwerfung, als der Norm, bis zur Bestreitung ihrer Autorität, wie sie sich
bei einigen Kasten findet. Aber diese Bestreitung bedeutet praktisch lediglich:
daß die Brahmanen als Priester verschmäht und daß ihre Gutachten in rituellen
Zweifelsfragen nicht als mgebend anerkannt, sie niemals um Rat angegangen
werden. Das scheint auf den ersten Blick freilich im Widerspruch damit zu ste-
hen, daß Kasten” und Brahmanen” im Hinduismus zusammengehören. Ja noch
weiter: Wenn jedem Hindu die Kaste absolut wesentlich ist, so ist wenigstens
heute nicht umgekehrt auch jede Kaste eine Hindu-Kaste. Es gibt, sahen wir, un-
ter den Mohammedanern Indiens ebenfalls Kasten, übernommen von den Hindus.
Es gibt sie auch unter den Buddhisten. Es haben sich selbst die indischen Christen
ihrer praktischen Anerkennung nicht ganz entziehen können. Aber nicht nur fehlte
1
) Die “Magna Charta des Kastensystems” wird von den Fachgelehrten im Purusha Sukta
des Rigveda, dem spätesten Produkt der vedischen Periode, gefunden. Ueber den Athar-
va-Veda später.
32
Hinduismus und Buddhismus. [32]
diesen Nicht - Hindu - Kasten, wie wir späterhin sehen werden, der ungeheure
Akzent, welchen die spezifisch hinduistische Heilslehre auf die Kaste legte. Son-
dern noch ein Weiteres fehlte ihnen: die höchst charakteristische Bestimmung des
sozialen Ranges der Kasten durch die Distanz von anderen hinduistischen Kasten,
und damit in letzter Instanz: vom Brahmanen. Denn dies ist das r den Zusam-
menhang von Hindu - Kasten und Brahmanen entscheidende: eine Hindu - Kaste
mag die Brahmanen als Priester, als Lehr- und Ritual - Autorität und in jeder an-
dern Hinsicht noch so sehr ablehnen, - unentrinnbar bleibt für sie die objektive Si-
tuation: daß ihre Rangstufe durch die Art der positiven oder negativen Beziehung
zum Brahmanen in letzter Instanz bestimmt wird. “Kaste” ist nun aber einmal
sehr wesentlich sozialer Rang, und darauf, daß sie vom Brahmanen her bestimm-
ter sozialer Rang ist, beruht mehr als auf irgendwelchen andern Dingen die zen-
trale Stellung der Brahmanen im Hinduismus: Wir wenden uns, um das zu verste-
hen, dem Gegenwartszustand der Hindu - Kasten, wie ihn die teilweise ganz vor-
züglichen wissenschaftlichen Arbeiten in den Zensus - Berichten wiedergeben; zu
und verbinden damit eine kurze Betrachtung der klassischen Kasten -Theorie der
alten Rechtsbücher und sonstigen Quellen.
Die hinduistische Kastenordnung ist heut in tiefgehender Erschütterung begrif-
fen. Im Bezirk von Calcutta namentlich, dem alten Haupteinfallstor Europas, sind
zahlreiche Normen praktisch außer Kraft getreten. Die Eisenbahnen, Wirtshäuser,
Berufsumschichtungen und Arbeitsvereinigungen durch importierte Industrie,
Hochschulen usw., haben alle ihr Teil daran. Während die Londongänger”, d. h.
die in Europa Studierten und die mit Europäern frei Verkehrenden noch vor einer
Generation outcastes wurden, schwindet dies mehr und mehr. Kasten - Kupees
auf der Bahn, nach Art der amerikanischen gesonderten Waggons und Wartesäle
für White” und Black” in den dstaaten, haben sich nicht durchhren lassen.
Alle Kastenrangverhältnisse sind ins Schwanken geraten und die von den Englän-
dern gezüchtete Intellektuellenschicht, hier wie anderwärts Trägerin des spezifi-
schen Nationalismus, wird diesen langsamen unaufhaltsamen Prozeß noch ver-
stärken. Indessen vorerst steht das Gebäude noch recht fest.
Zunächst nun : welches sind die Begriffsmerkmale einer
33
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
Das hinduistische soziale System. [33]
Kaste”
1
) ? Fragen wir ersteinmal negativ: was ist sie n i c h t ? oder: welche
Merkmale anderer, ihr wirklich oder scheinbar verwandter Verbände fehlen ihr ?
Was scheidet, um damit zu beginnen, eine Kaste von einem Stamm ? Ein Stamm
hat normalerweise, das soll heißen: Solange er nicht gänzlch zum Gast- oder zum
Paria -Volk geworden ist, ein festes Stammesgebiet. Das hat eine eigentliche Ka-
ste schlechthin niemals. Die Kastengenossen wohnen zwar auf dem Lande zu ei-
nem sehr bedeutenden Bruchteil dorfweise gesondert. Wenigstens pflegt - oder
pflegte - in jedem Dorf eine Kaste diejenige zu sein, welcher allein das volle Bo-
denrecht zustand. Aber sie hat dann abhängige Dorfhandwerker und Arbeiter bei
sich. Jedenfalls bildet die Kaste keine lokale Gebietskörperschaft: dies widerstrei-
tet ihrem Wesen. Ein Stamm ist, wenigstens ursprünglich, durch Blutrachepflicht,
direkt, oder indirekt durch Vermittlung der Sippe, verbunden. Damit hat eine Ka-
ste niemals etwas zu schaffen. Ein Stamm umft ursprünglich normalerweise
viele, oft annähernd alle r die Bedarfsdeckung nötigen und zugleich möglichen
Beschäftigungen. Eine Kaste kann, heute wenigstens (und für gewisse Oberkasten
schon seit sehr alter Zeit) Leute mit sehr verschiedener Beschäftigung umfassen.
Immer aber ist, solange die Kaste ihren Charakter als solche nicht eingebüßt hat,
die Art der ohne Kastenverlust zulässigen Beschäftigungen irgendwie ganz fest
begrenzt. Sehr oft aber ist “Kaste” und Beschäftigungsart” auch heute derart fest
verbunden, daß eine Aenderung dieser mit Spaltung der Kaste verbunden ist.
Derartiges gibt es r einen Stamm nicht. Ein Stamm umft normalerweise
Leute jeden sozialen Ranges. Eine Kaste kann zwar in Unterkasten mit außeror-
dentlich verschiedenem sozialen Rang zerfallen und tut dies heute der fast aus-
nahmslosen Regel nach: oft in mehrere Hundert. Dann können sich diese Unter-
kasten zueinander genau oder fast genau so verhalten wie verschiedene Kasten
zueinander. Ist dem so, dann sind sie in Wirklichkeit Kasten; der allen gemeinsa-
me Kastenname hat dann nur - oder doch fast nur - historische Bedeutung und
dient den degradierten von ihnen als Stütze sozialer Prätension dritten Kasten ge-
genüber. Kaste ist also ihrem Wesen nach mit sozialem Rang innerhalb einer
1
) Der Ausdruck ist portugiesischen Ursprungs. Der alte indische Name war “varna”, Far-
be”.
34
Hinduismus und Buddhismus. [34]
weiteren Gemeinschaft untrennbar verknüpft. Ein Stamm - das ist entscheidend -
ist normalerweise und ursprünglich ein politischer Verband. Entweder, und pri-
mär stets, ein selbständiger. Oder ein Teil eines Stammesbundes. Oder eine Phy-
le”, d. h. ein durch einen politischen Verband zu politischen Zwecken reglemen-
tierter Teil desselben mit bestimmten politischen Aufgaben und Rechten: Stimm-
rechten, Quoten - Anteil an den politischen Aemtern, Turnus- oder Quoten -
Pflichten politischer und staatswirtschaftlicher, leiturgischer Art. Eine Kaste ist
nie ein politischer Verband, mögen ihr im Einzelfall - wie dies ja auch bei Gilden,
nften, Sippen und Verbänden ganz beliebiger Art der Fall sein kann - vom poli-
tischen Verband Leiturgiepflichten aufgebürdet gewesen sein, wie vielleicht
mehrfach im indischen Mittelalter (Bengalen). Sie ist stets und ihrem Wesen nach
ein rein sozialer, eventuell ein beruflicher, Teilverband innerhalb einer sozialen
Gemeinschaft. Aber nicht notwendig, und auch ganz und gar nicht regelmäßig,
Teilverband nur eines einzelnen politischen Verbandes, über dessen Grenzen sie
vielmehr sowohl weit hinausgreifen wie hinter ihnen weit zurückbleiben kann. Es
gibt Kasten, die über ganz Indien verbreitet sind
1
) und andrerseits sind heute alle
Unter - Kasten, aber auch die meisten kleinen Kasten nur je in einem kleinen Be-
zirk vorhanden. Politische Geschiedenheit hat die Kastengliederung der Einzelge-
biete oft stark beeinflußt, aber gerade die wichtigsten Kaste blieben interstaatlich.
In dem materiellen Inhalt der sozialen Normen pflegt ein Stamm sich von einer
Kaste dadurch zu unterscheiden, daß bei ersterem neben
1
) Von den heutigen Hindukasten (Haupt - Kasten) kann man von etwa 25 sagen, daß sie in
den meisten Gegenden Indiens verbreitet sind. Diese umfassen etwa 88 Millionen Hindus
(von insgesamt 217 Millionen). Unter ihnen befinden sich, neben den alten Priester-,
Krieger- und Händlerkasten: den Brahmanen (14,60 Millionen), Radschputen (9,43 Mil-
lionen), Baniya (je nach Einschl oder Ausschl auch der abgespaltenen Unterkasten
etwa 3 oder nur 1,12 Millionen) und der alten Beamten - (Schreiber-) Kaste der Kayasths
(2,17 Millionen), sowohl alte Stammeskasten, wie die Ahirs (9,50 Millionen) und Jats
(6,98 Millionen), wie die großen unreinen Berufskasten der Chamar (Lederarbeiter,
11,50 Millionen), die Çudra - Kaste der Teli: Oelpresser (4,21 Millionen), die vornehme
gewerbliche Kaste der Goldschmiede (Sonar 1,26 Millionen), die alten Dorfhandwerker-
kasten der Kumhar (pfer 3,42 Millionen) und Lohar (Schmiede, 2,07 Millionen), die
niedere Bauernkaste der Koli (Kuli, von Kul, Clan, also etwa: “Gevatter”, 3,17 Millio-
nen) und andere Einzelkasten verschiedenen Ursprungs. Die große Verschiedenheit der
Kastennamen und auch manche Unterschiede des sozialen Ranges von offenbar der Her-
kunft nach gleichen Kasten in den einzelnen Provinzen machen direkte Vergleiche äu-
ßerst schwierig.
35
I. Das hinduistische soziale System. [35]
der Exogamie der Sippen, die Exogamie des Totems oder der Dörfer stand und
eine Endogamie nur unter Umständen für den Stamm als Ganzes, aber keines-
wegs immer, vorkam. Während die Kaste stets Endogamieregeln zur wesentli-
chen Grundlage hat. Irgendwelche Speise- und Kommensalitätsregeln sind dem
Stamm keineswegs, stets aber der Kaste eigen.
Wir sahen schon, daß, wenn ein Stamm seine Bodenständigkeit verliert und Gast-
oder Pariavolk wird, er sich der Kaste bis zur tatsächlichen Ununterscheidbarkeit
annähern kann
1
). Welche Unterschiede bestehen bleiben, wird bei Feststellung
der positiven Merkmale der Kasten zu erörtern sein. Zunächst entsteht aber die
Frage: da die Kaste einerseits, im Gegensatz zum Stamm”, enge Beziehungen
zur Beschäftigungsart zu haben pflegt, andrerseits aber zum sozialen Rang, wie
verhält sie sich zu Verbänden, welche ihr konstituierendes Prinzip gerade von
eben daher empfangen, also einerseits zum Berufsverband (Gilde, Zunft), andrer-
seits zum Stand”? Zuerst also: zu den ersteren Gilden” von Händlern und als
Händler, d. h. mit eignem Verkauf, auftretenden Gewerben und “Zünfte” von
Handwerkern hat es in Indien in der Zeit der Städteentwicklung, namentlich im
Zeitalter der Entstehung der großen Erlösungsreligionen - und, wie wir sehen
werden, nicht ohne Zusammenhang mit diesen - innerhalb der Städte und gele-
gentlich auch außerhalb ihrer gegeben und Reste davon bestehen noch. Im Zeital-
ter ihrer Blüte glich die Stellung der Gilden durchaus derjenigen in den Städten
des mittelalterlichen Occidents. Der Verband der Gilden (das Mahajan, wörtlich
gleich: popolo grasso”) stand den rsten einerseits, den ökonomisch abhängi-
gen Handwerkern andrerseits etwa ebenso gegenüber wie die großen Literaten-
und Händlerzünfte den niederen Handwerkerzünften (“popolo minuto”) des Occi-
dents. Ebenso gab es Verbände dieser letztern (des panch”). Und daneben hat
vielleicht auch die Leiturgiezunft ägyptischer und spätrömischer Art in den ent-
stehenden Patrimonialstaaten nicht ganz gefehlt. Das Eigentümliche der Entwick-
lung Indiens war nun aber: daß diese
Ansätze zu einer Gilde- und Zunft - Organisation der Städte weder in eine Stadt-
autonomie occidentaler Art, noch, nach Ent-
1
) Die Banjaris z. B. sind in den “Central Provinces” teilweise als Kasten”, in Mysore aber
als (“animistischer”) “Stamm organisiert, bei beidemal gleicher Bescftigungsart.
Aehnliches kommt öfter vor.
36
Hinduismus und Buddhismus. [36]
stehung der großen Patrimonialstaaten, in eine der occidentalen Territorialwirt-
schaft” entsprechende, soziale und ökonomische Organisation der Territorien
ausmündete, sondern daß das hinduistische Kastensystem, dessen Ansätze sicher
vor jene Zeit zurückreichen, alleinherrschend wurde und jene Organisationen teils
ganz verdrängte, teils verkümmern ließ, teils hinderte, daß sie überhaupt zu er-
heblicher Bedeutung gelangten. Dies Kastensystem aber ist seinem Geist” nach
etwas ganz andres als ein System von Gilden und Zünften.
Auch die Gilden und Zünfte des Occidents pflegten religiöse Interessen. Auch bei
ihnen spielte, und zwar im Zusammenhang damit, die Frage des sozialen Rangs
eine erhebliche Rolle. Welche Rangordnung z. B. die nfte bei Prozessionen
einnehmen sollten, war eine Frage, um welche unter Umständen hartnäckiger als
um ökonomische Interessen gekämpft wurde. Ferner: in einer “geschlossenen”
Zunft, einer solchen also mit fest kontingentierter Zahl der Nahrungen”, war die
Meisterstelle vererblich, und es gab auch gildeartige und aus Gilden hervorgegan-
gene Verbände, deren Mitgliedsrecht Gegenstand des Erbgangs war. In der Spät-
antike war die Zugehörigkeit zu den leiturgischen Zünften geradezu erbliche
Zwangspflicht nach
Art einer Schollenfestigkeit. Und endlich gab es auch im mittelalterlichen Occi-
dent unehrliche”, religiös deklassierte, Gewerbe, entsprechend den unreinen
Kasten Indiens. Aber der grundstürzende Unterschied zwischen Berufsverband
und Kaste wird dadurch nicht berührt.
Zunächst : was bei den ersteren teils Ausnahme, teils gelegentliche Konsequenz
ist, ist bei der Kaste das eigentlich Grundlegende. So die magische Distanz der
Kasten im Verhältnis zueinander. Zu den Kasten, deren körperliche Berührung ri-
tuell befleckt, gehörten 1901 in den United Provinces” rund 10 Millionen Men-
schen (von insgesamt rund 40); in der Madras Presidencyinfizierten rund 13
Millionen Menschen (von rund 52) auch ohne direkte Berührung bei Annäherung
auf eine bestimmte, verschieden große Distanz hin. Dagegen kennt die Gilde und
Zunft des Mittelalters rituelle Schranken zwischen den einzelnen Gilden und
Handwerkern überhaupt nicht, abgesehen wie gesagt von der kleinen Schicht der
unehrlichen Leute”: Pariavölkern oder Pariaarbeitern (wie der Abdecker und
Henker es waren), die kraft gerade dieser Sonderstellung
37
I. Das hinduistische soziale System. [37]
den: indischen unreinen Kasten soziologisch nahe standen. Es gab faktische
Schranken des Konnubiurn zwischen verschieden geachteten Berufen, aber keine
rituellen Schranken, wie sie der Kaste absolut wesentlich sind. Und vollends
fehlten - innerhalb des Kreises der ehrlichen” Leute - die rituellen Schranken der
Kommensalität, welche zu den Grundlagen der Kastenunterschiede gehörten. Die
Erblichkeit der Kaste ferner ist ihr wesentlich. Sie war und ist nicht etwa, wie bei
den zu keiner Zeit an Zahl überwiegenden absolut geschlossenen Zünften des Oc-
cidents, erst die Folge der Kontingentierung der monopolisierten Erwerbsgele-
genheit auf eine bestimmte Maximalzahl von Nahrungen. Eine solche Kontingen-
tierung gab und gibt es teilweise auch bei indischen Berufskasten. Aber am stärk-
sten nicht in den Städten, sondern in den Dörfern. Und gerade dort steht die Kon-
tingentierung, soweit sie dort bestand und besteht, außer Zusammenhang mit ei-
ner Zunft” - Organisation und bedarf deren auch gar nicht. Denn die typischen
indischen Dorfhandwerker waren und sind erbliche Inst- und Deputatleute (ost-
deutsch gesprochen) des Dorfes, wie wir sehen werden. Zwar der wichtigste Teil,
aber doch nicht alle Kasten garantierten dem einzelnen Mitglied eine bestimmte
Nahrung nach Art unserer Meisterstellen. Und durchaus nicht alle Kasten mono-
polisierten überhaupt einen ganzen Erwerbszweig, wie dies die Zunft wenigstens
erstrebte. Die Zunft des Occidents beruhte, im Mittelalter mindestens, in aller
Regel auf freier Wahl des Lehrmeisters und ermöglichte so den Uebergang der
Kinder in andere Berufe, was gerade bei der Kaste völlig fehlt. Dies ist der grund-
legende Unterschied. Während die Abschließung der nfte nach außen mit stei-
gender Enge des Nahrungsspielraums sich steigerte, beobachtet man bei den Ka-
sten oft das gerade Umgekehrte: sie können ihre rituell gebotene Lebensführung
und also ihren ererbten Erwerb gerade bei nstigem Erwerbsspielraum am leich-
testen festhalten: Wichtiger aber ist ein anderer Unterschied.
Die Berufsverbände des occidentalen Mittelalters standen untereinander oft in
heftigem Kampf. Aber daneben zeigten sie die Tendenz zur Verbrüderung unter-
einander. Die mercanzia” und der popolo” in Italien, die “Bürgerschaft” im
Norden waren regelmäßig Verbände von Berufsverbänden. Der capitano del po-
polo” imden und (nicht immer, aber
38
Hinduismus und Buddhismus. [38]
nicht selten auch) der rgermeister” im Norden waren ihrem ursprünglichen
spezifischen Sinn nach Häupter eines Schwurverbandes der Berufsverbände, wel-
cher politische Gewalt in legaler oder illegaler Weise an sich brachte. Ganz gleich
ob der rechtlichen Form nach, - in der S a c h e beruhte die spätere mittelalterli-
che Stadt in derjenigen politischen Ausformung, welche ihre wichtigsten soziolo-
gischen Sondermerkmale enthielt, auf Verbrüderung ihrer erwerbstätigen rger,
und in aller Regel erfolgte diese in Form der Zunftverbrüderung, ebenso wie and-
rerseits die antike Polis ihrem innersten spezifischen Wesen nach auf Wehrver-
bands- und Sippenverbrüderung beruhte. Wohlgemerkt: auf “Verbrüderung”.
Denn es war durchaus kein nebensächliches Moment, daß jede Städtegründung
des Occidents, in der Antike wie im Mittelalter, mit der Begründung einer Kult-
gemeinschaft der rger Hand in Hand ging, daß ferner das gemeinsame Mahl
der Prytanen, die Trinkstuben der Gilden und Zünfte und ihre gemeinsamen Pro-
zessionen in die Kirche eine solche Rolle in den offiziellen Dokumenten der occi-
dentalen Städte spielten, und daß die mittelalterlichen rger zum mindesten im
Abendmahl in feierlichster Form Kommensalit miteinander hatten. Alle Verbrü-
derung aller Zeiten setzte Speisegemeinschaft voraus. Nicht die wirkliche, alltäg-
lich geübte, aber: ihre rituelle Möglichkeit. Und eben diese schl die Kastenord-
nung aus. Volle
1
) Verbrüderungvon Kasten war und ist unmöglich, weil es zu
den konstitutiven Prinzipien der Kasten gehörte: daß zum mindesten die volle
Kommensalität zwischen verschiedenen Kasten rituell unverbrüchliche Schranken
hat
2
). Der bloße Anblick der Mahlzeit eines Brahmanen durch einen Mann niede-
rer Kaste befleckt den ersteren rituell. Als die letzte gre Hungersnot
3
) die engli-
sche Ver-
1
) Der Gegensatz ist auch hier, wie bei allen soziologischen Erscheinungen, kein absoluter
und übergangsloser, wohl aber ein solcher der wesentlichenZüge, die historisch aus-
schlaggebend wurden.
2
) Die zwischenkastlichen vollen Kommensalitäten sind hier wirklich nur Bestätigungen der
Regel. Sie betreffen z. B. die Kommensalität zwischen gewissen Radschputen- und
Brahmanen - Unterkasten, welche darauf beruht, daß die letzteren von alters her die Fa-
milienpriester der ersteren sind. S. Anm. 19.
3
) Eine eigene bengalische niedere Kaste (die Kallars) ist aus Leuten entstanden, welche bei
der Hungersnot 1866 die Ritual- und Speisegesetze verletzten und infolgedessen ex-
kommuniziert wurden: innerhalb ihrer scheidet sich wieder die Minderheit, welche erst
bei einem Preis von 6 seers für die Rupie, als Unterkaste von denen, welche sich des Fre-
vels schon bei einem Preisverhältnis von 10 seers für die Rupie schuldig gemacht hatten.
39
I. Das hinduistische soziale System. [39]
waltung veranlte, allgemein zugängliche Volksküchen zu eröffnen, ergab frei-
lich die aufgenommene Statistik: daß verarmte Leute mtlicher Kasten in ihrer
Not sie aufgesucht hatten, obwohl natürlich ein solches Essen im Angesicht von
Ungenossen rituell streng verpönt ist. Aber die strengen Kasten begnügten sich
noch damals nicht mit der Möglichkeit, durch rituelle Buße die magische Beflek-
kung wieder abzuwaschen. Sondern unter Androhung der Exkommunikation ge-
gen die Teilnehmer setzten sie durch, daß Köche hoher Kaste, deren Hände rituell
für alle Kasten als rein galten, angestellt, ferner oft auch, daß durch Kreidestriche
um die Tische herum und durch ähnliche Mittel eine Art von symbolischer cham-
bre séparée r jede Kaste geschaffen wurde. Abgesehen davon, daß im Ange-
sicht des Hungertodes die Tragfähigkeit auch starker magischer chte versagt,
hat eben jede streng ritualistische Religion, wie die indische, jüdische, römische,
die Fähigkeit, in solchen äußersten Fällen rituelle Hintertüren zu öffnen. Aber von
da bis zur Möglichkeit einer Kommensalität und Verbrüderung, wie sie der Occi-
dent kannte, ist ein sehr weiter Weg. Wir finden zwar in der Zeit der Entstehung
der Königtümer, daß der König die verschiedenen Kasten, auch die Çudra, zu
sich zur Tafel ladet. Aber sie sitzen, wenigstens nach der klassischen Vorstellung,
in getrennten Räumen, und daß eine Kaste, die beansprucht, zu den Vaiçya zu
gehören, unter die Çudra gesetzt ist, gibt im Vellala Charita Anläß zu einem (halb
legendären) berühmten Konflikt, von dem später noch die Rede sein muß.
Blicken wir nun einmal nach dem Occident hiber. Im Galaterbrief II, 12. 13 f.
hält Paulus dem Petrus vor: daß er in Antiochien mit den Unbeschnittenen zu-
sammen gegessen, nachher aber, unter dem Einflder Jerusalemiten, sich abge-
sondert habe: und mit ihm heuchelten die andern Juden”. Daß der, zumal gerade
diesem Apostel gemachte, Vorwurf der Heuchelei nicht ausgemerzt worden ist,
zeigt vielleicht ebenso deutlich wie der Vorgang an sich, welch gewaltiger Akzent
für die alten Christen auf jenem Ereignis lag. In der Tat: diese Sprengung der ritu-
ellen Kommensalitäts-Schranken bedeutete die Sprengung des, weit einschnei-
dender als jedes Zwangs - Ghetto wirkenden, freiwilligen Ghetto's: der rituell ihm
auferlegten Pariavolks - Lage des Judentums, für die Christen, die Entstehung der
von Paulus triumphierend wieder und wieder gefeierten christ-
40
Hinduismus und Buddhismus. [40]
lichen Freiheit”, das hieß: der internationalen und inter - ständischen Universali-
tät seiner Mission. Die Abstreifung aller rituellen Geburts - Schranken r die
Gemeinschaft der Eucharistie, wie sie in Antiochia vor sich ging, war auch - hin-
gesehen auf die religiösen Vorbedingungen - die Konzeptionssturide desBürger-
tums” des Occidents, wenn auch dessen Geburt, in den revolutionären conjura-
tiones” der mittelalterlichen Städte, erst mehr als ein Jahrtausend später erfolgte.
Denn ohne Kommensalität, christlich gesprochen, ohne gemeinsames Abendmahl,
war eine Eidbrüderschaft und ein mittelalterliches Städtbürgertum gar nicht mög-
lich. Die Kastenordnung Indiens bildete dafür ein - zum mindesten aus eigenen
Kräften - unübersteigliches Hindernis. Zwischen den Kasten herrscht nicht nur
diese ewige rituelle Scheidung
1
), sondern, und zwar auch dann, wenn keinerlei
ökonomische Interessengegensätze bestehen, in aller Regel tiefste Fremdheit, oft
tödliche Eifersucht, in aller Regel aber Feindschaft, weil sie eben, - im Gegensatz
zu den occidentalen Berufsverbänden, - ganz und gar auf sozialen Rang einge-
stellt sind. Welche Rolle auch immer die Etiketten und Rang-Fragen im Occident
unter den Berufsverbänden gespielt haben (oft eine recht erhebliche), - niemals
konnten solche Fragen bis zu jener religiös verankerten Bedeutsamkeit sich stei-
gern, die sie für den Hindu besaßen. Die Konsequenzen des Unterschieds sind
auch politisch sehr bedeutend gewesen. Der Verband der indischen Gilden, das
Mahajan, war kraft seiner Solidarität eine Macht, mit welcher die Fürsten sehr
stark zu rechnen hatten. Man sagte: Der Fürst manerkennen, was die Gilden
dem Volk tun, es sei barmherzig oder grausam.” Die Gilden erwarben von den
Fürsten gegen Gelddarlehen Privilegien, die an unsere mittelalterlichen Verhält-
nisse erinnern. Die Schreschthi (Aeltesten) der Gilden gehörten zu den machtvoll-
sten Honoratioren und rangierten mit dem Kriegs- und Priesteradel ihrer Zeit. In
den Gebieten und Zeiträumen, in welchen diese Zustände bestanden, war die
Macht der Kasten unentwickelt und durch die brahmanenfeindlichen Erlösungs-
1
) Daß ein Nabob von Bankura auf Bitte eines Chandala die Karnakar- (Metallarbeiter-Kaste
zwingen wollte, mit jenem zu essen, veranlaßte (nach der Ursprungslegende der Mah-
mudpurias) einen Teil der Kaste zur Flucht nach Mahmudpura und zur Konstitution a1s
eigene Unterkaste mit höheren sozialen Ansprüchen.
41
I. Das hinduistische soziale System. [41]
religionen teils gehemmt teils erscttert. Der spätere Umschwung zugunsten der
Alleinherrschaft des Kastensystems steigerte nicht nur die Macht der Brahmanen,
sondern auch die der Fürsten und brach die Macht der Gilden. Denn die Kasten
schlossen jede Solidarität und politisch machtvolle Verbrüderung des rgertums
und der Gewerbe aus. Beachtete der rst die rituellen Traditionen und die darauf
fußenden sozialen Prätensionen der r ihn wichtigsten Kasten, so konnte er sie
nicht nur - wie es geschah - gegeneinander ausspielen, sondern hatte von ihnen,
zumal wenn die Brahmanen auf seiner Seite standen, überhaupt nichts zu rch-
ten. Es ist demnach schon jetzt nicht schwer zu erraten, welche politischen Inter-
essen ihre Hand im Spiel hatten bei jenem Umschwung zur Alleinherrschaft des
Kastenwesens, der die einige Zeit lang, scheinbar dicht an der Schwelle europäi-
scher Städteentwicklung stehende, soziale Struktur Indiens in Bahnen lenkte, die
weit abführten von jeder Möglichkeit einer Entwicklung occidentaler Art. Der
grundlegend wichtige Gegensatz der Kaste” gegenüber der “Zunft” oder “Gilde”
oder jedem Berufsverband” tritt in diesen welthistorischen Unterschieden schla-
gend zutage.
Wenn nun dieKaste etwas grundsätzlich Heterogenes gegenüber einer Zunft”
oder irgend einer andern Art von bloßem Berufsverband ist, und wenn sie in ih-
rem Kern mit sozialem Rang zusammenhängt, - wie verhält sie sich zum
S t a n d , der ja darin sein eigentliches Wesen findet ? Was ist ein Stand” ?
Klassen” sind Gruppen von Menschen, deren ökonomische Lage vom Stand-
punkt bestimmter Interessen gleichartig ist. Besitz oder Nichtbesitz von Sachgü-
tern oder von Arbeitsqualifikationen bestimmter Art konstituieren die Klassenla-
ge”. “Stand” ist eine Qualität sozialer Ehre oder Ehrlosigkeit und wird, dem
Schwerpunkt nach, durch eine bestimmte Art der Lebensführung sowohl bedingt
wie ausgedrückt. Soziale Ehre kann an einer Klassenlage direkt haften und ist
meist irgendwie durch die durchschnittliche Klassenlage der Standesgenossen mit
bedingt. Allein dies ist nicht notwendig der Fall. Standeszugehörigkeit beeinflußt
andererseits von sich aus die Klassenlage, indem die standesgemäße Lebensfüh-
rung bestimmte Arten des Besitzes oder der Erwerbsbetätigung bevorzugt und
andere ablehnt. Ein Stand kann geschlossen (“Geburtsstand”) oder
42
Hinduismus und Buddhismus. [42]
offen sein
1
). Eine Kaste nun ist insofern unzweifelhaft ein geschlossener Stand,
als alle die Pflichten und Schranken, welche die Zugehörigkeit zu einem solchen
mit sich führt, auch bei ihr bestehen, und zwar in äußerster Steigerung. Der Occi-
dent kannte rechtlich geschlossene Stände in dem Sinn, daß das Konnubium mit
Ungenossen fehlte. Aber in aller Regel nur insoweit: daß eine dennoch eingegan-
gene Ehe eine Mißehe” mit der Folge war, daß die Kinder der ärgeren Hand”
folgten. Solche ständische Schranken kennt Europa noch für den hohen Adel.
Amerika kennt sie zwischen Weißen und Schwarzen (einschließlich aller Misch-
linge) in den Südstaaten der Union. Hier aber in dem Sinn, daß die Ehe schlecht-
hin rechtlich unzulässig ist; ganz abgesehen davon, daß sie den sozialen Boykott
nach sich ziehen würde. Bei der Hindu - Kaste ist heute die Ehe nicht nur zwi-
schen Kasten, sondern schon zwischen Unterkasten in der Regel durchaus ver-
pönt. Schon in den Rechtsbüchern haben Kastenmischlinge eine niedrigere Kaste
als jeder von beiden Eltern und gehören in keinem Fall zu den drei oberen (“wie-
der geborenen”) Kasten. In noch früherer Vergangenheit aber und in wichtigen
Kasten noch heut bestand ein anderer Zustand. Noch heut findet sich gelegentlich
volles Konnubium zwischen Unterkasten der gleichen Kasten sowohl wie, verein-
zelt, auch zwischen sozial gleichstehenden Kasten
2
). In der früheren Vergangen-
heit war dies unzweifelhaft noch häufiger der Fall. Vor allem aber galt ursprüng-
lich offenbar nicht der Ausschldes Konnubium schlechthin, sondern: die Hy-
pergamie
3
). Die Ehe eines Mädchens höherer mit einem Mann niederer Kaste galt
als Verletzung der Standesehre seitens der Familie des Mädchens, nicht dagegen
der Besitz einer Frau niederer Kaste, deren Kinder auch nicht als degradiert und
nur teilweise und
1
) Wenn man als zweite Alternative den “Berufsstand” hinstellt, so ist das unkorrekt. Nie ist
der “Beruf”, sondern stets die “Lebensführung” das Entscheidende. Diese kann eine be-
stimmte Berufs - Leistung (Kriegsdienst z. B.) fordern. Immer aber bleibt die aus den
Ansprüchen der Lebensführung folgende Art der Berufsleistung (z. B. ritterliche, nicht
söldnermäßige Kriegsdienste) entscheidend.
2
) So, nach dem Generalbericht Gait's für 1911 (C. Rep. Vol. I p. 378) zwischen den gleich
vornehmen Kasten der Baidya und Kayasth in Bengalen, den Kanet und Khas im Panjab
und vereinzelt zwischen Brahmanen und Radschputen, auch Sonars und Nais mit Kanets.
Reich gewordene Mahratha - Bauern nnen gegen hinlängliche Mitgift Mohratha-
Weiber erhalten.
3
) Es besteht im Panjab bei den Radschputen vielfach sogar noch so stark, daß selbst Cha-
mar - Mädchen gekauft werden.
43
I. Das hinduistische soziale System. [43]
nach einem sicher erst späteren Recht im Erbrecht zurückstehen mußten (wie
auch in Israel der Satz, daß die Kinder der Magd” - und der fremdbürtigen Frau
- “nicht in Israel erben sollten” ebenso erst späteres Recht war, wie überall
sonst). Das Interesse der Männer der zur Polygamie ökonomisch befähigten
Oberschichten an deren Legalität blieb eben bestehen, auch nachdem der akute
Weibermangel der erobernd eingedrungenen Krieger, welcher überall Ehen mit
Mädchen der Unterworfenen erzwingt, nicht mehr bestand. Die Folge aber war,
daß die dchen der Unterkasten einen großen, je niedriger die Kaste stand, ei-
nen um so größeren Heiratsmarkt hatten, die Mädchen der obersten Kasten aber
einen auf ihre Kaste beschränkten, der ihnen, infolge der Konkurrenz der Mäd-
chen der Unterkasten, überdies in keiner Art monopolistisch gesichert war. Dies
bewirkte, daß die Frau in den Unterkasten infolge der Nachfrage einen hohen
Brautpreis einbrachte und infolge der Teuerung der Frauen teilweise Polyandrie
entstand
1
), in den Oberkasten dagegen der Absatz der dchen an einen standes-
gemäßen Bräutigam schwierig war und, je schwieriger er wurde, desto mehr sein
Mißlingen als Schande für Mädchen und Eltern galt. Es mußte nun der Bräutigam
von den Eltern durch unerschwingliche Mitgiften erkauft werden und seine An-
werbung (durch Heiratsvermittler) wurde schon in frühester Kindheit ihre wich-
tigste Sorge, bis schließlich es geradezu als Sünde” galt, wenn ein Mädchen die
Pubertät erreichte, ohne verehelicht zu sein
2
).
1
) Die Bildung von Ehekartellen zwischen rfern oder zwischen besonderen Verbänden:
Golis, wie sie sich mehrfach findet, z. B. bei den Vania- (Händlern) Kasten in Gujarat,
aber auch bei Bauernkasten, ist ein Gegenschlag gegen die Hypergamie der Reichen und
Stadtsässigen, welche dem Mittelstand und den Landsässigen die Brautpreise in die Höhe
trieb, nicht aber etwa ein Resteiner angeblich “primitiven Gruppenehe”. - Wenn es in
Indien vorkommt (Census Report 1901 XIII P. I p. 193), daß das ganze Dorf - m i t
E i n s c h l u ß d e r u n r e i n e n K a s t e n - sich als untereinander verwand-
te auffaßt, der Einheiratende also von Allen als “Schwiegersohn”, die ältere Generation
von Allen als “Onkelangeredet wird, so zeigt dies evident, daß dies mit Herkunft aus
einer “primitiven Gruppenehe” schlechterdings nichts zu schaffen hat, hier so wenig wie
anderwärts.
2
) Das hat z. B. zu so grotesken Konsequenzen geführt, wie die eine gewisse Berühmtheit
genießende Heiratspraxis der Kulin - Brahmanen. Diese sind als Bräutigam hoch begehrt
und haben ein Geschäft daraus gemacht, auf Verlangen gegen Entgelt in absentia durch
Kontrakt Mädchen zu heiraten, die nun der Schande der Jungfernschaft entronnen sind,
aber bei ihrer Familie bleiben und den Bräutigam nur zu sehen bekommen, falls geschäft-
liche oder andre Gründe ihn zufällig in einen Ort führen, wo er eine (oder mehrere) sol-
cher “Ehefrauen
44
Hinduismus und Buddhismus. [44]
Neben der Kinderheirat
1
) war die Mädchentötung, sonst ein Produkt verengten
Nahrungsspielraums armer Bevölkerungen, infolgedessen hier ein Institut gerade
der Oberkasten
2
). In alle dem zeigt sich, daß auf dem Gebiet des Konnubium die
Kaste die “ständischen Prinzipien ins Extrem steigerte. Heute ist die Hypergamie
als allgemeine Kastenregel nur innerhalb der gleichen Kaste in Geltung und auch
da ist sie eine Spezialit der Radschputenkaste und einiger ihr sozial oder dem
alten geographischen Stammesgebiet nach nahestehender (so der Bhat, Khattri,
Karwar, Gujar, Jat), die Regel aber strikte Endogamie in der Kaste und eine meist
nur durch Ehekartelle durchbrochene Endogamie der Unterkaste.
Aehnlich steht es mit der Kommensalität. Ein Stand pflegt keinen gesellschaftli-
chen Verkehr mit sozial niedriger Stehenden. In den Südstaaten der Union würde
jeder soziale Verkehr eines Weißen mit einem Neger den Boykott des ersteren
nach sich ziehen. Die Kaste” bedeutet, vom Stand” her gesehen, die Steigerung
und Transponierung dieser sozialen Abschließung ins Religiöse oder vielmehr ins
Magische. Die alten Tabu”- Begriffe und ihre soziale Wendung, welche in der
geographischen Nachbarschaft Indiens besonders verbreitet war, haben dafür
wohl Material geliefert. Daneben übernommener totemistischer Ritualismus und
endlich, die irgendwie überall, nur mit sehr verschiedenem Inhalt und sehr ver-
schiedener Intensität, wirksam gewesenen Vorstellungen von der magischen Un-
reinheit bestimmter Hantierungen. Die hinduistischen Speiseregeln sind nicht
ganz einfacher Natur und befreffen keineswegs nur die Frage, 1. was man und 2.
wer zusammen am gleichen Tisch essen darf, - was am strengsten, meist auf An-
gehörige
sitzen hat. Dann zeigt er dem Schwiegervater seinen Kontrakt und hat nun bei ihm sein
Absteigequartier - und den Genuß des Mädchens kostenlos, weil sie als “legitime”
Ehefrau gilt, noch dazu.
1
) Diese bedingte I. in Verbindung mit dem Witwenzölibat - einer Institution, die hier wie
sonst neben den Witwenselbstmord trat, der seinerseits der Rittersitte entstammte, dem
toten Herrn seinen persönlichen Besitz, insbesondere seine Weiber mitzugeben: - daß in
Indien ein Teil der Mädchen schon in den Altersklassen von 5 - 10 Jahren verwitwet sind
(und es lebenslänglich bleiben); 2. bedingte die unreife Verehelichung die hohe Wochen-
bettssterblichkeit.
2
) Namentlich der Radschputen. Trotz der strengen englischen Gesetze. (von 1829) wurden
noch im Jahre 1869 in 22 rfern von Radschputana auf 284 Knaben rund 23 Mädchen
angetroffen. 1836 hatte sich in manchen Radschputen gebieten bei einer Zählung kein
einziges lebendes Mädchen von mehr als einem Jahr gefunden (auf 10.000 Seelen !).
45
I. Das hinduistische soziale System. [45]
der gleichen Kaste beschränkt ist, - sondern, und vor allem, die weiteren Fragen:
3. aus wessen Hand man Speise bestimmter Art nehmen kann: wen man, bedeutet
dies r vornehme Häuser praktisch vor Allem, als Koch verwenden kann, und 4.
wessen bler Blick auf das Essen auszuschließen ist. Bei Nr. 3 ist ein Unter-
schied der Speisen und Getränke, je nachdem es sich um Wasser und in Wasser
gekochte Speisen: kachcha”, oder um pakka”: in zerlassener Butter gekochte
Speisen, handelt: die ersteren sind die weitaus exklusiveren. Mit den Normen der
eigentlichen Kommensalität im engeren Sinne berührt sich die Frage: mit wem
man zusammen rauchen darf (was ursprünglich aus der gleichen reihum gehenden
Pfeife geschah, daher von dem rituellen Reinheitsgrade des Partners abhing). Alle
diese Regeln gehören aber in ein und dieselbe Kategorie mit einer viel weiteren
Klasse von Normen, die alle ebenso wie sie ständische” Merkmale des rituellen
Kastenranges sind. Wie die soziale Rangstellung aller Kasten davon abhängt, von
wem die höchststehenden Kasten, bei Hindukasten in letzter Instanz stets die
Brahmanen, kachcha und pakka nehmen, mit wem sie zusammen speisen und
rauchen, so ist selbstverständlich ebenso wichtig und damit zusammenhängend
die Frage: ob ein Brahmane und eventuell ein Brahmane welcher der (sehr ver-
schieden hoch bewerteten) Unterkasten die religiöse Bedienung der Mitglieder
einer Kaste übernimmt. Und wie der Brahmane zwar die letzte Instanz, aber nicht
die einzige ist, deren Verhalten in Kommensalitätsfragen den Rang einer Kaste
bestimmt, so auch in diesen Fragen. Der Barbier rituell reiner Kaste bedient nur
bestimmte Kasten unbedingt. Bei anderen rasiert er zwar und besorgt die Mani-
cure”, aber nicht die Pedicure”. Manche bedient er gar nicht. Ebenso andere
Lohnwerker, so namentlich der Wäscher. Die Kommensalität pflegt - mit man-
chen Ausnahmen - mehr an der Kaste, das Konnubium fast stets an der Unterka-
ste, die Bedienung durch Priester und Lohnwerker meist - aber mit Ausnahmen -
an dieser zu haften. Das Gesagte genügt wohl, um zu zeigen, wie außerordentlich
verwickelt die Rangverhältnisse der Kasten sind, zugleich aber auch: wodurch sie
sich von einer gewöhnlichen ständischen Ordnung unterscheiden. Es ist in ganz
eminentem, sonst nirgends auch nur annähernd erreichtem Maß eine religiös-
ritualistisch orientierte, - wenn der Ausdruck “Kirche” nicht (wie wir sahen)
46
Hinduismus und Buddhismus. [46]
unanwendbar auf den Hinduismus wäre, so würde man etwa sagen: eine “kir-
chenständische” Rangordnung.
Als der Zensus den Versuch unternahm, die - je nach Art der Zählung - 2 - 3000
oder noch mehr heutigen Hindukasten nach ihrer Rangfolge zu ordnen, ergaben
sich in den Präsidentschaften gewisse nach den folgenden Merkmalen unter-
scheidbare Gruppen von solchen. Als erste: die Brahmanen: Dann folgt eine Rei-
he von Kasten, welche - mit Recht oder Unrecht den Anspruch erheben, zu den
beiden andern wiedergeborenen” Kasten der klassischen Lehre, d. h. also zu den
Kschatriya und Vaiçya, za gehören und als Zeichen dafür den heiligen Gürtel
anlegen zu dürfen, - ein Recht, auf welches sich manche von ihnen erst in neuster
Zeit wieder besonnen haben und welches, nach Auffassung der rangältesten
Brahmanenkasten, sicher nur einem Teil von ihnen zustehen rde. Soweit es
aber einer Kaste zugestanden wird, gilt diese als rituell unbedingt rein”. Brah-
manen hoher Kaste nehmen Speise jeder Art von ihr. Es folgt durchweg eine drit-
te Gruppe von Kasten, welche den Satçudra”, den “guten” (“reinen”) Çudra
(clean Sudra) der klassischen Lehre zugerechnet werden.. Sie sind in Nord- und
Zentralindien jalacharaniya, d. h. Kasten, die einem Brahmanen Wasser geben
dürfen, aus deren lota (Wasserkessel) er Wasser nimmt. chst ihnen folgen Ka-
sten, deren Wasser in Nord- und Mittelindien ein Brahmane entweder nicht im-
mer (nämlich: je nach einem eigenen Rang eventuell nicht) oder gar nicht nimmt
(jalabyabaharya), die der Barbier hoher Kaste nicht unbedingt bedient (keine Pe-
dicure) und deren Wäsche der Wäscher nicht wäscht, die aber nicht als rituell ab-
solut unrein gelten: die gewöhnlichen Çudra der klassischen Lehre. Schlilich
Kasten, die als unrein gelten, daher vom Betreten aller Tempel und jeder Bedie-
nung durch Brahmanen und Barbiere ausgeschlossen sind, außerhalb des Dorfbe-
zirks wohnen müssen und entweder durch Berührung oder in Südindien schon auf
Distanz (bis zu 64 Fbei den Parayans) infizieren: den Kasten entsprechend,
welche die klassische Lehre aus rituell verbotenem Geschlechtsverkehr zwischen
Angehörigen verschiedener Kasten hervorgehen läßt. Innerhalb dieser nicht über-
all, und vor allem bei weitem nicht gleichmäßig, sondern nur mit auffälligen
Durchbrechungen, aber doch im großen und Ganzen leidlich durchführbaren
Gruppenbildung könnten
47
I. Das hinduistische soziale System. [47]
die weiteren Abstufungen des Ranges der Kasten nur nach einer höchst bunten
Vielzahl von Merkmalen vorgenommen werden: Innerhalb der Oberkasten je
nach der Korrektheit ihrer Lebenspraxis in bezug auf Sippenorganisation, Endo-
gamie, Kinderheirat, Witwenzölibat, Totenverbrennung, Ahnenopfer, Speise und
Getränke, Verkehr mit unreinen Kasten. Innerhalb der unteren Kästen je nach
dem Rang der Brahmanen, welche sich zu ihrer Bedienung noch bereit oder nicht
mehr bereit finden und je nachdem andere Kasten als die Brahmanen von der be-
treffenden Kaste Wasser nehmen oder nicht
1
). Maßgebend dafür und daher ein
Symptom - aber ein schwankendes Symptom - des Kastenranges ist die Zulassung
oder Meidung des Fleisches, zum mindesten des Rindfleischessens. Bei allen Ka-
sten aber ist dafür bestimmend vor allem die Art der Beschäftigung und des Er-
werbs, welche die allerweitgehendsten Folgen für Konnubium, Kommensalität
und rituelle Rangfolge hat; davon später. Daneben massenhafte Einzelzüge
2
). Ei-
ne Rangliste aller indischen Kasten ließ sich natürlich auch so nicht aufstellen.
Zunächst schon einfach deshalb nicht, weil der Rang örtlich ganz verschieden,
nur ein Teil der Kasten universell verbreitet, ein sehr grer Teil dagegen nur lo-
kal vertreten ist, also untereinander interlokal gar keine feststellbare Rangfolge
besitzt. Ferner deshalb nicht, weil innerhalb der einzelnen Kasten, namentlich bei
den Oberkasten, aber auch bei manchen Mittelkasten, so gewaltige Rangunter-
schiede der einzelnen Unterkasten auftreten, daß gar nicht selten einzelne Unter-
kasten hinter einer sonst niedriger bewerteten andern Kaste stark zurückgestellt
werden müßten. Es ergab sich überhaupt die Schwierigkeit: welche Einheit letzt-
lich alsKaste” angesehen
1
) In all diesen Fällen ist es gar nicht selten, daß Kasten niederen Ranges strikter in ihren
Anforderungen sind, als solche, die im übrigen als höher stehend gelten. Die
außerordentliche Buntheit dieser Rangordnungsregeln verbietet hier jedes nähere
Eingehen darauf.
2
) So lehnen die Makishya Kaibarthas die Gemeinschaft mit den Chasi Kaibarthas (in Benga-
len) zunehmend ab, weil die letzteren ihre (landwirtschaftlichen) Produkte p e r s ö n -
l i c h auf dem Markt verkaufen, sie selbst aber nicht. Andere Kasten gelten als deklas-
siert, weil ihre Frauen im Laden am Verkauf beteiligt sind, wie überhaupt die Mitarbeit
der Frau in der Wirtschaft als spezifisch plebejisch gilt. Die Sozial- und Arbeitsverfas-
sung der Landwirtschaft wird sehr stark dadurch mitbedingt, daß verschiedene Hantie-
rungen als schlechthin degradierend gelten. Ob jemand Ochsen und Pferde oder andere
Zug- urid Tragtiere in seinem Erwerb benutzt, welche und wie viele, bestimmt oft der
Kastenrang (so die Zahl der verwendeten Ochsen den der Oelpresser).
48
Hinduismus und Buddhismus. [48]
werden solle ? Innerhalb einer und derselben Kaste”, d. h. einer Gruppe, welche
der hinduistischen Tradition als solche gilt, besteht ja weder notwendigerweise
Konnubium: - dies ist vielmehr nur bei einigen wenigen Kasten, und auch da nicht
vorbehaltlos, der Fall, - noch immer volle Kommensalität. Die endogame Einheit
ist weit überwiegend die Unterkaste”, von denen einzelne Kasten mehrere Hun-
dert hlen. Dies sind entweder rein lokal (innerhalb eines verschieden großen
Bezirks) und daneben oder auch statt dessen nach angeblicher oder wirklicher
Herkunft, früherer oder jetziger Art der Berufstätigkeit oder nach andern Unter-
schieden der Lebensführung abgegrenzte und gesondert bezeichnete Verbände,
die sich als Teile der Kaste betrachten und neben dem eigenen den Kastennamen
führen, sei es, daß sie durch Spaltung der Kaste oder umgekehrt durch Rezeption
in diese oder einfach durch Usurpation ihres Ranges dazu legitimiert sind. Sie al-
lein sind wirklich in der Lebensführung einheitlich reglementiert und - soweit eine
Kastenorganisation besteht - organisiert. Die Kaste selbst bezeichnet nicht selten
fast nur den sozialen Anspruch, den diese geschlossensten Verbände erheben, ist
vielfach, aber nicht immer, ihr Mutterschoß und hat gelegentlich, aber selten, ge-
wisse allen Unterkasten gemeinsame Organisationen, häufiger gewisse, der gan-
zen Kaste traditionell gemeinsame Lebensführungsmerkmale. Die Einheit der Ka-
ste ist trotzdem in aller Regel eine Realit neben der Unterkaste. Nicht nur wer-
den Ehe und Kommensalität nach außerhalb der Kaste meist noch strenger ge-
ahndet, als zwischen Gliedern der Unterkasten der gleichen Kaste, sondern wie
die Unterkästen sich leichter neu bilden, so dürften auch die Schranken zwischen
ihnen labiler sein, während sie zwischen Gemeinschaften, die einmal als Kasten
gelten, außerordentlich zäh festgehalten werden.
Die Rangfolge der Kasten war, von diesen Schwierigkeiten abgesehen, oft des-
halb nicht feststellbar, weil sie bestritten und veränderlich war und ist. Der Ver-
such des Zensus von 1901ist nicht wiederholt worden, weil die Erregung und
Mißstimmung, die er hervorbrachte, außer allem Verhältnis zum Ergebnis stan-
den. Denn er gab das Signal zu einem Wettrennen von Kasten um den sozialen
Rang und die Beschaffung von historischen Beweisen” für diesen, zu Remon-
strationen und Protesten aller Art; dies hat eine nicht unbeträchtliche, teilweise
lehrreiche, Literatur
49
Max Weber, Religionssoziologie II.
I. Das hinduistische soziale System. [49]
entstehen lassen. Die Kasten umstrittener Rangstellung suchten den Zensus zu de-
ren Festigung und - wie sich ein Zensus - Referent ausdrückt - die Zensusbehörde
als eine Art Heroldsamt auszunutzen. Es tauchten dabei die allererstaunlichsten
neuen Rangansprüche auf. So wenn etwa die bengalischen Tschandala, die unter-
ste, angeblich aus Mischlingen von Brahmanen - Frauen mit Çudra-Männern her-
hrende Kaste, - in Wahrheit ein hinduisiertes bengalisches Gastvolk, - ihren
Namen in Namasudra” umtauften und Abkunft aus reiner Kaste, schließlich aber
gar Brahmanenblut, nachzuweisen” suchten. Aber von solchen Fällen ganz ab-
gesehen, benutzten allerhand fhere Reisläufer- und Räuberstämme, welche seit
Befriedung des Landes ein friedliches Dasein als Landbauerkasten hrten, die
Gelegenheit, sich als Kschatriyas aufzutun, nicht anerkannte Brahmanen(alte
Stammespriester) befestigten ihre Ansprüche, alle möglichen mit Handel befaßten
Kasten verlangten als Vaiçya anerkannt, animistische Stämme verlangten als Ka-
sten -und als möglichst hohe - registriert, gewisse Sekten suchten - wie schon frü-
her erwähnt - in die Gliederung der Hindugesellschaft wieder eingeordnet zu
werden.
Solchen Aufruhr in der Rangfrage, wie ihn der Zensus veranlaßte, hat es in dieser
Art früher zwar nicht gegeben. Aber frei von Umwälzungen der Kastenrangord-
nung war die Vergangenheit keineswegs. Wer entschied nun solche Rangstreitig-
keiten ? Und, fragen wir im Zusammenhang damit, wer entschied überhaupt in
Kastenangelegenheiten, einem Gebiet von Problemen, dessen Umfang wir dabei
zugleich kennen lernen wollen ? Es wurde im allgemeinen schon gesagt, daß in
Fragen der Rangordnung der Theorie nach die Brahmanen noch heute eine ent-
scheidende Autorität genien. Rangfragen, bei solchen offiziellen Banketten, bei
welcher Brahmanen anwesend sein sollten,bedurften von jeher korrekter Ent-
scheidung. Dennoch waren auch fher der Sache nach so wenig wie heute die
Brahmanen allein in der Lage, die Probleme zu erledigen. Sondern solche Rang-
fragen entschied in der Vergangenheit, vor den fremden Eroberungen, so viel be-
kannt, stets der König oder sein Ritualbeamter, der allerdings entweder selbst ein
Brahmane war oder, wenigstens der Regel nach, den Rat der rechtskundigen
Brahmanen einholte: Aber es sind Fälle genug bekannt, in welchen indische Kö-
nige von sich aus einzelne Kasten in aller Form de-
50
Hinduismus und Buddhismus. [50]
gradierten, oder Einzelne, auch Brahmanen, aus der Kaste stießen, - was dann
von den Betroffenen zwar oft als ein unrechtmäßiger Eingriff in wohlerworbene
Rechte empfunden und von degradierten Kasten oft noch nach vielen Jahrhunder-
ten angefochten, von den Brahmanen aber meist hingenommen wurde. Und auch
die erstmalige oder die Neuordnung des Kastenranges in ganzen gren Gebieten
hat formell und anscheinend auch der Sache nach z. B. in Ost - Bengalen unter
der Sena - Dynastie in der Hand des von Brahmanen, die auf seine Aufforderung
hin eingewandert waren, beratenen Königs gelegen. Aber das Gleiche galt in wei-
tem Umfang auch r die Entscheidung über einzelne Kastenpflichten. Unter der
letzten großen national indischen Herrschaft, derjenigen der Mahratten (18. / 19.
Jahrhundert) wurden die Responsen der Brahmanen über solche Fragen dem
Peschwa, der selbst aus einer Brahmanenfamilie stammte, vorgelegt, welcher das
Exequatur gab und zwar offenbar nach eigener sachlicher Erörterung der Streit-
punkte. Daß diese Stütze des weltlichen Armes heute, - mit Ausnahme der noch
bestehenden Hindu - Vasallenstaaten, wo Reste davon fortbestehen, - weggefal-
len ist, wird als ein Grund r die hlbare Abnahme der Nachachtung angeführt,
welche die Entscheidungen der Brahmanen finden. Geistliche und weltliche Ge-
walt wirkten beide als Interessenten der legitimen Ordnung zusammen. Daß dabei
der König eine erhebliche sachliche Macht zu entwickeln vermochte, lag vor al-
lem daran, daß die Brahmanenkaste weder eine hierarchisch gegliederte Priester-
schaft noch auch eine organisierte Zauberer - Gilde war, einer einheitlichen Orga-
nisation vielmehr durchaus, r uns von jeher, entbehrte. Der König war daher in
der Lage, sich die ihm willfährigsten Brahmanen auszusuchen, und erstaunlich ist
unter diesen Umständen nicht seine Macht, sondern umgekehrt die gewaltige
Machtstellung der Brahmanen und der Kasten überhaupt. Sie war Folge der Un-
verbrüchlichkeit alles dessen, was als heiliges Recht galt, zur Vermeidung bösen
Zaubers. Dem König gegeber galt in Indien der Grundsatz: Willkür bricht
Landrecht” in Kastenangelegenheiten unbedingt und, - im Gegensatz zu der nur
durch die ökonomische Bedeutung der Gilden gestützte Macht dieser, - unter ma-
gischer Sanktion. Der königliche Richter hatte durchweg nach den hergebrachten
Gewohnheiten der einzelnen Kasten zu entscheiden, hatte Schöffen
51
I. Das hinduistische soziale System. [51]
aus der betreffenden Kaste zuzuziehen, und es gelangten an ihn die Sachen über-
haupt nur im Rechtszug von den normalerweise in Kastenangelegenheiten ent-
scheidenden Organen der einzelnen Kasten, selbst. Auch heute erledigen die Or-
gane der einzelnen Kaste deren Angelegenheiten, exkommunizieren, erlegen Bu-
ßen auf, entscheiden Streitfälle und entwickeln durch ihre Spruchpraxis, im we-
sentlichen selbständig, die Normen r neu auftauchende Rechtsfragen. Wir wer-
den uns einem Ueberblick über die Gegenstände der Kastenjurisdiktion, über de-
ren Praxis, damit auch über die Organe der Kasten nicht entziehen dürfen, müssen
aber zu diesem Zweck die bisher nur gelegentlich berührte Frage nach den Prinzi-
pien, welche dem Aufbau und der Abgrenzung der untereinander ziemlich ver-
schiedenen Arten von Kasten zugrunde liegen, zusammenhängend zu beantworten
suchen.
Vorher ist nur noch eine wichtige Eigenart der indischen Sozialverfassung zu er-
örtern, welche mit dem Kastensystem in engem Zusammenhang steht. Nicht nur
die Ausbildung der Kaste, sondern auch die Steigerung der Bedeutung der
S i p p e gehört nämlich zu ihren fundamentalen gen. Die soziale Ordnung
ruhte in viel weiterem Umfang, als dies sonst irgendwo in der Welt der Fall war,
auf dem Prinzip des Gentilcharisma”. Darunter soll hier verstanden werden: daß
eine (ursprünglich rein magisch gedachte) außeralltägliche oder doch jedenfalls
nicht universell zugängliche persönliche Qualifikation: - ein Charisma”, - an den
Mitgliedern einer Sippe als solchen haftet, nicht nur, wie ursprünglich stets, an ei-
nem persönlichen Träger. Wir kennen Reste dieser soziologisch sehr wichtigen
Konzeption vor allem in dem erblichen Gottesgnadentum unsrer Dynastien; in
minderem Maße gehört dahin natürlich jede Legende von der spezifischen
Bluts”- Qualität irgendeines reinen Geburtsadels irgendwelcher Provenienz.
Diese Konzeption ist einer der Wege, auf welchem sich die Veralltäglichung des
ursprünglich rein aktuellen und persönlichen Charisma vollzieht. Der Kriegskönig
und seine Mannen waren ursprünglich, - im Gegensatz zum erblichen Friedens-
häuptling, der bei manchen Stämmen auch ein Weib sein konnte, - rein persönlich
magisch qualifizierte und durch Erfolge erprobte Helden: nur auf streng persönli-
chem Charisma ruhte die Autorität des Kriegsführers, ganz ebenso wie des Zau-
berers. Der Nachfolger
52
Hinduismus und Buddhismus. [52]
nahm ursprünglich ebenfalls kraft rein persönlichen Charismas die Würde in An-
spruch. Das unabweisliche Bedürfnis nach Ordnung und Regel in der Frage der
Nachfolge ließ nun, als es sich Beachtung erzwang, verschiedene Möglichkeiten.
Entweder Designation des qualifizierten Nachfolgers durch den Inhaber der Wür-
de selbst. Oder dessen Ermittlung durch seine Jünger, Mannen oder Amtsträger,
woraus sich dann weiterhin mit fortschreitender Reglementierung dieser ursprüng-
lich spezifisch ordnungsfremden Fragen Wahlkollegien jener Amtsträger nach Art
der Kurrsten” und Kardinäle” entwickelten. Oder schließlich: es siegte der
überall naheliegende Glaube: daß das Charisma eine Qualit sei, die an der Sippe
als solcher hafte, daß der oder die Qualifizierten also innerhalb ihrer zu suchen
seien, von wo aus sich dann der Uebergang zur Erblichkeitvollzog, mit wel-
cher jene Konzeption , des Gentilcharisma ursprünglich nichts zu schaffen hatte.
Je weiter die Gebiete waren, welche der magische Geisterglaube umspannte und
je gedanklich konsequenter er gepflegt wurde, desto umfangreicher war auch die
Sphäre, welche das Gentilcharisma zu ergreifen vermochte. Nicht nur die heldi-
schen und magisch - kultischen Fähigkeiten, sondern jede Art von Autoritätsstel-
lung und jede Art von besondrer Fähigkeit, künstlerischer nicht nur, sondern auch
handwerksmäßiger Art konnte dann als magisch bedingt und an magisches Gen-
tilcharisma geknüpft gelten. Diese Entwicklung ist nun in Indien zu einer das
sonst vorkommende M weit übersteigenden Durchbildung gelangt. Sie ist nicht
gleich allein herrschend geworden, wie wir mehrfach sehen werden, sondern lag
im Kampf sowohl mit dem alten genuinen Charismatismus, der nur die höchst
persönliche Gabe des Einzelnen gelten li, als mit dem bildungs”- ständischen
(kultivationspädago-gischen) Vorstellungskreis.
Viele Formalien in Lehrgang und Ausübung des Handwerks trugen noch im indi-
schen Mittelalter weit stärkere Spuren des personalcharismatischen Prinzips als
dies überall in den magischen Einschlägen des Noviziates und der Freispre-
chungdes Lehrlings zum Gehilfen der Fall war. Aber daß die Berufsgliederung
ursprünglich in so starkem Maß eine interethnische und Träger so großer Teile
der Gewerbe Pariastämme waren, trug zur Entfaltung der gentilcharismatischen
Magik naturgemäß sehr stark bei. Am allerstärksten aber äußerte sich die Herr-
schaft des Gentil-
53
I. Das hinduistische soziale System. [53]
charisma auf dem Gebiet der Autoritätstellungen. Das Normale war in Indien
überall ihre “Erblichkeit, d. h. gentilcharismatische Sippengebundenheit. Das
Dorf hatte, je weiter zurück um so universeller, seine erblichen” Vorsteher, die
Gilde, Zunft, Kaste ihren erblichenAeltesten, - etwas Andres kam normaler-
weise gar nicht auch nur in Frage. Die Erblichkeit des priesterlichen, königlichen,
ritterlichen, Beamten - Charisma ist eine solche Selbstverständlichkeit, daß die
bei eigentlichen Amtsstellungen unter den Patrimonialherrschern eindringende
freie Ernennung des Nachfolgers, ganz ebenso wie etwa der freie Wechsel des
Priestergeschlechts oder der Handwerker, die eine Familie bedienten, oder die
freie Berufswahl, wie sie in den Städten stattfand, nur in Perioden starker Er-
schütterungen der Tradition oder auf organisatorischem Neuland vor der Festi-
gung der Verhältnisse sich durchsetzten. Wohlgemerkt : als P r i n z i p sich
durchsetzten. Denn im Einzelfall konnte nicht nur eine königliche oder priesterli-
che Sippe ihr Charisma durch offenkundige Entblößtheit von ihren magischen
Qualitäten ebenso verloren haben, wie ein Einzelner. Sondern es konnte auch ein
homo novus sich als Träger von Charisma bewähren und dadurch dann auch seine
Sippe als charismatisch legitimieren. Im Einzelfall konnte daher jede solche gen-
tilcharismatische Autorität labil sein. Der Nayar-Sheth - dem occidental - mittelal-
terlichen rgermeister” entsprechend - des heutigen Ahmadabad, von dem W.
Hopkins berichtet, war der jeweilige Aelteste der reichsten (Jaina-) Familie der
Stadt. Er in Gemeinschaft mit dem ebenfalls erblichen (vischnuitischen) Sheth der
Tuchmachergilde waren faktisch maßgebend r die öffentliche Meinung in allen
sozialen (rituellen und Etikette-) Fragen der Stadt, die andern (durchweg erbli-
chen) Sheth´s standen an Einfluß, außer- halb ihrer Gilden und Kasten, hinter je-
nen zurück. Aber zur Zeit, als Hopkins seine Studien machte, begann ein außer-
halb aller Gilden stehender reicher Fabrikant jenen erfolgreich Konkurrenz zu
machen. War ein Sohn eines Gilden- oder Zunft- oder Kasten - Aeltesten, Prie-
sters, Mystagogen, Kunsthandwerkers offenkundig ungeeignet, so schwand sein
Einfluß und floß ent-weder einem geeigneteren Mitglied der eigenen Sippe oder
dem Aeltesten (gewöhnlich) der nächstreichsten Sippe zu. Denn war nicht jeder
Neu-Reichtum, aber großer Reichtum in Verbindung mit persönlichem Charisma
legitimierte seinen Besitzer und dessen
54
Hinduismus und Buddhismus. [54]
Sippe, wo immer die ständischen Verhältnisse noch im Fluß waren oder erneut in
Fluß gerieten. Wie labil infolgedessen auch immer im Einzelfall die gentilcharis-
matisch garantierte Autorität sein mochte, so lenkte dennoch der Alltag stets er-
neut in das Bett der gsamkeit gegen die einmal durchgesetzte Stellung einer
Sippe als solcher ein. Immer und auf allen Gebieten kam die durchgesetzte Aner-
kennung des Charisma nicht dem Einzelnen, sondern der Sippe zugute.
Wie die magische Zusammenklammerung der Sippen durch den Geisterglauben in
China ökonomisch wirkte, ist früher ausgeführt. Die Wirkung der in China durch
das Prüfungswesen des Patrimonialismus gebrochenen gentilcharismatischen
Verklärung der Sippe in Indien lag ökonomisch in der gleichen Richtung. Die Ka-
stenorganisation und weitgehende Kastenautonomie und die noch größere, weil
rituell ungebundene Gildenautonomie legten die Entwicklung des Handelsrechts
praktisch ganz in die Hände der Interessenten selbst. Man sollte bei der außeror-
dentlichen Bedeutung des Handels in Indien glauben, daß daraus ein rationales
Handels-, Gesellschafts- und Unternehmungsrecht hätte entstehen können. Sieht
man sich aber die mittelalterliche Rechtsliteratur daraufhin an, so erstaunt man
über dessen Kargheit. Das Recht und das Beweisverfahren selbst waren teils for-
malistisch, aber irrational (magisch), teils prinzipiell unformal, weil hierokratisch
beeinflußt. Rituell relevante Fragen konnten nur durch Ordal entschieden werden.
Bei anderen galten die allgemeinen Moralgesetze, oder die “Lage der Sache”,
oder primär die Tradition und suppletorisch etwaige königliche Edikte als
Rechtsquellen. Immerhin entwickelte sich wenigstens, im Gegensatz zu China,
ein formales Prozeßverfahren mit geregelter Ladung (in jus vocatio, unter den
Mahratten Ladung durch den Gerichtsdiener). Die Schuldhaftbarkeit der Erben
war zwar vorhanden, aber nach Generationen begrenzt. Vor allem steckte die
Schuldexekution, obwohl die Schuldknechtschaft bekannt war, zum Teil noch im
magischen Stadium oder in dem eines modifizierten Einlager - Systems. Soli-
darhaft mehrerer Partner fehlte, wenigstens als Norrn. Das Gesellschaftsrecht
überhaupt, erst spät und im An- schlan das Recht religiöser Bruderschaften
entwickelt, blieb von der größten Dürftigkeit. Allerhand Korporationen und
Samtbesitzverhältnisse wurden durcheinander behandelt. Es
55
I. Das hinduistische soziale System. [55]
wird die Gewinnverteilung, nebenbei auch bei Zusammenarbeit mehrerer Hand-
werker unter einem Obmann: also im Ergasterium, geregelt
1
). Vor allem aber galt
der uns aus China bekannte Grundsatz: daß man nur einem persönlich verbunde-
nen Phratriegenossen, Verwandten oder Freund ohne weiteres Kredit geben soll
(auch gegen Pfand). Anderen gegenüber galt Schuld nur bei Bürgschaft oder
Schuldschein mit Zeugen
2
). Im einzelnen hat die spätere Rechtspraxis freilich den
kaufmännischen Verkehrsbedürfnissen befriedigend Rechnung getragen, aber sie
schwerlich von sich aus gefördert, und daß trotzdem eine nicht unerhebliche kapi-
talistische Entwicklung wenigstens zeitweise bestanden hat, - wie schon erwähnt
und später noch zu erwähnen, - ist angesichts des Zustands des Rechts wohl we-
sentlich durch die Macht der Gilden, die mit Boykott und Vergewaltigung ihre In-
teressen und die Verweisung möglichst aller Fälle vor fachlich orientierte
Schiedsrichter durchzusetzen wußten, erklärt. Die Sippengebundenheit des Kre-
dits mußte unter solchen Bedingungen das Normale bleiben.
Aber auch und ganz besonders auf einem andern, außerhalb des Verkehrsrechts
liegenden Gebiet hatte die Herrschaft der Gentilcharismatik weitgehende Konse-
quenzen. Weil uns der Feudalismus des Occidents vorwiegend als ein System so-
zialer uud ökonomischer Bindungen erscheint, übersehen wir leicht: was es be-
deuten wollte, daß das Lehenverhältnis, unter dem Zwang der militärischen Be-
dürfnisse in der Zeit seiner Entstehung, einen f r e i e n K o n t r a k t zwischen
einander S i p p e n f r e m d e n zur Grundlage der Treue-Beziehung zwischen
Herren und Vasallen machte, und daß die sich zunehmend als ständische Einheit
und schließlich als geschlossener Geburtsstand der Ritterschaft hlende Gesamt-
heit der Lehensträger auf diesem Boden der Sippenfremdheit gegeneinander er-
wachsen war, sich nicht als Sippen-, Clan- (Phratrie-) oder Stammesgenossen,
sondern lediglich als Standesgenossen wußte. Ganz anders in Indien. Nicht daß
die individuelle Beleihung von Gefolgsleuten und Beamten mit Land oder politi-
schen Rechten gefehlt hätte. Sie ist historisch unzweideutig nachweisbar. Aber
nicht sie gab dem Herrenstand das Gepräge und nicht auf den Landlehen ruhte die
feudale Standesbildung. Sondern,
1
) Brihaspati (übersetzt von Jolly, S. B. of the East 33) XIV, 28. 29.
2
) Ebenda XIV, 17.
56
Hinduismus und Buddhismus. [56]
wie Baden-Powell
1
) mit Recht betont hat, auf Sippe, Clan (Phratrie) und
Stamm. Das gentilcharismatische Haupt der Phratrie verteilte das eroberte Land:
die Herrenrechte an seine Sippengenossen, die Feldfluren an die einfachen Phra-
toren. Als einen Kreis von über das Eroberungsgebiet, als dessen Herr der Stamm
galt, sich zerstreuenden Phratrien und Herrensippen haben wir uns die Eroberer-
klassen zu denken. Eine “Belehnung” mit Herrenrechten fand durch das Haupt
der Phratrie (den Radseha) oder auch durch den Stammeskönig (Maharadscha),
wo ein solcher existierte, primär in aller Regel nur an seine Agnaten und zwar in
ihrer Eigenschaft als solche, nicht aber kraft einer frei geschaffenen Treuebezie-
hung, statt. Die Sippengenossen beanspruchten diese Verleihung von ihm als ihr
kraft Zugehörigkeit zur Sippe ihnen zustehendes Geburtsrecht. Jede Eroberung
schuf in erster Linie neue Amtslehen r die Königssippe und die Unterkönigssip-
pen. Erobern war daher das Dharma des Königs. So gleitend der Unterschied zum
Occident im Einzelfall sein mochte, so hat doch dieser Gegensatz die abweichen-
de Struktur des weltlichen Herrenstandes im alten Indien bestimmt. Mochte in
noch so vielen Einzelfällen ein charismatischer Emporkömmling mit seiner frei
rekrutierten Gefolgschaft das feste Gefüge der alten Sippen sprengen, stets wie-
der lenkte die Entwicklung in die feste Bahn der gentilcharismatischen Organisa-
tion in Stämmen, Phratrien, Sippen ein.
Der Gentilcharismatismus ergriff besonders früh die Träger der hierokratischen
Macht. Und sie am vollständigsten, weil
1
) In seiner Indian Village' Community (1896). Im einzelnen wären manche Ausführungen
Baden-Powells vielleicht anfechtbar. - Der irische Ausdruck Clanist vieldeutig, Die ty-
pische Gliederung militärisch organisierter Gesamtheiten ist: I. der “Stammals Gemein-
schaft von “Phratrien”, d. h. in der hier gebrauchten Terminologie primär stets : Verbän-
den der militärisch (ursprünglich : magisch) trainierten Wehrmänner, 2. die Sippe als (in
der hier gebrauchten Terminologie) die gentilcharismatisch präeminenten agnatischen
Abkömmlinge der charismatischen Häuptlinge. Der einfache Wehrmann hatte nicht not-
wendig eine “Sippe”, sondern gehörte neben seiner Phratrie und, eventuell, militärischen
Altersklasse noch einer “Familie” oder einem Totemverband (oder totemartigen Ver-
band) an. Ein Herrengeschlecht dagegen andrerseits hatte keinen Totem oder vielmehr:
behielt ihn nicht, sondern emanzipierte sich davon: - je vollständiger die Entwicklung der
indischen Herrenstämme zu einer Herrenklasse durchgeführt ist, desto mehr schwinden
die Reste der Totems (devaks) und entstehen (oder vielmehr: bleiben) allein die Sip-
pen”. Eine Verwischung der gentilcharismatischen Unterschiede trat andrerseits dadurch
ein, daß die Phratrie sich als Abstammungsgemeinschaft, statt als Wehrverbrüderung, zu
fühlen begann, also eine Art “Sippe” wurde.
57
I. Das hinduistische soziale System. [57]
sie von Anfang an kraft ihres magischen Charisma jenseits der Organisation der
Totems (oder totemartigen Verbände) standen. Es hat in Indien Gegenden gege-
ben, in einem Teil der Eroberungsgebiete bis ins Mittelalter, wo der Kriegsadel
nicht aufhörte, den Zauberer als einen ständisch subalternen, sei es auch noch so
sehr gefürchteten, Demiurgen anzusehen: Bei den Ariern waren die alten Opfer-
priester schon in der Zeit der ältesten Veden zu einem vornehmen Priesteradel
geworden, dessen einzelne Sippen sich je nach den erblichen Verrichtungen und
dem entsprechenden Gentilcharisma in erbliche Schulenteilten. Bei der hohen
Präeminenz des magischen Gentilcharisma, welches sie beanspruchten, wurden
sie und ihre Erben: die Brahmanen, die wichtigsten Träger der Verbreitung dieses
Prinzips durch die hinduistische Gesellschaft hindurch.
Wie es nun einerseits klar ist; daß der rnagische Gentilcharismatismus der Schaf-
fung des festen Gefüges der magischen Kastenfremdheit außerordentlich stark
zugute kommen mußte, sie eigentlich schon im Keime in sich enthielt, so mußte
andrerseits die Kastenordnung in eminentem Me der Festigung der Bedeutung
der Sippe dienen. Alle Schichten, welche auf Vornehmheit Anspruch machten,
waren darauf hingewiesen, sich nach dem Muster der Herrenkasten zu gliedern.
Auf den Sippen ruhte die exogame Eheordnung. Und das Prinzip der Erblichkeit
der sozialen Lage, rituellen Pflicht, Lebensführung und Berufsstellung mußten
dem gentilcharismatischen Prinzip r alle autoritären Stellungen die letzte ent-
scheidende Weihe geben. Wie das Gentilcharisma die Kaste, trug die Kaste wie-
derum das Charisma der Sippe.
Damit wenden wir uns zu den konkreten Kasten.
Die vier Kasten der klassischen Lehre sind von der modernen Wissenschaft lange
Zeit als rein literarische Konstruktionen angesehen worden. Das ist jetzt aufgege-
ben. Schon die bisherigen Erörterungen zeigen: daß dies viel zu weit gegangen
wäre. Noch heut bestimmt die übliche Art der Einrangierung der Kasten in die
vier alten Klassen die Art der Grußformel des Brahmanen und es ist daher kein
Wunder, daß die heutigen Kasten darnach streben, zu einer von ihnen gezählt zu
werden. Die Bedeutung der vier alten Kasten” bestätigen die monumentalen
Quellen, in welchen diese sehr oft vorkommen. Freilich bleibt zu beachten, daß
die Verfasser der Inschriften durchweg im Bann der literarischen Tradition stan-
den, ebenso die modernen Vertreter jener Kasten, welche heut “Kschatriya”- oder
Vaiçya”- Rang
58
Hinduismus und Buddhismus. [58]
reklamieren. Aber die Natur der Sache bestätigt die Annahme, daß die bestimm-
ten Angaben der Rechtsbücher, die doch in irgendeinem Sinn ein, sei es auch
noch so stark idealtypisch umstilisiertes, Spiegelbild von Zuständen ihrer Zeit
sein müssen, nicht einfach aus dem Nichts konstruiert sind. Die unteren beiden
sogenannten Kasten der Rechtsbücher waren allerdings vielleicht nie Kasten im
heutigen Sinn, sondern schon in der klassischen Zeit Rangklassen von Kasten.
Ursprünglich aber waren sie wohl ohne Zweifel einfache S t ä n d e ”. “Die
Vaiçya und Çudra waren da- so besagt eine gelegentliche Stelle der Ueberliefe-
rung - ehe die Brahmanen und Kschatriya existierten”. Die Vaiçya sind die alten
Gemeinfreien”; über ihnen erheben sich die Adelssippen: teils Kriegsadel, also
Häuptlings- und, später, Rittergeschlechter, teils aber Priesteradel, wie er auch
anderwärts existierte. Was nach unten zu nicht zu den Gemeinfreien gehörte, war
Helot” (Çudra). Der bei der Gravamayana - Feier vorkommende symbolische
Kampf
1
) eines Arya anit einem Çudra entspricht gleichbedeutenden Zeremonien
in Sparta. In der Tat ist dieser Gegensatz hlbar schärfer, als der zwischen den
beiden andern Oberkasten und den Vaiçya. Dem Brahmanen und dem Kschatriya
war eine bestimmte Tätigkeit als Ausfluß ständischer Lebenshaltung vorgeschrie-
ben und vorbehalten: Opfer, Vedastudium, Empfang von Gaben, besonders Land-
schenkungen und Askese dem Brahmanen, - politische Herrschaft und ritterliches
Heldentum dem Kschatriya. r beide galt das, was der Vaiçya tut: das hren
der Landwirtschaft und der Handel (vor allem auch das Geldgeben auf Zins) nicht
als primär standesgemäß. Aber in Zeiten der Not, d. h. erprobter Unmöglichkeit,
sich den Unterhalt standesgemäß zu erwerben, war ihnen gestattet, zeitweilig -
mit nur wenigen Vorbehalten und Ausnahmen - ökonomisch wie ein Vaiçya zu
leben. Dagegen die Lebensführung des Çudra bedeutete: Knechtsdienst
2
). Darun-
ter ist aber in den klassischen Quellen alles G e w e r b e verstanden. Daß ge-
werbliche Tätigkeit in einem noch weit ausgesprocheneren und wörtlicheren Ma-
ße, als es ursprünglich überall galt, als ein Fronen im Dienst der andern Kasten
aufgeft wurde, erklärt sich aus der in Indien typischen Art der Ordnung gerade
des alten, urwüchsigen Dorfgewerbes. Wie schon kurz erwähnt, waren alle dieje-
nigen Handwerker, welche die englische Terminologie zum establish-ment”
zählt
3
), in der Tat
1
) A. Weber, Collektaneen, Ind: Studien X.
2
) Auch der Eintritt in die moderne Armee ist dem korrekten Brahmanen unmöglich, da er
dann Vorgesetzten aus niederer Kaste oder von barbarischem Ursprung Gehorsam
schulden würde.
3
) Im Dekkan unter den Mahratten fanden sich zwei typische Kategorien solcher Dorfbe-
diensteter; die Baruh Balowtay, darunter die alten typischen Gewerbe: Zimmermann,
Schmieti, Schuster, Töpfer, Barbier; Wäscher, Barde, Astrolog, Lederarbeiter, Wach-
mann, Götterbildwäscher, Mullah (in rein hinduistischen Dörfern schlachtet er Schafe für
die Opfer), und die Baruh Alowtay, darunter die später entstandenen Handwerke der
Gold- und Kupferschmiede, Schmiede, Wasserträger, Dorftorportiers und Boten, Gärt-
ner, Oelpresser und eine Reihe von religiösen Sub-
59
I. Das hinduistische soziale System. [59]
eine Art von Instleuten”; jedoch nicht, von Knechten Einzelner, sondern: Helo-
ten der Dorfgemeinschaft, die sie r ihre Dienste erblich mit Landparzellen be-
lieh und - regelmäßig - nicht nach Art eines Lohnwerkers mit Lohn für die einzel-
ne beanspruchte Leistung, sondern durch feste Ernteanteile oder Deputate entgalt.
Die Handwerker, welche dieser Gruppe zugehören, waren zwar in den einzelnen
Gebieten verschieden, innerhalb jedes Gebiets aber und auch im ganzen in weit-
gehendem Maße heute noch typisch. - Blicken wir nun auf die heutige Berufs-
gliederung der Brahmanen und Radschputen, so finden wir, daß auch jetzt noch
es äußerst selten ist, daß ein noch so degradiertes Mitglied einer dieser Kasten zu
einem dieser a l t e n Handwerke greift. Dagegen ist es überaus häufig, daß ein
Radschpute ein Bauer” ist; oft trifft dies die Mehrzahl der ganzen Kaste. Aber
auch heut ist der Radschpute, der den Pflug selbst führt, gegenüber dem Land-
rentner degradiert, und die Erhöhung der Grundrente infolge des Ueber seexports
hat unter anderem wohl auch deshalb eine ungewöhnlich schnelle Vermehrung
des Landrentnertums zur Folge gehabt. Andere Kasten, welche Kschatriya - Rang
beanspruchen, pflegen “verbauertenRadschputen gegenüber gern den Vorrang
zu verlangen. Die alte kastenmäßige Ablehnung des Gewerbes durch die Radsch-
puten und die Tradition höfischen Dienstes läßt sie die Uebernahme von jeder Art
von persönlicher häuslicher Dienstleistung bis zum niedersten, als rituell rein gel-
tenden, Hausdienst vor der Ausübung eines Handwerkes bevorzugen. Und von
der andern Seite ist natürlich die Nachfrage nach Angehörigen hoher Kaste für
den Hausdienst gr, weil diese Personen rituell rein und befähigt sein müssen,
den Herrn und die Herrin physisch zu bedienen, vor allem: ihnen Wasser zu rei-
chen. Der gleiche Umstand bedingt gewisse Monopole der heutigen Brahmanen-
Kaste: so vor allem ihre fast ausschließliche Verwendung als Köche in den Häu-
sern hoher Kaste. Im übrigen strömten und strömen die Brahmanen stark in dieje-
nigen Berufe ein, in welchen Schriftkunde und Bildung beansprucht wird, ganz
wie die Kleriker unseres Mittelalters, vor allem also: im den Verwaltungsdienst.
Im Süden haben die Brahmanen diese monopolistische Stellung in der Verwaltung
bis in die Neuzeit bewahrt
1
). Dies alles stimmt zu dem Bilde der Ueberlieferung.
Auch wichtige andere Züge des Bildes, welches die Rechtsbücher von der vor-
schriftsmäßigen Lebenshrung der Oberkasten geben, tragen den Stempel der
Echtheit und zum Teil hohen Altertums. Wer innerhalb einer fest vorgeschriebe-
nen Altersgrenze den
alternbeamten. Selten waren wirklich alle Stellen besetzt. (S. Grant D u f f , Hist. of the
Mahrattas London 1912) Die Art der Zusammensetzung dieser Deputatisten war auch
dort nicht in allen Punkten typisch. In der Provinz Bombay gehören zu ihnen auch die
Mahars, einst Bauern, dann a1s Experten der Grenzvermessung zu Deputatisten degra-
diert und in Aenschlägen angesiedelt (jetzt oft Chaufieurs, trotz des Protestes der
Konservativen).
1
) Dagegen erschwerte den Brahmanen das Ritual die Beteiligung am ärztlichen Beruf und
ihre heutige Beteiligung am Ingenieurberuf ist ebenfalls schwach.
60
Hinduismus und Buddhismus. [60]
heiligen Gürtel nicht erwirbt, gilt den Rechtsbüchern als degradiert. Und ferner
kennen sie typische Altersstufen der Lebensführung. Allerdings waren diese nur
bei der höchsten Kaste, den B r a h m a n e n , wirklich durchgeführt. Die Brah-
manen sind niemals ein Stammgewesen, obwohl mehr als die Hälfte von ihnen
im oberen Gangestal - der Heimat ihrer Machtstellung - und in Bengalen ansässig
sind. Sie waren: Zauberer und wurden: eine hierokratische Bildungskaste. Der
Brahmane hat einen Lehrgang durchzumachen, der in der klassischen Zeit schon
wesentlich nur aus einer Aneignung der heiligen (magischen) Formeln und Ritual-
handlungen und mechanischem Auswendiglernen des mündlich überlieferten Ve-
da bestand, unter der Leitung eines freigewählten brahmanischen Lehrers, der die
klassischen Werke Wort r Wort vorsprach. Diese Art der Vorbildung, äußerlich
eine rein literarische Priesterschulung, enthält einzelne Spuren alter magischer
Askese, welche die Herkunft des Brahmanen aus dem urwüchsigen Magiertum
erkennen lassen. Ihre kastenmäßige Entwicklung ist zwar in ihren allgemeinen
Stadien, nicht aber in ihren Gründen klar. Ein geschlossener Geburtsstand war die
Priesterschaft der vedischen Zeit offenbar nicht, obwohl die gentilcharismatische
Qualität gewisser alter Kultpriestergeschlechter feststand und innerhalb des
Volksverbandes neben das rein persönliche Charisma des alten Magiers getreten
war. Unter den arbeitsteilig am Kult beteiligten Priestern spielte noch der Hotar,
der Feuerpriester, die Hauptrolle. Das Hervortreten des Brahmanen im Verlauf
der weiteren Entwicklung scheint nun eine Mehrzahl von Gründen gehabt zu ha-
ben. Vielleicht - nach der älteren Annahrne - die zunehmende Stereotypierung des
Kults und der magischen Formeln, welche den Zeremonienmeister” des Opfers,
eben den Brahmanen, immer mehr zum allein mgebenden Leiter machten.
Hauptsächlich aber wohl die zunehmende Bedeutung des Familienpriesters der
Fürsten und Adligen gegenüber den am Gemeindeopfer beteiligten
1
). Das Zurück-
treten der Wehrgemeinde hinter dem rstentum und seinen Vasallen würde sich,
wenn diese heute vertretene Annahme zutrifft, darin ausdrücken. Die Zauberer
hätten sich also in die Kreise des alten Kultpriesteradels hineingedrängt und
schließlich dessen Erbschaft angetreten. Der Aufstieg der Brahmanen aus der ma-
gischen Hauskaplanschaft” erklärt: daß diese hinduistische Priesterschaft jeder
Entwicklung zu einem Amt” gänzlich fremd blieb. Ihre Stellung bedeutete eben
eine Entwicklung aus den in aller Welt verbreiteten zünftigen Organisationen der
Magier zu einer erblichen Kaste mit stets steigenden ständischen Ansprüchen.
Diese Entwicklung war zugleich ein Sieg des Wissens” (um die magisch wirk-
samen Formeln) über das bloß empirische Können der alten Pr iester. Wie dem
sei, so steht jedenfalls die steigende Macht der Brahmanen auch im Zusammen-
hang mit der steigenden Bedeutung des Zaubers auf allen
1
) Darüber s. Caland in der Z. f. die Kunde des Morgenlands, XIV (1900) S. 144.
61
I. Das hinduistische soziale System. [61]
Gebieten des Lebens. Die um den Atharva - Veda: die Sammlung der in spezifi-
schem Sinn magischen Zauberformeln, gruppierte Schule erhob den Anspruch,
daß der fürstliche Hauskaplan (purohita) stets aus ihrer Mitte genommen werde,
die Astrologie und andere spezifisch brahmanischen Wissensgebiete haben bei
ihnen ihre ursprüngliche Stätte
1
). Daß der Sieg der Magie auf allen Gebieten des
Lebens kein kampfloser war, dafür finden sich in den Rechtsbüchern Spuren ge-
nug. Er vollzog sich mit und durch die aufsteigende Macht der Brahmanen. Der
Sieg des Königs im Kriege wie jeder andere Erfolg im Leben hingen nun von er-
folgreichem Zauber ab, Mißerfolg verschuldete, nächst eigenen rituellen Verstö-
ßen des Betroffenen, sein Familienpriester. Da das Wissen der Brahmanen Ge-
heimlehre war, ergab sich die Monopolisierung der Zulassung zur Lehre für die
eigene Nachkommenschaft von selbst. Neben die Bildungsqualifikation trat nun
Abstammungsqualifikation. r das daçapaya (einen Teil des Opfers) wurde die
Ahnenprobe: 10 Ahnen, die Soma getrunken haben, vermutlich zuerst deshalb
notwendig, weil beim Opfer der Verdienste der Ahnen gedacht wurde. Nur in
verborgenen Resten blieb die alte Auffassung noch spürbar, wonach die Brahma-
nenqualität auf persönlichem Charisma ruhte: Der Novize (bramacarin; Brahma-
nenscler) war einer immerhin noch ziemlich strengen Lebensreglementierung
nach Art der magischen Askese unterworfen. Vor allem sexueller und ökonomi-
scher Askese : er hatte keusch und vom Bettel zu leben. Der Lehrer macht” den
Schüler nach der alten Auffassung auf magische Art zum Brahmanen, ursprüng-
lich unabhängig von dessen Abstammung. Und auch die Veda - Kenntnis als sol-
che, die entscheidende Machtquelle des Voll - Brahmanen, wurde in eigentümli-
cher Art als charismatische Qualität angesehen: auf den Vorwurf, von einer Çudra
- Frau abzustammen, antwortet ein Brahmane dem Gegner mit dem Vorschlag ei-
nes Feuerordals darüber, wer von ihnen beiden der Veda - Kundigere sei
2
). Nach
Absolvierung der Schulung und Vollziehung der entsprechenden Zeremonien soll-
te der Brahmane einen Hausstand begründen, grihastha werden. Nunmehr begann
er als Brahmane tätig zu sein, - wenn er überhaupt beruflich tätig wurde und nicht
Rentner blieb oder einen der zulässigen Notberufe ergriff. Die Brahmanen - Tä-
tigkeit war: Opfer und Unterricht. Sie war, namentlich in ökonomischer Hinsicht,
strenger Etikette unterworfen. Und zwar in auffälliger Weise so, daß die Verwer-
tung der eigenen Leistung zur Gewinnung einer festen Nahrungnach Art eines
Berufs” ausgeschlossen war. Der Brahmane nahm nur Geschenke” (dakshina),
nicht Gehalt”. Das Geben der Geschenke bei Inanspruchnahme der Dienste frei-
lich war rituelle Pflicht. Opfer ohne Geschenk brachte bösen Zauber und seine
Verweigerung war überdies der Brahmane, kraft seiner magischen Gewalt, in der
Lage, durch Fluch oder auch durch absicht-
1
) Vgl. B l o o m f i e l d , The Atharva Veda, in Bühlers Grundriß.
2
) Pañcav. 14, 6, 6, zitiert bei A. Weber, Collektaneen über die Kastenverhältnisse der
Brahmanen, Ind. Studien X, S. 1. f.
62
Hinduismus und Buddhismus. [62]
liche rituelle Fehler beim Opfer, welche dem Opferherrn Unheil brachten, schwer
zu rächen, - wofür eine förmliche Methodik” entwickelt war. - Die Mindesthöhe
der Geschenke war tarifiert und unlauterer Wettbewerb unter Brahmanen verpönt.
Es war erlaubt und unter Umständen vorgeschrieben, sich nach der Höhe des be-
absichtigten Geschenks vorher zu erkündigen und die furchtbare magische Macht
der Brahmanen ermöglichte es ihnen, - nach A. Webers Ausdruck: - “wahre Orgi-
en der Habgier” zu feiern. Der an eine bekannte Stelle im Faust” (über den Ma-
gen der Kirche) erinnernde Grundsatz, daß dem Bauch des Brahmanen nichts
schadet, hatte allerdings nur rituelle Bedeutung: ein Brahmane konnte jeden, oder
doch f a s t jeden, Verstoß gegen das Speiseritual durch einfache Mittel süh-
nen
1
). Die sozialen und ökonomischen Privilegien der Brahmanen waren derart,
daß sie von keiner Priesterschaft der Welt erreicht wurden. Selbst der Kot eines
Brahmanen konnte, als Divinationsmittel, religiös bedeutsam sein. Das Prinzip
der ajucyata”: Verbot der Bedrückung eines Brahmanen, schl unter anderm
ein: daß ein Schiedsrichter einem Brahmanen nie gegenüber einem andern Un-
recht geben durfte und die “arca” (Ehrerbietung), die ihm gebührte, war zum
mindesten nach den eigenen Ansprüchen ungleich höher als die einem König ge-
bührende. Auf die Eigenart der Brahmanen als eines religiösen Standes wird spä-
ter (in Abschnitt II) noch einzugehen sein; hier befassen wir uns nur mit den öko-
nomischen Vorteilen, welche der spezifische Kastenanspruch auf danam”, Ge-
schenke, mit sich brachte. Neben Geld und geldeswerten Kostbarkeiten sind Rin-
der und vor allem Land und auf Länd- oder Steuer- Einkünfte gegründete Renten-
schenkungen die klassische Form des Entgelts seitens vornehmer Herren. Land-
schenkungen zu empfangen galt - wenigstens nach der brahmanischen Theorie -
als Monopol der Brahmanenkaste und war ihr ökonomisch wichtigstes Privileg.
Die ungeheure Zahl inschriftlicher Pfründenstiftungen (die Mehrzahl aller erhalte-
nen indischen Inschriften) beweisen, daß tatsächlich der typische Brahmane voller
Kaste im indischen Mittelalter ein erblicher Pfründner war. Die typische, ur-
sprünglich höchste innerweltliche Stellung des Brahmanen aber war von jeher und
blieb: purohita, Hauskaplan, eines
2
) rsten und damit dessen Seelendirektor in
allen persönlichen und politischen Angelegenheiten zu sein. Auf dieser Stellung,
dem Brot des Brahmanentums”, wie sie wohl genannt wurde, beruhte vor allem
die politische und soziale Machtstellung der Kaste. Ein König ohne purohita ist
ebensowenig ein voller König, wie ein Brahmane ohne König ein Brahmane vol-
len Ranges ist. Auch bis heute beruhte die Stellung des Brahmanen weit mehr auf
dieser rituellen Beichtvaterstellung und der Unentbehrlichkeit des Brahmanen bei
vielen Familienzeremonien eines vornehmen Haushalts, als auf der, fast völlig
fehlenden, Organisation der Kaste als solcher. In ihrer
1
1) Ueber die Grenzen s. S. 620.
2
) Ein purohita m e h r e r e r Fürsten kommt (nach A. Weber, Collektaneen, Ind. Studien,
X) vor.
63
I. Das hinduistische soziale System. [63]
Stellung als Hauspriester haben die Brahmanen den Kasten, die als vornehm gel-
ten wollten, die entsprechenden Ordnungen, z. B. das Sippen- und Ehe-System
oktroyiert, nicht durch Beschlüsse irgend welcher Instanzen ihrer Kaste. Oeko-
nomisch war die Stellung der brahmanischen Hauspriester eine ähnliche wie etwa
die unserer Hausärzte”. Dem Grundsatz, daß man nicht ohne Not den einmal
benutzten Priester wechseln soll, - nach den alten Quellen wenigstens nicht inner-
halb des gleichen Jahres, - entsprach der Schutz der jajmani- (Kundschafts-)
Beziehungen gegen die Konkurrenz anderer Brahmanen. durch strenge Etikette,
ebenfalls ähnlich wie sie unsere Aerzte, in ihrem Formalisrnus nicht selten zum
Schaden des Patienten, im ständischen Interesse innezuhalten pflegen. Diese an
sich durchaus freiwilligen Kundschaftsbeziehungen vertreten die fehlenden Kir-
chensprengel einer hierarchisch organisierten Kirche der Brahmane ist darin in
seiner ganzen Stellung dem alten Zauberer und Medizinmann gleichartig geblie-
ben.
Wenn der Brahmane den Sohn seines Sohnes sieht, so soll er aus dem Leben des
Haushalters wieder ausscheiden und Waldbewohner werden. Als solcher kann er
durch asketische Uebungen die Wunderkraft eines Magiers, die Zauber macht
über Götter und Menschen gewinnen und endet so als ein vergotteter Ueber-
mensch”. Auch diese, heute wesentlich theoretische, Kastenpflicht ist ein Rudi-
ment der Altersklassenorganisation der Magier.
Was wenigstens der vornehme Brahmane in aller Regel nicht wurde, war: fester
Angestellter einer Gemeinde. Eine Gemeinde” kennt ja die hinduistische Religi-
on als solche nicht. Aber auch als angestellter Priester einer Hindu - Sekte oder
vollends als Priester eines Dorfverbandes kommen Brahmanen hoher Kaste nicht
vor
1
). Wir werden später sehen , daß sich das Verhältnis zwischen den Gläubigen
der Hindusekten und den Priestern oder Mystagogen in ganz anderer Form regelte
und regelt als in der einer occidentalen Sektengemeinde mit ihren angestellten
ministri”. Kein Brahmane hoher Kaste ist oder war gern Diener” einer Gemein-
de nach Art eines Çudra. Schon die Annahme einer Tempelpriesterstelle konnte
ihn unter Umständen stark degradieren. Dies hängt teils mit der sozialen Eigenart
des Brahmanentums als einer Zaubererkaste, teils mit der feudalen Struktur der
indischen Gesellschaft zusammen, teils aber mit der Stellung, welche die Priester
bei den Stämmen und in den Dorfgemeinden vor ihrer Hinduisierung einnahmen.
Die mit der Wahrnehmung der Kultfunktionen betrauten Personen gehörten im
allgemeinen einfach zum erblichen establishmentdes Dorfes, - wie der Mullah
und allerhand andre Tempeldiener noch heute
2
). Die einzelnen Pariastämme, welche
allmählich zu Hindukasten wurden,
1
) Vischnu-Priestertum von Brahmanen und Dienst, auch niederer Dienst, an Tempeln (z. B.
in den gutbezahlten Stellen der Vallabhakhari - Sekte) kommt oft vor (z. B. bei den Gu-
jarat -Yajurvedis), aber nie ohne eine gewisse Degradation.
2
) S. o. Anm. 31.
64
Hinduismus und Buddhismus. [64]
hätten nicht nur massenhafte eigne Gottheiten, sondern auch eigne Priester, die
nun zu Kastengottheiten und Kastenpriestern wurden. Mit großer Hartnäckigkeit
haben auch Handwerkerkasten, welche mit andren vermischt wohnten, daran
festgehalten, unter Ablehnung der Brahmanen sich nur durch Mitglieder ihrer Ka-
ste bedienen zu lassen
1
). Bei Stammeskasten, die in gesonderten Dörfern wohn-
ten, , war die Festhaltung ihrer überlieferten Priester vollends die Regel. Die
Brahmanen gewannen Einflauf sie wesentlich durch die Macht ihrer Bildung
und zwar speziell ihrer astrologischen Bildung, mit welcher die Dorf- oder Ka-
stenpriester nicht konkurrieren konnten. Diese waren den Brahmanen selbstver-
ständlich gänzlich degradierte Kasten, sofern sie ihre Existenz überhaupt hinnah-
men, - welche bei allen unreinen Kasten ihnen freilich selbstverständlich, bei den
reinen dagegen anstößig war. Stammespriester, welche die Herrengeschlechter
bedienten, setzten andrerseits gelegentlich, wie wir sahen, ihre Anerkennung als
Brahmanen durch, wenn auch meist als sozial degradierte Brahmanen. Die sehr
starke soziale Differenzierung, welche dadurch und durch die Deklassierung sol-
cher Brahmanen, welche verachtete Kasten bedienten, in die Brahmanenkaste hi-
neingetragen ist, hier zu verfolgen hat r uns keinen Zweck
2
). Ebenso nicht der
Kastenrang der zahlreichen zu andern Berufen übergegangenen Brahmanen, heute
der Mehrzahl aller. Für uns war nur die enge Verknüpftheit der Sonderstellung
der Brahmanen mit ihrer Beziehung zu den Königen und der Ritterkaste, den
K s c h a t r i y a , von Interesse. Dieser Kaste wenden wir uns nun zu.
Der alte indische Heerkönig der Veden ist primus inter pares unter den Magha-
van”, die etwa den Edlen” der Phäaken entsprachen. In der klassischen Zeit
steht an Stelle dieser Geschlechter die Kaste der Kschatriya”, die später, der Sa-
che nach, verschwunden ist.
Am frühesten, durch die ältesten Quellen rftig beleuchteten Anfang der indi-
schen Militärverfassung stehen Burgenkönige homerischer Art mit ihren Sippen
und Gefolgschaften (Königsleuten). Das universell verbreitet gewesene charisma-
tische Heldentum nach Art der nördischen Berserker, der israelitischen Moschu-
ahs, der charismatischen Degen”, charismatischer Kriegshäuptlinge, liegt aber
schon damals zurück. Es ist nur in Spuren bis in die epische
1
) Statt der zahlreichen Beispiele, welche die Census Reports noch für die Gegenwart ent-
halten, sei auf die Kammalars verwiesen, die gelernten Metall-, Holz- und Steinhandwer-
ker, welche von dem Handwerksgott Visvakarma abzustammen beanspruchen, sich, ge-
rufen von den Königen, weithin nach Birma, Ceylon, Java cerbreiteten und den Rang vor
den Priestern, auch den zugewanderten Brahmanen; beanspruchten. Sie vwrden, offenbar
als Träger magischer Kunst, auch von andern Kasten als guru's, geistliche Seelenleiter, in
Anspruch genommen: “der Kammalar ist der Guru aller Welt”. (Pulney Andy; Journal of
Indian Art and Industry, zitiert bei Coomaraswamy, The Indian crattsman p. 55. S. dar-
über weiter unten.)
2
) Die Census Reports geben darüber zum Teil sehr ausführliche Auskunft.
65
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
I. Das hinduistische soziale System. [65]
Zeit erhalten. Vollends die alte universell verbreitete Organisation der Krieger-
schaften als Verbrüderungen der Jungmannschaft, die systematische magische
Heldenaskese der Knaben, die Stufen des Kriegernoviziats, der Aufnahme des
Epheben in die Phratrie der ehelos in gemeinsamer Wirtschaft mit geraubten
Mädchen im Männerhause (ανδρειον) lebenden Kriegerschaft, der Rücktritt des
ausgedienten (“Landwehr-) Mannes in die Ehe und den Hausstand, das Altenteil
(in Japan: inkyo) des nicht mehr Dienstfähigen sind verschollen. Zwar ist in der
starken Bedeutung der Upanayana - Zeremonien (der älten Jünglingsweihe): daß
erst von ihrem Vollzug an der Knabe der wiedergeborenen” Kasten als zu sei-
nem Stande gehörig gilt, vorher aber als Çudra (wie das Weib), die alte charisma-
tische Kriegererprobung und der Grundsatz, daß, wer nicht in den Wehrverband
kommt, “Weib”, politisch rechtlos, bleibt, in Spuren erhalten. Aber die Zeremonie
selbst, in sehr jugendlichem Alter vollzogen, war Rudiment, etwa wie unsre
Konfirmation”.
Die Kschatriya der klassischen Literatur hatten nicht den besonderen Charakter
der Ritterschaft unsres Mittelalters. Denn auf Sippen und Clan -Charisma, nicht
auf einer Lehenshierarchie, beruhte ihre soziale Stellung schon ehe die strenge
Kastenordnung durchgeführt war, und dabei blieb es. Sie waren und blieben Kö-
nige, Unterkönige und, in unterster Schicht, adlige Dorfhonoratioren mit bestimm-
ten ökonomischen Vorrechten.
Dem Kschatriya liegt nach den klassischen Quellen ob: die Bevölkerung politisch
und militärisch zu schützen”. Schützt der König die Untertanen nicht vor Dieben
und Räubern, so gilt er als ersatzpflichtig. Nach den Urkunden war auch jedem
Beamten, auch dem Steuerpächter, der späteren Königreiche die gleiche Schutz-
und eventuelle Ersatzpflicht für einen bestimmten, je nach Größe des Orts ver-
schieden bemessenen Rayon um diesen herum als Grundpflicht auferlegt. Tnso-
weit also starnmt diese Kastenpflicht aus dem Leben. Ja sie enthält - wie einige
weitere ge beweisen - sogar die Rudimente ältester Auffassung über die cha-
rismatische Stellung des Königtums. Der König, der im Krieg unterliegt, ist nicht
nur selbst sündig, sondern außerdem belastet mit den Sünden seiner Untertanen.
Der König, welcher falsch Recht spricht, wird magisch mit den Sünden der von
ihm absichtlich oder versehentlich in ihrem Recht gekränkten Partei belastet: eine
sehr verschärfte Analogie jener Auffassung, welche der Urteilsschelte” bei uns
zugrunde lag. Der König ist ein guter König, dessen Untertanen es gut geht und
unter dem keine Hungersnot eintritt: - stets ein Zeichen magischer Verfehlungen
oder charismatischer Unzulänglichkeit des Herrschers. Der König tut gegebenen-
falls Buße. Den König, der seines Charisma auf solche Art sich dauernd entblößt
zeigt, darf und soll man sich vom Halse schaffen. Aus dieser charismatischen
Auffassung entwickelte sich dann in den Großkönigstümern des indischen Mittel-
alters leicht die patriarchale Wohlfahrts”- und Schutz”- Theorie. Aber sie trat
doch ganz zurück hinter der Umgestaltung
66
Hinduismus und Buddhismus. [66]
des Helden - Charisma in eine ritterliche ständische Berufspflicht”. Das Dharma
des Kschatriya ist in den Quellen der klassischen Zeit und des Mittelalters: der
Krieg schlechthin, der in Indien mit Unterbrechungen durch die Universalmonar-
chien ebenso in Fermanenz war, wie zwischen den antiken Poleis. Erst wenn der
König alle andern Könige unterworfen hatte, war er zu der Zeremonie des großen
Roßopfers legitimiert, welches dem glücklichen Brahmanen, der es zu zelebrieren
hatte, 100 000 Rinder einbrachte und im übrigen der Schließung des Janustempels
in Rom auch der Häufigkeit nach entsprach
1
). Daß ein König jemals nicht darauf
sinnen sollte, alle seine Nachbarn mit Gewalt oder Tücke zu unterwerfen, wird
von der hinduistischen profanen und religiösen Literatur gar nicht als möglich in
Betracht gezogen
2
). Demgemäß galt der Tod im Bett dem militaristischen Ehr en-
kodex des Kschatriya nicht nur als minderwertig, sondern geradezu als Sünde ge-
gen das Kasten - Dharma. Wenn der Kschatriya seine Kraft abnehmen hlt, soll
er den Tod im Kampfe suchen.
Die Legende läßt die alten Kschatriya zur Rache ihrer Aufsässigkeit gegen die
Brahmanen vom Erdboden vertilgt werden. Daran ist sicherlich, ebenso wie an
der Legende vom Kampf Viçvamithras gegen Vasischtha, ein Korn von Wahrheit.
Die alten Kschatriya etwa der Buddha - Zeit (6. Jahrh. vor Chr.) waren ein hoch-
gebildeter Stand von Stadt- und Burgadelsgeschlechtern, darin der Ritterschaft
des provençalischen frühen Mittelalters vergleichbar. Sie sind später ersetzt durch
die Radschputen. Diese, aus Teilen des heutigen Radschputana und des südlichen
Oudh stammend, etwa seit dem 8. Jahrhundert zur Herrenstellung aufsteigend und
sich als typische Kriegerschicht in den Königtümern weiter verbreitend, waren
und sind auch heute stark illiterat. Sie bildeten bereits den Uebergang zu den spä-
ter zahlreichen zuerst als Soldritter oder einfach als Reisläufer in die Dienste der
Großkönige
3
) getretenen Stämme. Immerhin blieben sie von diesen weitaus der
vornehmste und sind auch am vollständigsten nach Art der Kschatriya hinduisiert
worden. Die alten Kschatriyageschlechter wetteiferten an Bildung mit den Brah-
manen und waren, wie wir sehen werden, Träger brahmanen- feindlicher Erlö-
sungsreligionen (so des Buddhismus). Die Radschputen dagegen hatten sich der
Ueberlegenheit der Brahmanenbildung zu gen und gehörten, in Gemeinschaft
mit dem Patrimonial - Königtum, zu den Trägern der hinduistischen Restauration.
Die nur ihnen eigene, im Grunde unklassische Teilung in exogame Unterabteilun-
gen zeigt ihre Herkunft aus einem Soldritterstamm. Kein Stammbaum reicht über
das 5. Jahrhundert zurück und
9
/
10
aller sind in Nordindien, speziell im Nordwe-
sten, ansässig.
1
) Die Zelebrierung ist historisch überliefert.
2
) Als der Schöpfer des Mahrattenreichs ein Jahr keinen Krieg führte, galt dies den Nach-
barherrschern als sicheres Zeichen tödlicher Erkrankung.
3
) S t a d t sässige Radschputen kommen inschriftlich im 10. Jahrh. vor. Ep. Ind III. 169.
67
I. Das hinduistische soziale System. [67]
Das in Radschputana bis in die Neuzeit herrschend gewesene politische Lehensy-
stem entsprach am meisten den Quellen der klassischen Zeit. Der Radscha hatte
das beste Land als Domäne (persisch : Khalsa). Die mit politischen Hoheitsrech-
ten beliehenen Vasallen erhielten ebenfalls Land zugewiesen, hatten Ritterdienste
zu leisten, bei Hof zu erscheinen, Investitur zu nehmen, den Herrenfall zu zahlen.
Der Radscha hatte 1. das Recht der Ernte - Anteilsbesteuerung und 2. die Verfü-
gung über das Oedland, auf dem er, gegen Beil - Taxe, Holzungsrechte und, ge-
gen Uebernahme von Pauschalrenten, Rodungsrechte und erblichen Besitz kon-
zessionierte, 3. die Minen-, Schatzfund und ähnliche auch sonst üblichen Regale,
4. das Recht auf die Bußen bei Strafen. Alle diese ökonomischen Rechte waren,
auch in Bruchteilen, lehnbar. Nur pflegte, in Indien wenigstens, bei der Herren-
schicht die Verleihung, entsprechend der Universalität des Prinzips des Gentil-
charisma, mindestens primär nur an den Versippten oder den Clangenossen zu er-
folgen, nicht aber auf persönlichem Treuverhältnis Sippenfremder zu ruhen. Und
sie enthielt in älterer Zeit durchweg nicht eine Verleihung grundherrlicher, son-
dern ökonomischer und persönlicher Rechte politischen Ursprungs. Die Kscha-
triya waren Königssippen, nicht feudale Grundherren. In den dravidischen Staaten
hatte der König in jedem Dorf eine Königshufe (majha), neben der die steuerfreie
Priesterstufe (pahoor) stand. Neben und an Stelle des alten Dorfhäuptlings (mun-
da) setzte mit steigender Königsmacht der König seinen mahta”. Die charisma-
tisch bevorrechtigten (bhuinhar-) Familien, welche diese Dorfhäupter stellten, hat-
ten steuerfreies Land, während die anderen Landlose (khunt) steuerbar geworden
waren und nun als des Königs Land” galten
1
). Dies ist von den Eroberern im
wesentlichen übernommen, aber meist feudalisiert worden. Denn auch echt feuda-
le soziale Strukturelemente finden sich im Mittelalter in den meisten Teilen Indi-
ens, am meisten aber im Westen, oft ganz in occidentaler Art. Die Radscha'shr-
ten Wappen
2
). Lehen mit der Zeremonie des Schwertschlages kommen vor
3
). Ei-
gentlich grundherrliche Rechte in den Dörfern kannten aber die Rechtsbücher
nicht. Diese sind als Produkte nicht der Feudalisierung, sondern der späteren Prä-
bendalisierung der politischen Gewalt entstanden.
Unter den Großkönigen waren die hohen militärischen Kommandostellen vielfach
mit Gebietslehen verknüpft, welche Quelle erblicher ökonomischer Rechte wur-
den
4
). Ebenso hohe Amtsstellen
5
), Unter den großen politischen Lehensträgern
überwiegt auch damals
1
) S. über die Dravidas: Hewitt. J. R. A. S. 1890 (April).
2
) Darüber s. Ep. Ind. VIII p. 229.
3
) Ep. Ind. VI 53, (10. Jahrh.) : Der indische Name wird so interpretiert.
4
) Ep. Ind VI p. 47 (10. Jahrh.): Nach dem Tod eines Vasallen in der Schlacht wird dessen
Stellung als Führer der betreffenden Truppe anderweit vergeben. Der Beliehene erhält
einige Dörfer als ein Lehen von unkultiviertem Oedland, d. h. erblich.
5
) Ep. Ind. VI, 361
68
Hinduismus und Buddhismus. [68]
die Deszendenz oder Verwandtschaft
1
) des Königs. Aber nicht ausschließlich
2
):
Die Herrschaftsrechte, des rsten wie des Vasallen, galten ziemlich weitgehend
als veräußerlich
3
). Fortwährende Fehde herrschte in großen Teilen Indiens. Ty-
pisch sind namentlich im Süden die Epitaphien von Dörfern für Ritter, die im
Kampf gegen fremde Viehräuber gefallen sind und dafür in den Himmel einge-
hen
4
).
Fragt man , welche Art von Abkunft heute r diejenigen Bestandteile der
Radschputenkaste, welche am meisten als Repräsentanten älterer Traditioneri gel-
ten können, charakteristisch ist, so kann nur gesagt werden: von Inhabern politi-
scher Macht, einerlei ob Kleinfürsten oder politischen Lehensrittern oder Dienst -
Adel oder Grundherrn mit politischen Rechten und Pflichten. Nur mit dem Vor-
behalt, daß dieser Adel jedenfalls kein reiner Amts - (Schreiber) Adel war, son-
dern ein Stand militärisch - politischer Lehensinhaber eines ziemlich verschiede-
nen Typus, einschlilich namentlich auch der bald zu besprechenden Mili-
tärpfründner. Die Wandlungen der indischen Verfassung und Verwaltung, na-
mentlich der Militärverfassung, sprechen sich darin aus.
Das Heer der Epen sowohl als der ältesten historischen Berichte (Megasthenes
und Arrian) befindet sich in einem ähnlichen, aber schon weiter vorgeschrittenen
Uebergangszustand, wie das homerische Heer. Helden (curah) mit ihrer Gefolg-
schaft (arugah) sind die Vorfechter, Zweikämpfe nichts Seltenes. Die hrer der
Heeresabteilungen sind keine Strategenoder Offiziere”, sondern durch Hel-
dencharisma qualifizierte besonders gute Soldaten. Die Schlacht wird zwar durch
eine Aufstellung des Heeres vorbereitet, verläuft aber dann ordnungslos, indem
die Helden dahin stürmen, wo sie den persönlich würdigsten Gegner sehen. Der
Tod des Führers bedeutet im Epos noch selbstverständlich die Niederlage des
Heeres. Neben den Gefolgschaften finden sich aber nicht nur diejenigen Krieger,
welche sich nicht selbst mit Waffen und Wagen equipieren können, als Ministe-
rialen des Königs und der Adligen, sondern Soldkrieger, welche im Frieden ihren
Lohn vom Fürsten erhalten und sich daran gütlich tun und für deren Witwen,
wenn sie fallen, der König sorgt. Nach Arrian stellten die Krieger, welche dem
Adel und den Priestern nachgeordnet, von den Bauern aber geschieden waren, ih-
re Waffen selbst her. Neben die Gliederung nach Phratrien, wie sie Homer kennt,
war
1
) Verleihung von Ibadörfern an den Schwiegersohn des Königs, unter gleichzeitiger Zu-
sammenfassung zu einem politischen Sonderbezirk: Ep. Ind. IV. p. 185 (Tamil - Gebiet,
11. Jahrh.).
2
) Wenigstens ist anzunehmen, daß die massenhafte Landvergebung an Vasallen, die nach
Vernichtung des Chola - Reichs in einer aus dem Kriegslager des Siegers datierten Ur-
kunde König Krischna's (10. Jahrh.) als geschehen erwähnt wird, nicht nur an Verwandte
ging (Ep. Ind. IV p. 290).
3
) Teile der Herrschaft eines Fürsten als Mitgift: Ep. Ind. IV p. 350. Verkauf eines Dorfes
mit Einschl der Herrenrechte (?) durch einen Vasallen an einen anderen: Ep. Ind. III p.
307 f. (11. Jahrh.).
4
) Z. B. Ep. Ind. IV p. 18o, V p. 264.
69
I. Das hinduistische soziale System. [69]
damals schon die in rein taktische Abteilungen von 10, 100, 1000 getreten; Ele-
fanten und Wagen stehen zur Kavallerie und Infanterie in typischem Zahlenver-
hältnis. Das Heer wurde dann bald eine von Offizieren befehligte und aus königli-
chen Magazinen verpflegte und zunehmend auch equipierte, Armee”. Es enthielt
keine Spur eines Heerbanns und kein Ritteraufgebot mehr in sich.
Die Verwaltung des Königs wurde patrimonialbürokratisch. Das heißt: sie zeigte
ge einerseits der reglementierten hierarchischen Ordnung des Beamtentums mit
geordneten örtlichen und sachlichen Kompetenzen und Instanzenzug. Andrerseits
aber war die Trennung von den Hofämtern nicht vollzogen, waren die Kompeten-
zen der in verwirrender lle auftretenden
1
) Beamten offenbar nicht selten flüssig
oder unbestimmt oder nicht rational, sondern durch zufällige Umstände abge-
grenzt. Ein umfangreiches Schreibwesen hat sich, auf dem Boden der Magazin-
und Steuerwirtschaft, schon unter der ersten Großkönigsdynastie, derjenigen der
Maurya (4./3. Jahrh. vor Christus) entwickelt, wie die Inschriften zeigen
2
). Die
unglaubliche Schreibseligkeit der Verwaltung des buddhistischen Großkönigs
Açoka ist in ihrer Grenzenlosigkeit aus seinen massenhaften Edikten gegend
bekannt
3
). Die Bezirke des Staatsgebiets blieben aber, wie in patrimonialbürokra-
tischen Gebilden meist, möglichst an Verwandte als Statthalter verliehen. Das
Arthasastra (Staatswissenschaft”) des Kautaliya, in Chanaukya's Redaktion
4
),
angeblich von einem Minister des Maury - Großkönigs Chandragupta, ergänzt
dieses Bild, Eine umfassende Statistik soll der Verwaltung zugrunde liegen. Alle
Einwohner sollen nach Kasten, Sippen, Beruf, Besitz, Einkommen registriert, dem
Paßzwang unterworfen und in ihrer ganzen Lebensführung kontrolliert sein.
Nächst politischen Umtrieben gilt dabei die Gefährdung ihrer Arbeitslust” als
das fiskalisch gefährlichste Uebel; darum sollen auf dem Lande Theater und Mu-
sikbanden, überall aber Alkoholhandel und Wirtshäuser beschränkt sein und
durch ihre Spione” soll die königliche Verwaltung in das intimste Privatleben
der Untertanen eindringen. Der König treibt Eigenhandel
5
) und seine Verwaltung
reguliert die Preise, vermittelst des Marktzwangs, der hier, entgegen den Zustän-
den, welche die Jataka's voraussetzen, als Bestandteil einer grköniglichen Fis-
kalpolitik auftritt. Alle nur denkbaren Steuerquellen sind herange-
1
) Darüber s. Rose im Ind. Ant. 36 (1907).
2
) Bühler im Ind. Ant. XXV (1896) p. 261 f.
3
) Es ist von der einen Seite (V. A. Smith, oka, Oxford 1901 und namentlich Bühler, Ind.
Ant. 26 S. 334) behauptet, von andern (S. Levy) bestritten, daß die Schreiber” unter
Açoka erstmalig als beglaubigende Ausfertigungsbeamte für nigliche Edikte vorkom-
men.
4
) Die hier in Betracht kommenden Partien sind übersetzt von R. Shamasastry im Ind.
Ant. 34 (1905).
5
) Ein Handelsmonopol des Radscha blieb bestehen für Safran in Kaschmir, Edelsteine in
Südindien, Pferde im Westen, Waffen und feine Gewerbe im Osten, Elefanten in ganz In-
dien.
70
Hinduismus und Buddhismus. [70]
zogen, von der Abgabe der Kurtisanen an, welche der König r die Bedürfnisse
der zureisenden Kaufleute hält, bis zu den Geldbußen der rger, die er, nach
dem Rat des Verfassers, durch Agents provocateurs dazu verleiten soll, sich
strafbar zu machen. Die Interessen der Verwaltung beschränkten sich er sichtlich
- soweit hinduistische und nicht buddhistische oder andere frommen Sektenköni-
ge in Betracht kommen - im wesentlichen auf zweierlei: die Gestellung der nöti-
gen Mannschaften zum Heer und die Einbringung der Steuern. Beides suchte sich
die Verwaltung je länger je mehr, am meisten unter den Moghuls, durch Pauscha-
lierung und Verpfründung zu sichern. Militärpfründen wurden in der Art verliehen
, daß der Pfründenempfänger die Gestellung eines bestimmten Kontingents über-
nahm und dafür mit den entsprechenden Eingängen r Sold, Rationen und sonsti-
ge Gebührnisse beliehen wurde. Die Einrichtung gab weiter Anlaß zur Entstehung
der jagir -Pfründen, welche in der Form offenbar den alten Tempel- und Brahma-
nen -Pfnden nachgebildet waren. Der Jagirdar entwickelte sich, namentlich
wenn er mit dem Recht der Verfügung über Oedland beliehen war, leicht zum
Grundherrn
1
), obwohl der Ursprung seiner Rechte rein politisch -militärischen
Charakters war. Die eigentlichen Beamten lebten noch um etwa 1000 nach Chr.
wesentlich aus den königlichen Magazinen
2
) und das Eindringen der Geldwirt-
schaft in den Staatshaushalt vollzog sich stoßweise und, wie in Vorderasien, unter
Mithilfe des Privatkapitals. Die Steuern sicherte sich der König durch Verpach-
tung oder Verleihung als Pfründe gegen feste Pauschalabgaben an die Staatskas-
se. Aus den Steuerpächtern entwickelte sich die Klasse der Zamindari (Bengalen)
und Talukdari (namentlich im Oudh) genannten Grundherren. Zu Grundherren im
eigentlichen Sinn des Wortes wurden auch sie erst dadurch, daß die englische
Verwaltung sie bei der Steuerveranlagung als haftbar r die Steuersumme u n d
d e s h a l b als “Eigentümer” behandelte. Der Herkunft nach sind auch ihre
Rechte - wenn man die Liste dessen, was ihnen unter der Moghul - Herrschaft zu-
stand, überblickt - hergeleitet aus der Gepflogenheit namentlich der Moghul -
Verwaltung, die Garanten der militärischen und finanziellen Leistungen der Be-
zirke zugleich als verantwortlich r die sonstige Verwaltung (einschließlich der
Rechtspflege), deren Kosten sie vorab zu bestreiten hatten, zu behandeln. Sowohl
die Steuerpacht, wie die Vergebung der Gestellung von Truppenkörpern an Un-
ternehmer, denen dann die Finanzierung weitgehend anheimgestellt werden muß-
te, kannte auch der occidentale Staat der beginnenden Neuzeit. Nur blieb in den
indischen Großkönigtümern die Entwicklung jener Kontrollorgane aus, durch
welche die occidentale r- stenmacht die Militär- und Finanzverwaltung allmäh-
lich wieder in die eigene Hand zurücknahm. Nur die Mahratten haben die staatli-
che Eigenwirtschaft grundsätzlich wieder
1
) Eigentliche Militärlehen gab es nach Art der römischen Militärgrenzlehen: die “ghahta-
la”.
2
) Rose, Ind. Ant. 36 (1907).
71
I. Das hinduistische soziale System. [71]
durchgeführt und sind gerade dadurch den Moghulreichen verwaltungstechnisch
überlegen gewesen. Sie waren eben eine - mindestens dem Wollen nach - natio-
nale Dynastie, während die Fremdherrschaft weit stärker auf die Benutzung von
Mittelsmännern angewiesen blieb. Die Mahratten benutzten daher die Brahma-
nenkaste r alle Verwaltungszwecke, einschließlich der militärischen, während
überall sonst die niederen Schreiberkasten den Brahmanen Konkurrenz machten.
Besonders der Islam benutzte in der Verwaltung die Schreiber kasten im Gegen-
satz zu den Brahmanen.
Dieser Gang der indischen Verwaltungsgeschichte nun hrte zur Entwicklung
massenhafter Pfründen sehr verschiedenen Gepräges, vor allem aber dazu, daß
aus den Steuerpächtern und Militärpfndnern, welche die Kosten der Verwaltung
ihrer Bezirke, die Garantie für alle militärischen und finanziellen Leistungen zu
übernehmen und, wenn sie nur dies taten, fast keine Kontrolle und Einmischung
zu gewär tigen hatten, eine Schicht von Grundherren erwuchs, deren Hintersassen
faktisch so gut wie gänzlich “mediatisiert” waren.
Es ist der indischen Entwicklung eigentümlich, daß unter Umständen eine ganze
Serie von Renten, schichtweise übereinander, auf die Steuerpflicht der Bauern
gegründet und aus den Bodenererträgen zu zahlen waren. Ueber dem eigentlichen
Bauer”, d. h. dem effektiven Bebauer des Landes, konnte zunächst ein oder, der
Regel nach, eine Gemeinschaft von Landrentnern stehen, welche als Eigentümer
des Bodens galten und nach oben r die Steuersumme desselben hafteten. Zwi-
schen diesen und der Staatsgewalt aber stand meist wiederum ein Mittelsmann,
der Zamindar oder Talukdar, der entweder nur Rentenanteile (im Nordosten oft
10 % des Steuerpauschale
1
) oder weitergehende, eigentlich grundherrliche, Rech-
te zu beanspruchen hatte. Zuweilen blieb es aber nicht bei diesem einen Mittel-
mann, sondern außer dem alten Steuerpächter fand sich noch ein mit Rentenrech-
ten durch birt” beliehener oder ein Grundherr, dessen Rechte sich daraus herlei-
teten, daß er das Dorf gegen Uebernahme der Pflicht zur Zahlung der Steuer -
Rückstände gekauft” hatte. Dazu konnten schließlich die eventuellen Rentenan-
sprüche des erblichen Dorfvorstehers treten, die ihm eine Art grundherrlichen
Charakter verliehen. Die Mahratten - Herrschaft hrte seit Anfang des 18. Jahr-
hunderts diese Quoten - Repartierung der Steuereinkünfte an die einzelnen dem
Fiskus, der den Rest behielt, vorangehenden Pfründner systematisch durch und
war dabei - ähnlich der Lehenpolitik der Normannen - dafür besorgt: daß mög-
lichst kein Pfründner seine Einkünfte aus nur seinem Amtssprengel, sondern jeder
mindestens zum Tei1 aus fremden Sprengeln bezog.
Der eigentümliche Charakter der sozialen Schichten, welche auf dieser ökonomi-
schen Unterlage ruhten, wurde durch die Her-
1
) Herrührnend aus der Kontingentierung des Gewinnstes dieser Kategörie von Steuerpäch-
tern auf 10 % des Steueraufkommens, wie sie sich ähnlich auch im vorderasiatischen
Orient findet.
72
Hinduismus und Buddhismus. [72]
kunft und Eigenart dieser letztern bestimmt. Die occidentale Seigneurie entwik-
kelte sich, wie die orientalisch - indische, durch Zersetzung der patrimonialstaat-
lichen Zentralgewalt, dort des Karolingerreichs, hier der Khalifen-
1
) oder Maha-
radscha- und Großmoghul - Macht. Aber im Karolingerreich vollzog sich die
Entwicklung auf der Basis stark vorwiegender Naturalwirtschaft und unter Benut-
zung der letztlich an das Gefolgschaftswesen anknüpfenden Vasallentreue zur
Verknüpfung der zwischen König und Gemeinfreie tretenden Herrenschicht mit
dem ersteren. Feudalverhältnisse fanden sich, sahen wir, auch in Indien. Aber sie
waren dort weder das für die Adels- noch das r die Grundherrschafts - Bindung
schließlich Ausschlaggebende. Im Orient überhaupt und so auch in Indien ent-
wickelte sich vielmehr die dort typische Seigneurie aus der Steuerpacht und aus
der Militär- und Steuerpfnde eines wesentlich stärker bürokratischen Staatswe-
sens. Deshalb blieb sie dem Wesen nach Pfründe” und wurde nicht Lehen”:
nicht eine Feudalisierung, sondern eine Präbendalisierung des Patrimonialstaats
vollzog sich, die ihre occidentalen Analogien - wenn auch solche von unentwik-
kelter Art, - nicht im mittelalterlichen Lehen, sondern im Aemterkauf
2
) und den
Präbenden etwa des päpstlichen Seicento oder der französischen Nöblesse de
Robe findet. Neben dem Unterschied der historischen Stufe, aus welcher heraus
hier und dort die Entwicklung erfolgte, ist dabei auch der rein militärische Um-
stand wichtig gewesen, daß die Reiterei in der Zeit des Feudalismus in Europa
schlechthin die technisch höchststehende Waffe war, in Indien dagegen trotz er-
heblicher Zahl an militärischer Bedeutung und Leistungsfähigkeit relativ weit zu-
ckstand, zu Alexanders Zeit ebenso wie in den Moghul - Heeren.
Die Kanzleiformalien des Großmoghul - Staates, soweit sie bekannt sind, nähern
sich den aus der türkischen und deren Vorbildern: der Khalifen- und der Sassani-
den - Verwaltung, bekannten Typen. Nur drang das Schreibwesen, und zwar
schon in der Zeit vor der Fremdherrschaft; infolge der außerordentlichen Rationa-
lisierung des Steuerwesens, noch intensiver bis auf den Boden des politischen
Verbandes durch: der Dorfschreiber , welcher überall neben dem Dorfvorsteher
stand, war die unterste, aber sehr wichtige, Instanz dieser Schreiber - Bürokratie,
deren massenhafte Pfnden zwischen Brahmanen und andern, sowohl vorneh-
men, wie Parvenu - Kasten streitig waren. Die Mahratten - Herrschaft kannte
wohl am konsequentesten den DuaIismus des Deschmukh (Bezirksbeamten) und
Patel (Dorfschulzen), die beide Mahratten, und des Deschpandya unt Kulkurnu
(Dorfrechner ), die daneben standen und meist Brahmanen waren.
Auch der unklare Inhalt des Kschatriya - Begriffs: - Klein-
1
) Für den Islam zu vergleichen : C. H. Beckers späterhin zu zitierende Arbeiten.
2
) Auch die indischen Radscha's verkauften Steuer- und andere politische Pfründen aller Art
gelegentlich.
73
I. Das hinduistische soziale System. [73]
königsfamilien oder Rittertum ? - erklärt sich aus der zwischen Zersplitterung in
zahllase Kleinkönigsmer - ursprünglich einfach: Häuptlingschaften - und Zu-
sammenfassung in patrimonial verwalteten Reichen schwankenden politischen
Gliederung Indiens. Schon die epische Zeit kennt, sahen wir, einerseits den Hel-
denkampf, andrerseits die Anfänge der Disziplin eines nicht mehr sich selbst
equipierenden, sondern aus königlichen Magazinen equipierten und verpflegten
Heeres, wie es zur Zeit der Invasion Alexanders bestand. Der Dualismus von
Selbstequipierung und Trennung der Kriegsbetriebsmittel von Krieger, welcher
die größten historischen Gegensätze der Heeresverfassung umschlit, bestand
auch später weiter und ist auch unter der Moghul - Herrschaft nicht verschwun-
den: Stets wurde der sich selbst ausrüstende Ritter sozial anders gewertet als der,
welchem der König oder ein Werbeoffizier die Equipierung lieferte. Aber das
Reisläufertum aller möglichen halbbarbarischen Stämme und die Belehnung des
verdienten Soldritters mit Land- und Herrschaftsrechten müssen seit der Radsch-
putenzeit eine starke Flüssigkeit der ständischen Unterschiede erzeugt haben. Da-
zu trat nun das Schwanken der sozialen Struktur der politischen Verbände zwi-
schen feudaler Organisation und Patrimonialismus. Bei der ersteren verwendete
eben überall in der Welt der König die vornehmen alten weltlichen oder geistli-
chen Adelsgeschlechter, bei der letzteren Abkömmlinge niedern Standes als Trä-
ger der politischen Gewalt.
Wie groß der Einschlag alten Häuptlings- und Gefolgschaftjsadels in den heutigen
Radschputen” noch ist, kann niemand sagen
1
). Sicher nicht stark. Denn in den
patrimonialbürokratischen Epochen traten massenhafte aus den Steuerpächter-
und Amtspfründner - Schichten durch Landbeleihung zu Grundherren gewordene
Elemente nobilitiert in die Rangstellung des alten Adels ein, und auch die Reisläu-
fer und Söldner beanspruchten überaus oft nach einer Reihe von Generationen,
als Kschatriyazu gelten, wie dies noch heute eine Anzahl von halbhinduisierten
Stämmen und von Bauernkasten tun, die einst jene Reisläufer stellten und seit
dem Ende des Reisläufertums und der Befriedung Indiens friedlichem Erwerb
nachgehen müssen. Andere Stämme, welche in der Vergangenheit erobernd grö-
ßere Reiche geschaffen hatten, sind nach deren Zerfall und Unterwerfung durch
die englische Herrschaft definitiv in eine eigentümliche Mittellage zwischen
Stamm” und “Kaste” geraten.
Zu diesen gehört vor allem der an der nördlichen Westküste heimische Stamm der
Mahratten. Der Stammesname (maharatha = grer Krieger) kommt inschriftlich
schon vor unserer Zeitrechnung vor. Hiuen Tsang rühmt in seiner Reisebeschrei-
bung ihre ritterliche Kampfweise. Sie fochten jedoch schon damals in Reih und
Glied, wenn auch als Rest der Heldenekstase die Berauschung (der Krieger und
auch der Elefanten) vor der Schlacht häufig gewesen zu sein
1
) Zu vergleichen R. Hoernle im J. R. A, S. 1905 p. I ff.
74
Hinduismus und Buddhismus. [74]
scheint. Nachdem unter der Islam - Herrschaft ihre Burglehen und ihre Verwen-
dung als Soldritter fortbestanden hatten, haben sie in Auflehnung gegen die Herr-
schaft der Großmoghuls im 18. Jahrhundert die letzten auf national hinduistischer
Grundlage errichteten Staatenbildungen in Indien hervorgebracht. Der “Adel
(Assal), d. h. die ehemaligen Krieger, beanspruchten Kschatriya - Rang und eine
Mischung mit Radschputenfamilien hat offenbar stattgefunden. Das Ritual und die
Sippeneinteilung nach hinduistischer Art ist im wesentlichen bei ihnen durchge-
führt, gute (Deschaschth-) Brahmanen bedienen sie als Priester, aber den Stam-
mes - Ursprung verraten noch die Reste totemistischer (Devak-) Organisation.
Von ihnen sind die Bauern (Kunbi - Marhatten) ständisch abgesondert.
War schon der Adelsrang solcher ritterlicher Fremdstämme nicht unbestritten, so
sind vollends die Kschatriya - Ansprüche der einen Reisläufer - Stämme nie aner-
kannt worden. So kannte die ständische Ordnung der südindischen Tamils
1
) zu
Beginn unsrer Zeitrechnung, wo ihre Hinduisierung erst im Beginn stand, außer
den (eingewanderten) Brahmanen, welche allein als wiedergeborenbezeichnet
wurden (weil sie allein den heiligen Gürtel trugen), nächst den Tamil - Priestern
(Arivar's, Asketen) den grundherrlichen Adel der Ulavar's, den Herrn der Wäs-
ser” (von der Bewässerung), aus deren Mitte Könige und politische Vasallen her-
vorgingen, dann verschiedene Kasten von Viehzüchtern und Handwerkern und
erst als fünften Stand die Padaiachia, Soldaten, alle untereinander streng geschie-
den. Und auch die spätere brahmanische Klassifikation, welche die Händler über
die inzwischen stark verbauerten Vellalars (die alten Ulavars) stellte, rangierte
natürlich hier so wenig wie sonst die Berufssoldaten, welche in der Menage des
Königs standen, in die wiedergeborenen Kasten ein
2
).
Problematisch blieb die Stellung der Amtsträger nicht militärischer Herkunft. Die
reinen Steuerpächter, Zamindari, des Moghulreichs rekrutierten sich aus ver-
schiedenen Kasten und haben selbst keinen besonderen Kastenrang gewonnen.
Anders zum Teil die älteren Amtspfründner soweit in diese Stellungen Leute von
niederem Rang als Brahmanen oder Radschputen (oder gleichrangierende Kasten)
überhaupt gelangten. Dies war, je nach der Art der Ver-
1
) Darüber s. das vorzügliche Buch von V. K a n a k a s a b h a i , The Tamils 1800 years
ago, Madras 1904.
2
) Alte “Krieger” (in Wahrheit oft: Räuber und Viehdieb-) Stämme waren z. B die Khati, Besit-
zer fester Burgen, in Sindh, jetzt, nach der Austreibung, in Ahmadabad ansässig, heut teils
Grundherren (Talukdari), teils Bauern. Sie sind Sonnenverehrer, welche Brahmanen als
Priester haben und über eine Zentralorganisation verfügen. Die alten unvornehmen Reisläu-
ferstämme sind in ihrer Berufswahl relativ unstabil. Die “Khatrisin Bombay, ursprünglich
eine Kriegerkaste mit dem Anspruch auf Kschatriya - Rang und noch heut dem heiligen
Gürtel, sind jetzt Baumwollweber geworden. Der alte Räuber -Reisläuferstamm der Hale-
paika ebenda ist nach dem Fall der dravidischen Reiche zur Palmsaft - Destillation überge-
gangen.
75
I. Das hinduistische soziale System. [75]
waltung, in sehr verschiedenem Grade der Fall. Scharf bestritten blieb endlich und
ganz naturgemäß der Rangaufstieg der eigentlichen ganz unmilitärischen Schrei-
ber - rokratie der Großkönigtümer noch bis in die Gegenwart. Die patrimoniale
Herkunft des Beamtentums spricht sich in den Namem Amatya (ursprünglich:
Hausgenossen”) aus. Soviel ersichtlich, haben aber wenigstens national indische
Könige persönlich unfreie Beamte, nach vorderasiatischer Art, nicht verwendet
1
).
Nur der soziale Rang der Herkunftsklassen der Beamten hat gewechselt. Das alte
Monopol des Rittertums auf die Aemter wurde vom Patrimonialismus gebrochen.
Daß die Großkönige, schon die Maurya- und dann die Gupta - Dynastie (die erste
seit 4. Jahrh. vor Chr., die zweite seit 4. Jahrh. nach Chr.) das Land durch Beamte
aus den Çudra - Kasten regierten, wird in der brahmanischen Literatur mit dem
Anbruch der Kali - Epoche in Beziehung gesetzt, entsprach aber dem in der gan-
zen Welt gleichartigen Wesen des Patrimonialstaats und insbesondere des orien-
talischen Patriarchalismus. Sicherlich hatte die alte Kschatriyakaste als ihr spezi-
fisches Monopol die Beleihung mit politischer Gewalt angesehen. Aber sie hat es
nicht zu behaupten vermocht und eben dies hat ihre Zersetzung bewirkt. Der Pa-
trimonialstaat brauchte nicht nur Brahmanen, sondern auch schreibkundige Mit-
glieder anderer Kästen als Beamte. Er vergab seine Pfründen, also die Steuerer-
hebung, an bürgerliche Steuerpächter, die Heeresanwerbung an Condottieri, schuf
in Gestalt der Jagirdar, Talukdar, Zamindar Steuerpfründner aller Art, welche po-
litische Gewalt ausübten und band sich dabei an keinen Stand. Um so weniger,
als auch die Könige selbst recht oft glückliche Parvenus waren. Monarchen, die
sich selbst inschriftlich als Sprößlinge der Füße Brahmans (also als Çudra) be-
zeichneten, kommen vor. Nach der strengen Theorie nobilitierte ja selbst die Kö-
nigsAbstammung einen Çudra nicht : die Rajbansi - Kaste in Bengalen exkommu-
nizierte neuerdings ein Mitglied, weil es seine Tochter einem Mitglied der Koch -
Kaste, der Abkömmling eines Radscha war, zur Ehe gegeben hatte.
Allein in aller Regel wirkte das Schwergewicht der politischen Machtstellung
übermächtig. Mit den Radschputen und dem Militäradel überhaupt konkurriert
daher heute der unmilitärische Amtsadel um den Kastenrang. Vor allem die gro-
ßen Schreiberkasten. So die reine rokratenkaste der Kayasth's in Bengalen und
z. B. die halbbürokratische Militärpfründnerkaste der Prabhu's in Bombay, einer
an Zahl heut kleinen, nur dort vorkommenden, Schicht: einst einer Militärklasse,
welche mit der Führung der lokalen Verwaltung (Steuererhebung, Urkundenfüh-
rung und Militärverwaltung)
1
) Das Standesgefühl des freien Beamten drückt sich in Formeln aus, wie der: daß der Beamte
seine Stellung “nach freundlicher Verständigung mit dem König, seinem Herrn” innehabe
(so in der Inschrift Ep. Ind. V, 213 aus dem Reich der westlichen Chalukya-Dynastie: Zeit:
12 - 13. Jahrh.). - Das Gros des Beamtentums gehörte indessen zur Kategorie der “bhritya”,
welche Haremswächter ebenso wie arme ldner umfte.
76
Hinduismus und Buddhismus. [76]
schon seit der Guptaherrschaft beliehen war und später beliehen blieb. In Benga-
len gab es landsässige Radschputengeschlechter in nur ganz geringer Anzahl: nur
eine der bekannten Familien scheint zweifelsfrei dahin zu gehören; das Gebiet
war seit der Sena - Dynastie patrimonialbürokratisch organisiert. Die auch in an-
dern Gebieten als Schreiberkaste auftretenden Kayasth, welche im Vellala Chari-
ta (16. Jahrh.) noch als “reine Çudra galten, beanspruchen jetzt in Bengalen
Kschatriya von höherem Rang zu sein als die Radschputen.
Diese literarisch gebildeten Beamtenkasten sind heute beruflich durchaus anders
zusammengesetzt. als die Radschputen, welche einen besonders hohen Bruchteil
von Analphabeten aufweisen und vollends die anderen alten Soldatenkasten. Nur
äußerst wenig Radschputen sind in der modernen politischen und privatwirt-
schaftlichen bürokratischen Verwaltung vertreten, in welcher die Brabmanen und
die Schreiberkasten eine hervorragende Rolle spielten. Das gleiche gilt r An-
waltschaft, Presse und die gelernten Berufe
1
). Der Kastenrang der Kayasth ist
beständig und leidenschaftlich bestritten, namentlich von der alten bengalischen
Aerzte - Kaste der Baidya, welche den höheren Rang beanspruchen, weil sie au-
ßer der vollen Upanayam -Zeremonie auch im Besitz des Rechts seien, den Veda
selbst zu lesen. Die Kayasth ihrerseits werfen den Baidya vor, das Recht zum
Tragen des heiligen rtels sich erst vor etwa 100 Jahren unter Mithilfe besto-
chener Brahmanen erschlichen zu haben. Beide Teile dürften historisch im Rechte
sein. Wenn die Kayasth unzweifelhaft Çudra waren, so kann doch, trotz des ho-
hen Alters der Medizin als Fachwissenschaft in Indien, auch eine Aerzte -Kaste in
der früheren Vergangenheit höchstens, wie andre Kasten des alten Gildeverban-
des (Mahajan), Vaiçya - Rang gehabt haben. Heute beanspruchen die Baidya -
Kaste und die ihr entsprechenden Kasten anderer Gebiete vielfach höheren Rang
als die Radschputen, weil es bei diesen nicht unter a l l e n Umständen als de-
klassierend gelte, selbst die Hand an den Pflug zu legen. Ihre Rangansprüche
können die Baidya damit stützen: daß die Sena -Dynastie Bengalens aus ihrer Ka-
ste hervorging.
Alles in allem ist so die Eigenart derjenigen Kasten, welchen heute Kschatriya -
Rang, mehr oder minder unbestritten, zugebilligt
1
) In der Stadt Calcutta sind 30 % der Kayasth clerks; unter den Kommis, Anwälten, Aerzten,
Redakteuren, Ingenieuren streiten sich Brahmanen und Kayasths um die erste Stelle. In der
Provinz Bombay sind von den Radschputen und Mahratten: 74 bzw. 92 % in der Landwirt-
schaft, dagegen nur 2 bzw. 0,3 % in der politischen Verwaltung, 0,8 bzw. 0,02 %, in den
learned professions”, prozentual etwa ebensoviel wie von der verachteten Bauernkaste der
Kulis” in Gujarat. Von den Brahmanen und Prabhus sind dort 7 bzw. 27 % in der Verwal-
tung und 22 bzw 18 % in den learned professions(auch aus der Händlerkaste der Lohars
sind dort Verwaltung und gelernte Berufe mit 5,8 bzw. 27 % stark rekrutiert). Ein Radsch-
pute geht sehr selten, ein Mahratte fast niemals zum Erwerb als shopkeeper über: die Mah-
ratten - Kaste gilt noch heute als Beispiel träger feudaler Prachtliebe.
77
I. Das hinduistische soziale System. [77]
wird, höchst gemischt und trägt vor allem deutlich die Spuren der geschichtlichen
Wandlungen an sich, welche der Hinduismus in politischer Hinsicht seit dem
Aufkommen der Schreiberverwaltung durchgemacht hat. Noch problematischer
war und ist die Lage der dritten Kaste der klassischen Lehre: der V a i ç y a .
In der klassischen Lehre entspricht die Vaiçya - Kaste etwa unserm Stande der
Gemeinfreien”. Sie ist zunächst negativ, nach oben, dadurch charakterisiert, daß
sie der rituellen, sozialen und ökonomischen Vorrechte des Priester- und Laien -
Adels ermängelt. Nach unten, den Çudra gegenüber, dürfte ihr weitaus wichtig-
stes, wenn auch nie ausdrücklich erwähntes, Privileg die Anteilnahrne am Boden-
besitz gewesen sein, die dem Çudra offenbar verschlossen war. In den Veden
wird Viça” in der Bedeutung von Leuten”, Untertanen(des Herrschers) ge-
braucht. Der Vaiçya ist den klassischen Quellen in erster Linie “Bauer”. Aber
schon in den Rechtsbüchern gehört außerdem das Darlehen gegen Zins und der
Handel zu den r ihn statthaften Erwerbsarten. r die klassische Zeit ist bemer-
kenswert, daß ein starker sozialer Unterschied zwischen der Viehwartung und der
Führung des Pflugs gemacht wird. Jene, nicht aber diese, ist eine als Noterwerb
zulässige Berufsart für einen Brahmanen. Das entspricht sehr alten und weit ver-
breiteten Anschauungen. Fast überall war Viehwartung Männer-, die primitive
Ackerbestellung Frauen- oder Sklaven - Arbeit. Als Bauer” ist der Vaiçya später
und auch heute vollkommen verschollen, derart, daß jetzt und schon seit alter hi-
storischer Zeit als eigentliche Vaiçya-Tätigkeit der Handel, Vaiçya und Vanik”
(Händler) r identisch galten. Eine Kaste, die Vaiçya - Rang beansprucht, sucht
heute nachzuweisen, daß sie Händlerkaste gewesen sei und noch sei. Die Aus-
schaltung des Bauerntums aus der Gleichordnung mit dem rgerlichen Besitz
und Erwerb ist wohl durch eine Mehrzahl von Momenten bestimmt. Zunächst
durch die zunehmende Feudalisierung und, weiterhin, patrimoniale Fiskalisieiung
und Präbendalisierung der Sozialverfassung. Schon in klassischer Zeit galt der
Vaiçya als dazu bestimmt, von den oberen Ständen aufgezehrt” zu werden. Im
Mittelalter interessierte er nur als Steuerträger. Das mittelalterliche Indien ist das
Land der Dörfer. Der Umfang eines Königsreichs wird, wie gesagt, nach der Zahl
der Dörfer, d. h.: der Steuereinheiten, angegeben
1
). Die Grundsteuer war und
blieb schlechthin die ausschlaggebende Finanzquelle und das wichtigste Objekt
der Verlehnung und Pfründenbildung. Der König heißt in klassischer Zeit Sech-
stelnehmer”. Denn die alte traditionelle Grundsteuer von
1
/
6
der Ernte galt als er-
trägliche Steuer. In der Wirklichkeit wurde die Steuer so hoch und war - aller-
dings entgegen der alten Lehrmeinung - so sehr der Steigerung unterworfen, daß
sich eine Theorie entwickeln konnte, welche dem König das Bodenmonopol zu-
schrieb. In den bengalischen und manchen südindischen Eroberungsgebieten ent-
sprach dies annähernd wohl auch der Realität.
1
) Später meist in lakh's, d. h. Renteneinheiten, deren Unterlage die Steuer - Einschätzung
war.
78
Hinduismus und Buddhismus. [78]
Die umfassendsten Untersuchungen der indischen Dorfverfassung werden be-
kanntlich B. H. Baden - Powell
1
) verdankt, der mit den Materialien der britischen
Steuerveranlagung arbeitete. Im übrigen werfen die monumentalen und die litera-
rischen Quellen nur ein spärliches Licht auf die Vergangenheit der indischen Bau-
ern. r die Zeit spätestens seit der Moghul - Herrschaft aber und vielfach schon
weit früher ist. Alles durch die ausschließliche Herrschaft der fiskalischen Inter-
essen bestimmt. Es handelt sich seitdem darum: wer der Träger der Steuerhaftung
ist. Wenn jedes einzelne Feld gesondert zur Steuer veranlagt ist und jeder einzel-
ne Bodenbesitzer in einem Dorf r seinen Besitz und nur für diesen haftet, dann
ist das Dorf ein Ryotvari- oder Raiyatvari - Dorf
2
). Es fehlt dann ein Grundherr.
Dafür ist der alte gentilcharismatische Dorfvorstand (patel), der damals als Beam-
ter der Regierung galt, mit erheblicher Autorität äusgestattet, sammelt die Steuern
ein, hat, in Zentral - Indien als eine Art von Erbscholtisei - Lehen, das steuerfreie
und erbliche Watan - Land inne, wohnt in einem zentral gelegenen, oft befestig-
ten, Wohnhaus. Eine dem Dorf gehörige Mark” außerhalb der Feldmark existiert
dann heute nicht, sie gehört dem Staat, der allein das Recht der Besiedelung ver-
geben kann. Anders, wenn ein Kreis von Besitzern dem Fiskus als solidarisch
haftbar für ein Steuerpauschale (jama) eines Dorfes gegenübersteht. Dann gilt
dieser Kreis von Besitzern, der oft, ursprünglich wohl fast immer, ein panchay-
at” als Vertretung besitzt, als befugt zu allen Verfügungen über das Dorf und über
die zum Dorf gehörige gemeine Mark (das Oedland). Er vergibt die Felder des
Dorfes gegen Renten an die Bauern, Dorfhandwerker, Dorfhändler, teilt das Oed-
land nach Belieben auf, sondert “Sir”- Land (Hofland in eigner Regie) für die ein-
zelnen Beteiligten und nach Ermessen auch für die Gesamtheit aus und verpachtet
eventuell das letztere auf Zeit. Es fehlt also der Dorf - patel mit seiner kraft cha-
rismatischen Eigenrechts überragenden Stellung; statt seiner kommt unter Um-
ständen ein die Verwaltung hrender Lambardar” als Repräsentant der Gemein-
schaft der Interessenten gegenüber dem Fiskus vor. Das Anteilsrecht und ihm ent-
sprechend die Beitragspflicht zur Steuer kann unter die Beteiligten nach Erbquo-
ten (patti) geteilt sein (pattidari - Dörfer) oder nach andern Mstäben, insbeson-
dere nach der jeweiligen Leistungsfähigkeit der einzelnen Besitzer (bhaiachara-
Dörfer). Die pattidari - Dörfer hält Baden - Powell natürlich mit Recht für solche,
welche aus einem grundherrlichen Besitz entstanden sind. Zamindari - Dörfer, d.
h. solche im Besitz einzelner Grundherren, finden sich vielfach auch heute und
schon das fher zitierte Kautaliya Arthaçastra enthält den Rat, jemanden der sich
zur Garantie des Steuerpauschale bereit finde, mit dem Oedland zu beleihen. Da
zwar nicht die streng politischen Rechte, wohl aber die ökonomischen Gebührnis-
se des Radscha teilbar waren, und da
1
) Vor allem: The Land systems of India, Oxford 1892 (3 Bände), außerdem das kürzere schon
zitierte Kompendium über die Village Community.
2
) Von Raiyat, der Untertan, der Geschützte” (Client).
79
Das hinduistische soziale System. [79]
die Verleihung von Dörfern an eine Vielzahl von Brahmanen zu bestimmten Quo-
ten (vritti) inschriftlich häufig vorkommt, so ist diese Erklärung gesichert. Auch
für die Bhaiachara - Dörfer aber nimmt Baden - Powell die gleiche Entstehungur-
sache an; hier seien nur die Quoten in Vergessenheit geraten. Da aber der Ueber-
gang von Raiyatvari - Dörfern in die Form von Bhaiachara - Dörfern, also in sol-
che mit Solidarhaft und Verfügung über die gemeine Mark, im Gefolge der Steu-
erveranlagung noch jezt bewußt vorkommt, so ist diese Annahme nicht zwingend.
Abgesehen von der scharfen Scheidung der Typen der modernen Dorfverfassung,
die ihm verdankt wird, hat Baden - Powell einleuchtend die Folgen klargelegt,
welche die Festhaltung der Sippe und Phratrie (er sagt: Clan) als Grundlage der
Landleihe des Herrenstandes in Verbindung mit dem Landüberfluß der Frühzeit
für die Dorfverfassung haben mußte. Festhalten wird man von seinen Aufstellun-
gen, nach Analogie anderer asiatischer Gebiete, insbesondere: 1. daß die volle
Feldgemeinschaft (der Agrarkommunismus) des D o r f e s nicht die primitive
Agrarverfassung Indiens, jedenfalls aber nicht die Grundlage der späteren Agrar-
verfassung war, - daß vielmehr 2. der Stamm (und eventuell seine Unterabteilung,
der Phratrie verband) sich als Besitzer des okkupierten Gebiets betrachtete und
Angriffe darauf abwehrte - 3. daß die a l t e n indischen Dörfer die Allmend”
und Allmendrechte im europäischen Sinn als Bestandteile der Bauernhufe nicht,
jedenfalls nicht notwendig, kannten (Folge des Landüberflusses und des Fortbe-
standes der Phratrieverbände) - 4. daß Grundherrlichkeit auf der Grundlage einer
der occidentalen entsprechenden oder ähnlichen Lehensverfassung bei der Ent-
wicklung der indischen Agrarverfassung kaum eine Rolle gespielt, diese vielmehr
einerseits durch die Sippen- und Phratrie (Clan) Gemeinschaft der Eroberer, and-
rerseits durch Verleihungen von Steuerpfnden bestimmt wurde, - 5. daß Rodung
einerseits, Eroberung andrerseits die ältesten Eigentumstitel an Land waren.
Die heutige, indisch in Südindien als upri”, amtlich als occupant” bezeichnete,
Schicht der unmittelbaren Landbebauer, also konkret ausgedrückt: der Leute,
welche selbst den Pflug hren und jene Pachten zahlen, welche an die Teilhaber
der Pattidari- und Bhaiachara - Gemeinschaft geleistet werden, stehen jetzt, nach
den englischen Reformgesetzen, im allgemeinen in einem Besitzverhältnis zum
Boden, welches am ehesten in der Lage der irischen Pächter seit der Gladstone-
schen Agrarreform eine Analogie findet. Daß dies nicht der ursprüngliche Zu-
stand war, ist klar. Die klassische Literatur, namentlich die Rechtsbücher, ebenso
aber auch die Jataka's und die gleichzeitigen Schriftsteller
1
) kennen weder Grund-
herrschaft noch die heutige joint village”. Kauf und Teilpacht von Land, die letz-
tere allerdings nicht von Dorf - Land, kommen vor. Allmend
1
) Vgl. hiezu; Caroline Rhys. Davids, “Notes on the early economic conditions in N. India”. J.
R. A. S. 1901 p. 859 f.
80
Hinduismus und Buddhismus. [80]
und Gemeindehirte sind in Nordindien bekannt. Vorkaufsrecht der Dorfgenossen,
Auswärtigen gegenüber, verstand sich ursprünglich offenbar von selbst. Südindi-
sche Dörfer tun sich zusammen, um eine einheitliche neue Gemeinde zu bilden
1
).
Dorfausschüsse erhalten Verleihungen des Königs
2
) und Dörfer treten auch aktiv
als Gesamtheit, z. B. als Scheriker, auf, vertreten durch ihre panch's
3
). Es existier-
te also eine primäre Dorfgemeindeauch unabhängig von den Steuerhaftungs-
verhältnissen
4
) und sie mußte existieren, wo immer die Siedlungen der Eroberer
den Unterworfenen geschlossen gegenüber standen. Starke sekundäre Gemein-
schaftsverhältnisse ergaben sich von jeher da, wo Bewässerungsanlagen die
Fruchtbarkeit bedingten; die Anteilsrechte am Wasser bestimmten sich zweifellos
nach dem Me des Anteils an den Kosten. Aber gerade die Bewässerungsanla-
gen konnten die Grundlage starker ökonomischer Differenzierung werden. Zwar
geschah die Anlage von Stauteichen nebst Zubehör oft als Stiftung. Aber wohl
weit öfter wurden sie von ökonomisch starken Unternehmern, einzelnen oder
Verbänden, angelegt, welche dann das Wasser gegen Zins abgaben. Die Was-
serherrenin Südindien stammen daher.
Eine wichtigere Quelle der Entstehung ökonomisch privilegierten Besitzes war
das Watan” - Land
5
), die Dienstländereien der Dorfvorsteher, Dorfpriester,
Dorfrechner und unter Umständen noch anderer Dorfbediensteter. Sie waren ver-
erblich und wurden später veräußerlich, vor allem aber waren sie entweder steu-
erfrei oder hatten nur feste Abgaben, nicht die wenn auch nicht der Theorie, so
doch der Sache nach, steigerungsfähigen Ernteanteile der gewöhnlichen Bauern-
höfe zu zahlen. Unter der Mahrattenherrschaft suchten die Amtspfndner, moch-
ten im übrigen ihre Einkünfte aus welchen Quellen und Bezirken immer fließen,
zum mindesten in ihrem Heimatdorf das Watan - Land in eigner Hand zu haben
und zu behalten, und es wurde eine Art Ehrenpunkt r die sozial herrschenden
Schichten,
1
) Tamil - Inschrift Ep. Ind. III p. 142 ff. aus dem 8. Jahrh.
2
) Ep. Ind. IX p. 91 aus dem 9. Jahrh.
3
) So in der großen Inschrift Ep. Ind. II p. 87 f. (aus dem 1. Jahrh. vor Chr.).
4
) Die indische Fluraufteilung konnte nicht diejenige Art von Gemenglage (in Gewannen und
Streifen) aufweisen wie die deutsche. Die patti's - liegen zwar oft, der Bonitätsunterschiede
des Bodens gemäß, über die Flur in Stücken verteilt (Rotation kommt vereinzelt vor), aber
im ganzen doch in großen urid nicht rechnerisch, der Fläche nach, vergleichbaren, Blocks.
Die Zahl der Pflüge, die jemand besaß, und des darnach von ihm zu bestellenden Landes
war mgebend. Das Land war zunächst im Ueberfl vorhanden und deshalb rechnete man
nicht; dagegen war das Wasser für die Bewässerung wirtschaftliches Gut und wer hier sich
Uebergriffe erlaubt hätte, wäre, wie Baden - Powell hervorhebt, auf Widerstand gestoßen.
Neuverteilungen zur Ausgleichung der Nahrung kamen vor. Mit zunehmendem Druck des
Fiskalismus aber traten ähnliche Erscheinungen auf, wie sie aus Rußland bekannt sind; das
Maß der Steuerbelastung wird zum Maßstab des Rechts (und eventuell der Pflicht), am Bo-
den beteiligt zu sein.
5
) Darüber ausführlich Baden - Powell in dem größeren der zitierten Werke.
81
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
Das hinduistische soziale System. [81]
dieses Dienstlehen der Familie nicht aus der Hand zu geben. Je stärker die steuer-
liche Belastung stieg, desto mehr galt Watan als privilegierter Besitz und war da-
her auch als reine Vermögensanlage gerade von den höchsten sozialen Schichten
sehr gesucht. Die Dienstpfründe war auch in Nordindien dem alten Epos gut be-
kannt. Je nach dem Range des Amts umfaßte sie Renten von Einzel - Grundstük-
ken bis zu Renten einer ganzen Stadt. Aber die alte Patrimonialmonarchie hatte
hier offenbar stärker durchgeführt, - was später die Mahratten im Süden erstrebt,
aber nicht voll durchgesetzt haben: -daß daraus kein erbliches Besitzrecht an be-
stimmten Grund stücken wurde.
Die Sonderqualit des Watan - Landes hing ursprünglich fest mit der ständi-
schen, genauer ausgedrückt: der gentilcharismatischen Qualität der Sippe - Dorf-
häuptlingssippe - zusammen, welche es als Dienstland besaß. Aehnliche, mit
ständischen Oualitäten der Besitzer zusammenhängende, Besitzrechte gab es of-
fenbar in erheblicher Zahl. Zunächst mschon die Monopolisierung des vollen
Bodenbesitzes in den arischen Dörfern zugunsten der Eroberer, unter Ausschl
der Unterworfenen, Quelle solcher Differenzen gewesen sein, von denen sich
nicht mehr ermitteln läßt, wie sie sich weiterentwickelt haben. Dagegen finden
wir Bestätigungen von Landbesitzrechten “zum Recht der Brahmanenpfründen
und besonders häufig findet sich inschriftlich im indischen Mittelalter eine bhu-
michchida” genannte Rechtsform des Bodenbesitzes, welche zweifellos einen
vererblichen, einer willkürlichen Erhöhung der Besteuerung nicht unterworfenen
Landbesitz bedeutet und diese Qualität von der persönlichen ständischen Stellung
der berechtigten Sippe (dem Gentilcharisma) herleitet. Und ganz allgemein findet
sich in den von Baden - Powell untersuchten Fällen eines privilegierten Verbän-
des von Grundrentnern (“joint village”), daß die Beteiligten kraft ihres durch Zu-
gehörigkeit zu einer gentilcharismatischen (fürstlichen) Sippe begründeten “Ge-
burtsrechts” (mirasi, von Baden - Powell mit birth right” übersetzt) die Teilha-
berschaft beanspruchen. Alles zu festem erblichen Recht und (eventuell) fester
Rente besessene Land heißt technisch : miras”. Die erbliche Ständesqualität der
Sippe und später: der Kaste, war es also gewesen, welche primär die Qualität des
Besitzes als mirasi bestimmte: es waren jedenfalls durchweg Klassen, die auch
wenn sie selbst wirtschafteten, doch, so lange als irgend möglich, die Hand nicht
selbst an den Pflug legten, um nicht rituell deklassiert zu werden, wie es gelegent-
lich verarmten Radschputen und andern vornehmen Landbesitzern erging. Wenn
nun in den Urkunden des indischen Mittelalters Dorfbewohner” als Zeugen oder
als Schenker auftreten, oder wenn neben der königlichen. Sippe und den Beamten
und stadtsässigen Händlern Landleute” als ein offenbar nicht deklassierter Stand
aufgeführt werden
1
), so weiß man
1
) So in der aus dem 9. Jahrh. stammenden Inschrift Ep. Ind. I p. 184 neben dem König und
den “thakurs” (politische Feudalherren) die “janapada”
82
Hinduismus und Buddhismus. [82]
nie, ob es sich um Grundrentner oder um eigentliche Bauern oder um ein Mittel-
ding zwischen beiden handelt, und in der Regel dürfte das Erstere das weitaus
Wahrscheinlichere sein. Auch für die Gegenwart sind die sonst vorzüglichen Dar-
stellungen der Census Reports über die einzelnen Kasten hier meist sehr undeut-
lich. Naturgemäß ist der Unterschied jetzt vielfach flüssig. Ihre Stellung als “selb-
ständige” Bauern in unserm deutschen Sinn haben offenbar zwei Schichten von
Dorfbewohnein am Vollständigsten gewahrt: die Khunbi im Westen und Norden
und die Vellalar im den. Die ersteren entstammen dem Schwerpunkt nach Ge-
bieten, in welchen die soziale Gliederung- auf dem Lande vorwiegend nicht durch
finanzielle, sondern durch militärische Differenzierung: Loslösung der Ritter und
Berufssoldaten von den Bauern, bedingt war und daher, wie in solchen Fällen
stets, wesentlich weniger schroff blieb
1
). Die Vellalar aber sind die fher er-
wähnte alte Vollfreien- (Grundherrn-) Klasse, welche unter dem Patrimonialismus
und der Herrschaft des Soldheeres verbauerte und nach Durchführung des hindui-
stischen Systems im Kastenrang zurückgesetzt wurde. Diese beiden Kasten stel-
len die anerkannt besten, vor allem auch geschäftlich chtigsten Landwirte Indi-
ens, und namentlich die Khunbis sind offenbar modernen Wirtschaftsmethoden
sehr zugänglich, z. B. auch geneigt, ihre Ersparnisse in Fabriken und Wertpapie-
ren anzulegen. Im übrigen gehören zu den sozial relativ hoch rangierenden land-
wirtschaftlichen Kasten eine Anzahl hinduisierte Stämme, wie die Jat, Gujar,
Koch, einige jetzt als Landbesitzer ansässige alte Reisläuferkasten und verstreute
Reste von relativ vornehm geltenden nichtadligen Landwirten.
Sonst sind die freien Bauern teils in Zeiten anhaltender Fehden durch Kommenda-
tion zu Hintersassen (Pächtern) eines mit der politischen Gewalt im Dorf Beliehe-
nen geworden, gelegentlich auch durch Verschuldung oder einfach durch akute
oder chronische Vergewaltigung
2
). Die breite Masse der indischen Bauernschaft
aber ist nicht aus solchen Gründen, sondern durch das Finanzsystem der Großkö-
nigtümer zu einem reinen Objekt der Rentenerpressung deklassiert worden. Sie
korinten als Mitglieder einer “wiedergeborenen Kaste nicht in Betracht kommen.
Massenhafte mehr oder minder vollkommen hinduisierte Eingeborenenstämme
befinden sich unter ihnen und diese unter die Vaiçya” aufzunehmen hinderten
schon rituelle Gründe
3
). Sie wurden im allgemeinen und wo nicht rituelle
(vom Uebersetzer mit rprovincialse wiedergegeben). Nur gelegentlich kommt ein Rayat,
aber als offenbar persönlich freier Mann, inschriftlich vor.
1
) So wendete sich eine königliche Verleihungsurkunde aus Udeypur noch im 12. Jahrh. an die
Rashtrakutra's (Ritter) und Kutunbi's als die beiden Klassen der Einwohner einer Ortschaft
(Ep. Ind. IV p. 627).
2
) Darüber Baden - Powell, Land System II p. 162 ff.
3
) Inschriftlich (Ep. Ind. IX, S. 277) rühmt sich ein Feudalfürst aus der Gegend von Jodhpur,
daß er die Ahir (s. über diese oben) aus einem Ort gejagt und dort das “Mahajanetabliert
habe, nämlich Brahmanen, prakriti (was der Uebersetzer als Kschatriya”, interpretieren
möchte) und Vaiçya.
83
I. Das hinduistische soziale System. [83]
Unreinheitsgründe bestanden als reine Çudra” angesehen
1
). In der Art trägt das
Kasten - Schicksal der Bauern die Spüren der sozialen Verschiebungen an sich,
welche der Fiskalismus des Beamtenstaats nach sich gezogen hatte. Eine Reihe
teils ganz allgemeiner, teils spezifisch indischer Bedingungen wirkte zu diesem
Schicksal mit. Die soziale Deklassierung der Gemeinfreien im Mittelalter des Oc-
cidents hing bekanntlich mit ihrem Ausscheiden aus dem Kreise der militärisch
trainierten und also militärisch vollwertigen Genossen der Wehrgemeinde und
dem Aufkommen der ritterlichen Berufskrieger zusammen. Oekonomisch war
dies durch die Volkszunahme und die dadurch und durch allgemeine Kulturbedin-
gungen herbeigeführte steigende Intensität des Ackerbaus verursacht, welche die
Arbeitskraft des von der Arbeit seiner Familie lebenden freien Mannes zuneh-
mend ökonomisch mit Beschlag belegte und ihn so ökonomisch unabkömmlich”
für militärische Zwecke machte und pazifizierte. Ihre breite Masse mußte überall
zunehmend - im Gegensatz zu den taciteischen Freien - selbst die Hand mit an
den Pflug legen. Diese letztere Einzelheit deklassierte nun im Occident, wie so-
wohl nordische Beispiele wie die römische Gincinnatus - Legende (eine Tendenz
- Legende) zeigen, nicht in dem Grade wie dies in Indien wenigstens in histori-
scher Zeit der Fall war. Denn hier traten zu den in der Entwicklung der Agrarver-
fassung liegenden Umständen, welche den Bauer als solchen deklassieren muß-
ten, andere soziale Momente. Die Entwicklung der Städte und der rgerlichen
Klassen hat zwar überall in der Welt, im Occident in der Antike einschließlich der
Juden ebenso wie im Mittelalter, den “Pisang”
2
) sozial degradiert, weil er die
Konventionen der gebildeten städtischen Gesellschaft nicht mitmachte, dann
auch, weil er militärisch und ökonomisch mit ihrer Entwicklung nicht Schritt hal-
ten konnte. Der Gegensatz von Stadtvolk (paura) und Landvolk (janapada) taucht
ebenso in indischen Quellen aller Art auf. Aber dazu traten nun die besonderen
indischen Verhältnisse. Denn hier li die städtische Entwicklung, wie wir sehen
werden, bei den pazifistischen Erlösungsreligionen: Buddhisten und, am
schroffsten, Jainisten, das Prinzip des Ahimsa” entstehen: das Verbot der Tötung
irgendwelcher Lebewesen. Damit wurde der Bauer, der den Pflug führte und da-
bei Würmer und Insekten vernichtete, nun auch rituell und also noch weit tiefer
deklassiert, als er es auch im Judentum und (antiken und mittelalterlichen) Chri-
stentum war, und wenigstens etwas davon blieb haften, auch nachdem die bürger-
lichen Erlösungsreligionen wieder verschwunden oder doch zurückgedrängt wa-
ren. Die Viehzucht, soweit sie blutige Verrichtungen einschl, sank tief. Zahl-
reiche Spezialkulturen, wie Gemüse. Tabak, Rüben und andere, galten aus unter-
einander verschiedenen rituellen Gründen als degradierend oder geradezu be-
1
) Während von den Vellalar jedenfalls das immer feststand, daß sie nicht zu den Çudra gehör-
ten.
2
) “Pisang” von “paysan”. Vgl. “paganus” (römisch Bauer”, später auch: Civilist”, christlich:
Heide”) und “am haarez” bei den Juden.
84
Hinduismus und Buddhismus. [84]
fleckend. Endlich aber mußte die zunehrnende Betonung der literariaschen Bil-
dung” und des Wissens” als der ständisch und religiös bedeutsamsten Qnalifika-
tion an Stelle des magischen Charisma den Bauer am stärksten sozial drücken, ei-
ne Erscheinung, die ebenso auch im Judentum und im mittelalterlichen Christen-
tum (z. B. bei Thomas v. Aquin) sich findet
1
).
Während die alte Zeit in der Rangfolge der Berufe die Viehzucht voranstellte,
dann den Ackerbäu und am tiefsten den, bei Bauernvölkern überall verachteten
und verdächtigen Handel, vor allem das Geldleihen, stellte
2
), galt später der Han-
del als sozial weit überlegen
3
). Dies ist eine radikale Umkehrung der Rangord-
nung der vedischen Zeit, welche den Kaufmann (pani) nur als einen wandernden,
in der Regel stammfremden, Tags feilschenden, Nachts stehlenden, seine Reich-
mer in geheimen Aufbewahrungsorten zusammentragenden Mann kennt, der
gottverhaßt ist, weil er geizig gegen Götter (im Opfern) und Menschen (insbeson-
dere heilige Sänger und Priester) ist und dessen gottlose Schatzkammerneben
deshalb im Kontrast zu den Horten des Adels stehen, der die Hände jener Klassen
füllt. Ari”, der Reiche, chtige, hat daher eine böse und eine gute Bedeutung,
wie Pischel und Geldner (III p. 72 f.) bemerkt haben. Er ist der gesuchteste, ge-
haßteste und beneidetste Mann, der Mann, mit dem man sich nicht vertragen
kann, fett und hochmütig: besonders wenn er keine oder andere Sänger und Prie-
ster bezahlt als den betreffenden. Er soll schenken, immer wieder schenken, und
tut er dies, so ist er der Liebling der Götter und Menschen. Aber der Kaufmann
tut dies eben nicht. Immerhin kennt schon der Atharvaveda
4
) ein Gebet um Ver-
mehrung des Geldes, mit welchem der Kaufmann auf den Markt kommt, um Geld
mit Geld zu erwerben, und die aller primitiven Religiosität eigne Verklärung des
Reichtums, der - nach dem Rigveda
5
) - den Himmel zu erwerben gestattet, gibt
selbst den Çudra Einfluß. Denn auch von ihnen nimmt der Priester Geld.
Das Odium des Handels schwand in der Zeit der Städteentwicklung völlig. Geld-
besitz und Händlertum, die typischen Vaiçya - Qualifikationen des indischen Mit-
telalters und noch der Gegenwart, haben aber auch dann in ihrem Kastenrang
noch starke Peripetien durchgemacht. Es ist höchst auffallend, daß eine in der
Zeit der Gildenmacht und Städteblüte hier (wie im Occident) so angesehene Ka-
ste wie die Goldschmiede, die noch heute in einzelnen Gebieten geradezu
1
) Im Christentum ist - was oft nicht beachtet wird - der Bauer als solcher erst zu Ehren und zu
seiner heutigen Schätzung gekommen, als die Entwicklung des Rationalismus und der Skep-
sis in den bürgerlichen Klassen die Kirchen darauf hinwies, ihre Macht auf die traditionalisti-
schen Instinkte der Bauern zu stützen.
2
) Noch Mahabh. XIII, 60, 23 und Manu IX, 327.
3
) Der Viehzucht gegenüber schon deshalb, weil diese Verrichtungen wie die Vornahme der
Kastration bedingt.
4
) III, 15. Indra gilt geradezu als Kaufmannsgott.
5
) VIII, 13, 5.
85
I. Das hinduistisehe soziale System. [85]
den ersten, fast Brahmanen - Rang einnehmen, in nordindischen Quellen als der
Typus einer verworfenen Betrüger - Zunft galten
1
). Ebenso sind einige andre ben-
galische Händlerkasten, welche in der Zeit der Entstehung der Großkönigtümer
als Geldgeber der Fürsten im Zenith der Macht standen, später degradierte Çudra
- Kasten und es wird berichtet, daß Konflikte mit den Sena - Königen, vor allem
mit Vallala Sena, welcher bei modernen Rangerhöhungsansprüchen von Kasten
fast stets das Odium des Umsturzes des alten Kastenranges zu tragen hat, den
Anlaß dazu gaben. Gut bezeugt und innerlich glaubhaft schon an sich ist, daß die
Aufrichtung der patrimonialbürokratischen Herrschaft auch hier, wie in den
Adelskasten, starke Verschiebungen gebracht, und daß die heutige Kastenord-
nung in Bengalen die Spuren einer Katastrophe, in andern Gebieten einer Ver-
kümmerung oder stagnierenden Entwicklung der rgermacht an sich trägt, wel-
che die Grenzlinie zwischen Vaiçya und Çudra vielfach verwischte. Die heutigen
Händlerkasten hohen Ranges sind nur zum Teil alte städtische Kaufmannskasten.
Zum andern sind sie aus monopolistischen Handelsorganisationen herausgewäch-
sen, welche die patrimoniale rstenmacht ins Leben rief. Andrerseits ist bei wei-
tem nicht jede Händlerkaste eine Kaste hohen Ranges. Ein Teil von ihnen sind ge-
radezu unrein und wahrscheinlich aus Paria - Stämmen, welche den betreffenden
Handel monopolisierten, erwachsen. Auch hier spiegelt sich die Verwaltungsge-
schichte in den Kastenverhältnissen.
Das Eindringen der Geldwirtschaft” in Indien erfolgte etwa gleichzeitig mit dem
Aufstieg des Hellenentums im Handel des Occidents. Längst vorher bestand See-
handel und Karawanenhandel nach Babylon und, später, Aegypten. Wie in Baby-
lonien die Schaffung von gemünztem Geld, d. h. irgendwie signierten, später ge-
prägten oder gegossenen Metallblöcken bestimmten Gewichts zunächst eine pri-
vate Angelegenheit der großen Händlerfamilien blieb, deren Prägung Vertrauen
gen , so in Indien
2
). Noch die Herrscher der Maurya - Dynastien, auch Açoka,
haben keine Münzen selbst geprägt. Erst der Zufluß hellenistischen und römi-
schen Edelmetalls veranlte die Großkönige des ersten nachchristlichen Jahr-
hunderts dazu, während im Innern des Landes die alten Privatmünzen und Münz-
surrogate noch lange im Umlauf blieben. So wenig wie in Babylonien
1
) So z. B. im Arthasastra des Kautaliya in der Fassung Chanaukya's.
2
) Darüber Kennedy J. R. A. S. 1898 p. 281. Kurzer Abriß der indischen Münzgeschichte im
Imp. Gazetteer, The Ind. Empire Vol. II ch. IV, p. 137 f.: Silber, das heutige Währungsme-
tall Indiens, wurde dort gar nicht, Gold, das Prägungsmetall der Großnige der ersten
Jahrhunderte, nur in geringem Umfang produziert. Die aus dem Handel mit dem Westen
herrührenden Edelmetallschätze, von deren Umfang die Beuteziffern der Mohammedaner
einen Begriff geben, dienten dort wesentlich der Hortbildung, obwohl es vielleicht nicht zu-
fällig ist, daß eine der Blüte- oder auch: Nachblüte - Periode der Gildenmacht (2. Jahrh. n.
Chr.) mit dem starken Geldimport aus dem merreich und der Prägung von aurei des -
mischen Typus zusammenfiel.
86
Hinduismus und Buddhismus. [86]
hat in Indien das Fehlen der staatlichen Münzprägung die Entstehung des kapitali-
stischen Handels und des politischen Kapitalismus gehindert. Etwa vom 7. vor-
christlichen Jahrhundert angefangen hat fast ein Jahrtausend lang die kapitalisti-
sche Entwicklung sich ausgebreitet. Es taucht der Markt” auf und wird Mittel-
punkt der Verwaltung: die Dörfer ohne Markt (mouza) waren noch unter der
Mahrattenherrschaft der kusha, dem Marktflecken (einer Art von Metrokomia im
spätantiken Sinn) angegliedert. Die Städte verloren ihren anfänglichen Charakter
als lediglich rstlicher Festungen (pura, nagara). Sie legten sich - namentlich an
der See - einen Stadtteil zu, der sich in seiner Gliederung zum alten rstensitz
und dessen Form so verhielt, wie in Italien der Mercato, der ökonomische Markt:
der Platz, wo man verkauft und einkauft, zur Piazza (del campo della signoria),
dem Platz, auf welchem das Aufgebot gemustert und Turniere abgehalten werden
(am klarsten in der Duplizität der Plätze im Grundriß noch des heutigen Siena vor
und hinter dem Palazzo Pubblico erhalten), oder wie die Doppeltheit der Burg
(Kasbah) und des Marktes (Bazar) in islamischen Städten
1
). In die Stadt waren
die reichen Adligen gezogen, um dort ihre Renten zu verzehren. Nach einer
Chronik sollte nur wer 1 Kror = 100 lakhs (die Einheit, nach welcher die Groß-
pfründen bemessen wurden, entsprechend der Zahl der Dörfer, deren Renten sie
enthielten), besaß, in der Stadt wohnen dürfen
2
). Neben die Grundrentner trat nun
die Vermögensakkumulation durch Handel.
Die typische Organisation des Karawanenhandels unter Karawanenvorstehern
findet sich und die Gilden (çreni, später: gana) der Händler traten an Macht zu-
nehmend neben die Ritterschaft und den Priesteradel. Der König wird von den
Gilden finanziell abhängig, er hat nur das Mittel, sie zu entzweien oder zu beste-
chen. Schon im Epos
3
) spricht er nach einer Niederlage seine Besorgnis vor ihnen
(außer vor seinen Verwandten und den Priestern) aus. In einzelnen Städten trat an
die Spitze der Gilden und als Vertreter der Interessen der Bürgerschaft gegen-
über. dem König ein gentilcharismatischer Chef, dem die Aeltesten der Gilden
(“Marktherrn”) als Ratsbehörde zur Seite standen
4
). Die drei vornehmen Stände
waren nun: weltlicher und geistlicher Adel und Händler, und diese galten oft als
1
) So wird die Tamil - Stadt Kaviripaddinam kurz vor unserer Zeitrechnung beschrieben. In der
Händlerstadt befinden sich die meisten Warenhäuser und Gewerbe und sind die Yavana-
(occidentalen) Kaufleute angesiedelt, in der Königsstadt die Luxusgewerbe, die Brahmanen,
Aerzte, Astiologen, Barden, Schauspieler, Musikanten, Blumenstraußmacher, Perlen-
schnurmacher, Grundrentner. Zwischen beiden liegt der Marktplatz. Die Tamil - Könige
hielten r ö m i s c h e ldner (vgl. V. Kanakasabhai, The Tamils 1800 years ago, Madras
1904.
2
) Ind. Ant. XIX (1890) p. 231 f.
3
) III, 249, 16. XII, 54, 20. Vgl. W. Hopkins, The social and military position of the ruling ca-
stes in ancient India. J. of the Am. O. S. XIII, p. 57 ff.
4
) So in Ahmadhabad.
87
I. Das hinduistische soziale System. [87]
gleichwertig, hatten nicht selten Konnubium untereinander und verkehrten mit
dem rsten auf gleichem Fuß. Die Kaufleute finanzierten die Kriege der rsten
und lien sich von ihnen, einzeln oder als Gilde, Herrschaftsrechte verpfänden
oder verleihen. Und wie das commune”, die Eidverbrüderung der Herrenstände,
im Occident, namentlich in Frankreich, auch auf das Land übergriff, so findet sich
Aehnliches auch in Indien
1
). Die Bildungs-Aristrokratie der Priester, der Ritter-
adel und die bürgerliche Plutokratie konkurrierten miteinander um den sozialen
Einfluß, und selbst reiche, d. h. am Handel beteiligte Handwerker verkehrten mit
den rsten. Zwischen wenigstens einem Teil der Handwerke scheint Freiheit der
Berufswahl bestanden zu haben. Es ist die Zeit, in welcher Leute aller Klassen,
selbst Çudra's, es zum Erwerb der politischen Herrschaft bringen konnten.
Die entstehende patrimoniale rstenmacht mit ihrem disziplinierten Heer und ih-
rem Beamtenstabe empfand die Machtstellung und finanzielle Abhängigkeit von
den Gilden zunehmend unangenehm. Wir hören, daß einem bengalischen König
ein Vanik (Händler) ein Darlehen r Kriegszwecke mit dem Bemerken verwei-
gerte: das Dharma des rsten sei nicht Krieg zu führen, sondern den Frieden und
die friedliche Wohlfahrt der Bürger zu schützen. Mit dem Hinzufügen jedoch: daß
das Darlehen gleichwohl vielleicht gegeben werden könne, falls der König ein ge-
eignetes Schlals Pfand zu geben vermöge. Der schwere Grimm des Königs,
wird dann weiter erzählt, entlud sich bei einem Bankett, als die Händlerkasten
sich weigerten, den ihnen vom Hofmarschall angewiesenen Platz inmitten der
Çudras anzunehmen und sich protestierend entfernten. Auf die Mitteilung des Be-
amten vom Geschehenen degradierte der König diese Kasten unter die Çudras.
Was an dieser konkreten Erzählung des Vellala Charita
2
) Wahres ist, bleibe ganz
dahingestellt: typische Spannungen berichtet sie offensichtlich. Der Gegensatz
des fürstlichen Beamtentums gegen die Macht der bürgerlichen Plutokraten war
naturgegeben und spricht sich auch in jener Verdammung der Goldschmiede,
welche teils Träger der alter privaten Münzprägung gewesen sein mochten, teils
sicher Darlehnsgeber der rsten waren, im Kautaliya Arthasastra aus. Dem r-
gertum wurden nun, neben seiner zweifellosen numerischen Schwäche, gewisse
spezifisch indische Umstände im Kampf gegen die patrimoniale rstenmacht
verhängnisvoll. Zunächst der absolute Pazifismus derjenigen Erlösungsreligionen,
welche etwa gleichzeitig - wir werden später sehen,
1
) Eine Gilde hat die Verwaltung eines Bezirks in den Händen; lnd. A. XIX, 145 (Inschrift aus
dem 7. Jahrh.). Die Mahajanas eines Dorfs mit ihrem Vorstand an der Spitze erhalten eine
Steuer aus dem Dorf verliehen für die Anlage einer Zisterne; Ind. Ant. XIX p. 165.
2
) Sie ist wiedergegeben in der Schrift von Chaudre Dus; The Vaisya Caste, I. The Gandhavar-
niks of Bengal (Calcutta 1903), einem typischen Erzeugnis der durch die versuchte Feststel-
lung der Kastenrangordnung im Zensus von 1901 entstandenen Literatur.
88
Hinduismus und Buddhismus. [88]
in welchem Sinn vielleicht in Kausalverknüpfung - mit der Entwicklung der Städ-
te sich ausgebreitet hatten : des Jainismus und Buddhismus. Dann aber die, wenn
auch noch nicht stark entwickelte aber doch vorhandene Kastengliederung. Beide
standen der Entwicklung der Militärmacht des Bürgertums im Wege, der Pazifis-
mus prinzipiell, die Kasten, indem sie, wie wir sahen, die Entstehung einer Polis
oder eines “commune” europäischer Art hemmten. Es konnte daher weder das
Hoplitenheer der antiken Polis entstehen, noch das Zunftaufgebot und die Gon-
dottierenheere der mittelalterlichen Städte des Occidents, welche beide die Träger
der jeweils höchsten militärischen Technik wurden: das Heer der Florentiner hat
zuerst in Europa, soviel bekannt, Feuerwaffen verwendet. Megasthenes kannte
die sich selbst beherrschendenStädte
1
). Vaiçali war s. Z. eine Freistadt: ein Rat
der 5.000, d. h. aller derjenigen, welche einen Elefanten stellen konnten, be-
herrschte sie durch einen uparaya (Vizekönig) als Beamten
2
). Das Epos kannte
die königlosen Länder auch, sie galten ihm aber - entsprechend der Interessenlage
der vom Königtum ökonomisch und sozial abhängigen Priester - als unklassisch:
man soll in ihnen nicht leben
3
). Antze von ständischen” Rechten finden sich.
Die älten Versammlungen (Samiti und Sabha) des Volks zwar waren entweder
Heeresversammlungen oder aber von Anfang an - wie im Epos - Gerichtsver-
sammlungen, in welchen charismatisch oder durch ihre Aeltesten - Stellung quali-
fizierte Gesetzessprecher das Recht auslegten: ohne diese gilt die Versammlung
dem Epos nicht als rechtmäßige Sabha
4
). Im Epos fragen die Könige ihreVer-
wandten und Freunde um Rat; die Edlen, in Wahrheit: die höchsten Beamten, bil-
den bereits den königlichen Rat. Erhebliche Einschränkungen der königlichen
Machtstellung hatten sich aber in Südindien im Mittelalter erhalten: Repräsenta-
tiversammlungen mit Rechten nach Art unserer Stände. In den Städten finden sich
im Epos Aelteste der Stadt
5
) und Bürger (paurah
6
) neben den mit zunehmender
Schreiberverwaltung als Beamte immer mehr hervortretenden Priestern erwähnt,
welche in den späteren Partien des Epos fast allein die Ratgeber des Königs sind.
Die Stadt ist nun ein Ort wo gelehrte Priester sind”
7
) etwa so wie die altmittelal-
terliche civitas ein Bischofssitz war. In der Stadtverwaltung verwendet der König
in bestimmter Quote auch Beamte aus der Vaiçya - Kaste, wenn sie reich”, und
aus der Çudra - Kaste, wenn sie tugendhaft” sind (diese offenbar als Leiturgie-
oder Steuer - Kollekteure
1
) Dazu vgl. Lassen, J. A. III, 727 und 786.
2
) Für alles Folgende vgl. Hopkins im Journal of the Am. O. S. (I890) XIII p. 57 ff.
3
) XII, 67, 4 ff.
4
) V, 35, 58.
5
) V, 2, 7.
6
) I, 221, 31.
7
) III, 200, 92.
89
I. Das hinduistische soziale System. [89]
der nfte
1
): Immer aber sind es königliche Beamte, die jetzt verwalten. Es ist,
soviel bekannt, nirgends in dauernder und typischer Art eine republikanische
Stadtverwaltung occidentaler Art durchgebildet worden, so weitgehende Vorstu-
fen dafür vorhanden waren. Jedenfalls in der Masse aller indischen Städte blieb
stets der König und sein Beamtenstab Herr, so weitgehende Rücksicht sie sich im
Einzelfall gegenüber der Macht der Gilden auch auferlegen mochten. Aber diese
Macht war und blieb eben in aller Regel eine reine Geldmacht, hatte keine eigene
Militärorganisation hinter sich und mußte daher, sobald die Fürstengewalt ihr In-
teresse darin fand, sich auf Priester und Beamte zu stützen, zusammenbrechen.
Die Kapitalmacht war auch hier groß, so oft zahlreiche Kleinfürsten sich um die
Unterstützung durch ihre Finanzkraft bewarben: den Großkönigtümern gegenüber
konnte sie sich dauernd nicht behaupten, - ein im Kleinen wie im Großen überall
sich wiederholender Vorgang. - Dazu trat die innere Ueberlegenheit der von den
Brahmanen und Königen gegen die Gildenmacht ausgespielten Kastenorganisati-
on gegenüber jener. Die Kaste verfügte gegeber widerspenstigen Mitgliedern
über das Mittel der Exkommunikation, und es ist be- kannt, welche Rolle die Ue-
berlegenheit geistlicher Zwangsmittel wirtschaftshistorisch auch in unserem Mit-
telalter gespielt hat. Eine Gilde, welche ihren Verfügungen, z. B. über Innehaltung
der Konkurrenzschranken unter den Gildeleuten, Nachachtung verschaffen wollte,
konnte dies, wenn diese verschiedenen Kasten angehörten, letztlich oft nur, indem
sie sich an diese mit der Bitte um Anwendung ihrer Zwangsmittel wendete oder
den König anrief
2
). Nach Unterwerfung der Gildenmacht haben die Könige viel-
fach ihrerseits einzelne Händler als Königskaufleute mit weitgehenden Monopo-
len im merkantilistischen Interesse ausgestattet und ihnen dabei oft hohen Rang
verliehen, ganz wie wir dies in der Neuzeit auch im Occident kennen. Aber die al-
te Selbständigkeit der Gilden und ihre Stellung als Vertreter der Bürgerschaft
g e g e n den König war dahin. Sie hat übrigens auch schwerlich überall in Indi-
en bestanden. Unter der Mahrattenherrschaft war zwar der “Markt” Verwal-
tungszentrum, aber jeder Markt r sich, also waren in den Städten, wenn mehre-
re Märkte bestanden, die einzelnen Stadtteile mit ihrem Markt ein jeder wie ein
ländlicher Marktflecken (kuscha) gesondert organisiert. Von eigentlicher Selbst-
verwaltungoccidentaler Art war keine Rede. Von der alten Stellung der Gilden
und privilegierten königlichen” Kaufleute blieben in einigen Teilen Indiens, so
namentlich im Süden, im Mittelalter gewisse soziale Privilegien und auch Mono-
pole bestehen deren Inhalt im einzelnen nicht bekannt ist, die sich aber allmählich
in rein titulare Ehrenvorrechte auflösten
3
),
1
) XII, 88, 6 - 9; 118, 1 ff.
2
) Vgl. Imper. Gazetteer V, p. 101 für Ahmadabad.
3
) Tamil - Könige verleihen die Rechte des Aujuvannam und Manigranam in einer Stadt an fremde
Kaufleute (in einem Fall an einen Juden): Ep. Ind.
90
Hinduismus und Buddhismus. [90]
Die Deklassierung vieler Händlerschichten, das Aufkommen neuer, im monopoli-
stischen System der Patrimonialfürsten verwendeter
1
), spiegelt sich noch in der
heutigen Stellung der Händlerkasten Indiens. Reste der alten Gildenverfassung
und auch des Mahajan
2
), der Gildenverbrüderung, bestehen in Teilen von Guja-
rat
3
). Soweit nicht bestimmte Sekten, wie die Jainas, in einer tatsächlich kasten-
ähnlichen Organisation im Besitz des Handels sich erhalten haben - wovon in ei-
nem späteren Kapitel zu sprechen ist - bestehen einige dem alten Handelsstand,
den Vaniks, angehörige Kasten noch heute im alten Rangverhältnis. Dahin gehö-
ren vor allem die Bhaniya, welche überall, namentlich aber in Westindien, ver-
breitet, im Ganzen korrekte Hindus (Vegetarier und Alkoholabstinenten) sind
4
)
und den heiligen Gürtel tragen, während in Bengalen, dem Gebiet striktester pa-
trimonialbürokratischer Organisation durch die Sena - Könige, gerade die alten
Händlerkasten der Gandhabaniks und Subarnabaniks seit jener Zeit im Range tief
gesunken sind. Die ökonomisch neu hochkommenden Kasten der Spirituosen-
händler sind trotz ihres
III p. 67, IV p. 290 f. Der genaue Inhalt der Rechte scheint nicht feststellbar. Das erste, das
Fünf - Kasten - Recht”, nnte sowohl die Mitgliedschaft in einer Mahajan-Korporation der
Handwerker nach nordindischer Art wie ein Handelsmonopol gegenüber den 5 Handwerken
bedeuten. Diese “5 Handwerke” selbst sind wohl zweifellos die von den legendären 5 hnen
des Handwerkergottes Visvakarma geübten: Eisen-, Holz- Kupfer- und Messing-, Stein-,
Gold- und Silber - Arbeiten, von denen weiter unten noch zn reden sein wird. - Im zweiten Fall
werden ausdrücklich gewisse Gewerbe als dem beliehenen unterworfen und er selbst als
Stadtherr” bezeichnet und ein Kommissionar-(Verlags ?) - Monopol neben Steuerfreiheit als
in seinem Privileg enthalten erwähnt. Im übrigen sind mit diesen Stellungen bestimmte Revenü-
en und Ehrenrechte: Festkleider, Sänften, Schirme, Lampen, Musik usw. verbunden.
1
) So die Kaste der Lamanis oder Vanjanis, auch Banjaris genannt, in der Bombay Presidency, ein
wandernder Gaststamm, der s. Z. den Salz- und Kornhandel in den Hindustaaten des Westens
in Händen hatte und den Armeen folgte (im 16. Jahrh. erwähnt), vielleicht eine der Quellen der
heutigen Vania (Bania-) Kaste.
2
) Der Name Mahajan = “popolo grasso”, “big people”, war durchaus nicht auf Gilden beschränkt.
Die Inschriften zeigen im Gegenteil, daß er ursprünglich schlechthin “die Vornehmen”, auf dem
Lande die Brahmanen und daneben unter Umständen die anderen wiedergeborenen Kasten, be-
zeichnete. Aber in den Gildenepochen und Gildenstädten war es deren Bezeichnung und in ver-
schiedenen Gegenden namentlich des westlichen und zentralen Nordindiens gibt es noch heut
Händler - Unterkasten, welche ihn für sich mit Beschlag belegen.
3
) Darüber ist der Vorzügliche Aufsatz von W. Hopkins über die Gilden in seinem “India old and
new” zu vergleichen.
4
) Sie haben immerhin ihr Ritual derart geändert, daß es ihnen das dem Hinduismus, wie noch zu
besprechen, verdächtige Reisen nach auswärts gestattet. Das Maß der Anpassungsfähigkeit an
die modernen Verhältnisse ist bei den Händlerkasten je nach ihren Kastenregeln verschieden, je
nachdem sie z. B. Filialen gründen und die Kundschaft bereisen rnen. Die Bhaniya vor allem
sind darin ziemlich ungebunden, daher smodernere als andere Kasten.
91
I. Das hinduistische soziale System. [91]
zum Teil erheblichen Reichtums aus rituellen Gründen fast nirgends auf gleichem
Fmit den alten Händlerkasten zugelassen. Es kann hier in Einzelheiten nicht
eingegangen werden. Das Gesagte zeigt, wie sehr die heutigen Vaiçya - Kasten
die Spuren der historischen Schicksale Indiens und seiner politischen Verfassung,
insbesondere der Schicksale seinesBürgertums”, an sich tragen. -
Auf der anderen Seite spielt als ein Rest der alten Feudalzeit in die Gegenwart
hinein der meist relativ günstige Kastenrang solcher Berufskasten wie der Bar-
den
1
), Astrologen, Genealogisten, Horoskopsteller, die an jedem rstenhof und
in jeder vornehmen Familie der Vergangenheit - heute r breite Schichten auch
der brahmanenfeindlichen Unterkasten - unentbehrlich waren. Sie gehören fast
überall zu den Wiedergeborenen und rangieren oft noch vor der Vaiçya - Klasse.
Die hohe Rangstellung der schon erwähnten Bildungsaristokratie der Baidya
(Aerzte) hängt natürlich ebenfalls mit ihrer Beziehung zu den vornehmen Häusern
zusammen.
Der Vaiçya - Rang wurde und wird heute von nicht wenigen Kasten in Anspruch
genommen, welche früher Handwerkerkasten waren oder auch noch sind, dann
insbesondere, wenn sie eigenen Rohstoff auf Vorrat verarbeiten und ihr Produkt
frei verkaufen
2
), was ihnen die höfliche Anrede Vanik” (Händler) einzutragen
pflegt. Wir stehen damit an der Grenze des Gebiets, welches die Çudra - Kasten
besetzt halten. Diese Kasten waren Träger des indischen G e w e r b e s
3
).
Unter ihnen heben sich zwei Gruppen hervor. Zunächst eine insofern sozial, das
heißt: rituell, degradierte, als Brahmanen von ihnen kein Wasser nehmen, oder,
wo - im Süden - dies Merkmal fortfällt, weil jede Kaste nur von Kastengenossen
Wasser nimmt, ihnen nicht als Hauspriester dienen. Diese Klasse umft, neben
sehr verschiedenen Bestandteilen, zunächst und vor allem das alte Dorf - Gewer-
be, also die vom vollen Bodenbesitz ausgeschlossenen, auf Gartenland und Depu-
tat oder Lohn gesetzten Handwerker und Arbeiter, welche znr Ergänzung der
Hauswirtschaft des Bauern von Anbeginn der Siedlung an unentbehrlich waren.
Ihnen gleichgestellt waren und sind die andern auf Deputat gesetzten Gemeinde-
diener
4
), zu denen oft auch die Dorfpriester gehörten. Es darf wohl angenommen
werden, daß sie den historischen Kern der alten, von Grundbesitz im Dorf ausge-
schlossenen Çudra - Klasse bildeten. Ihnen gleichgeordnet sind von interlokalen
Gewerben regelmäßig die großen alten Weber - Kasten.
1
) So die weitverbreitete Kaste der Bhats.
2
) Das persönliche Erscheinen auf dem Markt galt dagegen bei guten Kasten als degradierend
und führte gelegentlich zur Kastenspaltung.
3
) Zum Nachfolgenden vgl. die kleine, gutes mir unzugängliches Material zitierende, Schrift
von Ananda K. Coomaraswamy (D. sc.), The Indian craftsman, Probsthain Ser. London (W.
C. 41, Great Russell St.) 1909.
4
) Die Zusammensetzung dieser Gewerbe war lokal überaus verschieden, wie erneut zu beto-
nen ist.
92
Hinduismus und Buddhismus. [92]
Sodann die Schneider, meist die Töpfer
1
), Teile des Hausierhandels und die Spiri-
tuosenhändler und Oelpresser, endlich zahlreiche Kasten von Landarbeitern und
Kleinbauern. Diese Ungenossen des Dorfs bildeten in größern Orten wo sie zahl-
reich genug waren, zuweilen eine Sondergemeinschaft, mit einem besonderen pa-
tel, den das vornehmste Gewerbe, z. B. die Zimmerleute, stellte
2
). Ihnen überge-
lagert findet sich eine andere, wesentlich weniger degradierte, als rein” geltende
Schicht. Neben einer ganzen Reihe von Bauern - Kasten, die in den einzelnen
Gebieten sehr verschiedenen Rang einnehmen und quantitativ die Masse dieser
Klasse bilden, findet sich unter ihnen in ziemlich typischer Art eine qualitativ
wichtige Kategorie von Kasten: die sogenannte Nabasakh- oder Neun - Teile -
Gruppe. Sie bildeten offenbar den Kern der sogenannten Satçudra (“reine” Çu-
dra). Die Berufe dieser Gruppe umfassen städtisches Gewerbe und städtischen
Handel: Betel-, Parfüm-, Oel - Verkäufer, Zuckerbäcker, Gärtner, zuweilen Töp-
fer. Ihnen gleich oder übergeordnet stehen die Gewerbe der Gold- und Silber-
schmiede, Lack - Arbeiter, Maurer, Zimmerleute, Seidenposamentiere und eine
Reihe ähnlicher spezifische Luxus- oder Stadtgewerbe. Andere Kästen gehören
kraft zufälliger historischer Umstände dazu
3
). Ebenso gibt es Çudra - Kasten von
Hausdienern verschiedener Art welche als rein gelten: Die Ratio dieser Klassi-
fikation war offenbar nicht einheitlich. Zu einem Teil sprachen rein praktische
Nötigungen mit. Einen Mann, der ganz persönliche Dienste leisten, die Person
des Kunden berühren und versorgen sollte, wie ein Hausdiener oder Barbier es
tut, konnte man nicht gut in eine unreine Kaste verweisen. Zu einem anderen Teil
dürfte die Ansicht im Rechte sein: daß die erst mit der Entwicklung der Städte
entstandenen Handwerker, weil sie nicht Dorfhörige waren, von Anfang an diesen
Knechten” sozial übergeordnet und deshalb auch rituell privilegiert waren
4
). Die
am städtischen Detailverkehr teilnehmenden Gewerbe waren in der Tat schon um
dieser persönlich unabhängigen ökonomischen Stellung willen in sozial nstiger
Lage. Sie waren überdies vielfach in den Gilden der Städtezeit mit organi-
1
) Der Kastenrang des Töpfer ist sehr verschieden, je nachdem sie an der Scheibe arbeiten oder
die Form gebrauchen, Ochsen halten oder den stets degradierenden Esel verwenden.
2
) Einen solchen Fall zitiert Coomaraswamy a. a. O. S. 4 aus der mir unzugänglichen Schrift
von Weddeburn, “The Indian Raiyat as member of the Village Community”, London 1883.
3
) Zur Nabasakha - Gruppe gehörten in Bengalen, wo sie 1901 16,4 % der Bevölkerung aus-
machte, ursprünglich (und machen noch jetzt 84 % ihres Bestandes aus) folgende Kasten : 3
Bauernkasten (die Baruis, Malakan und Sadgop), die Schmiede und verwandte Metallarbei-
ter (Kamar); Töpfer (Kumhar), Barbiere (Napit), Konfektmacher (Mayra), Weber (Tanti),
Oelpresser (Teli). Die Stellung der Weber und Oelpresser ist meist, die der pfer oft we-
sentlich niedriger.
4
) Ueber die Scheidung der alten und neuen Klassen von Dorfbediensteten, die ebenfalls mit
dieser Entwicklung zusammenhängt, s. oben Anm. 3 S. 58.
93
I. Das hinduistische soziale System. [93]
siert, während Kasten wie die Weber hier ebenso wie im Occident von den Gil-
den im Lohnwerk beschäftigt und stark gedrückt waren. Hier wirft also einmal die
ökonomische Gliederung der alten Stadtwirtschaft oder vielmehr das, was an An-
sätzen zu einer solchen in Indien vorhanden war, ihre Schatten noch in die Ge-
genwart hinein. Ihre Bedeutung für die Entwicklung der Kasten der Çudra - Klas-
se min jedem Fall groß gewesen sein.: In der alten Literatur
1
) findet sich die
Auffassung vertreten, daß die Städte überhaupt wesentlich Ansiedelungen von
Çudras, Gewerbetreibenden, seien. Aber keineswegs nur die Stadtwirtschaft und
die spätere Entstehung einzelner Handwerke auf ihrem Boden erklärt den Ran-
guntersehied zwischen den einzelnen Gewerben.
Die Rechtsbücher
2
) weisen dem Çudra die Pflicht des Dienens” zu. Nur wenn er
keinen Dienst findet, darf er selbständiger Händler oder Gewerbetreibender sein.
Wenn irgend etwas überhaupt, dann könnte aus dieser Sentenz nur geschlossen
werden: daß den Sklaven und Hörigen großer Herren, soweit sie nicht im eigenen
Oikos verwertbar waren, in ähnlicher Art wie im occidentalen und orientalischen
Altertum und Mittelalter und in Rußland bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft,
von dem Herrn die Erlaubnis gegeben wurde, gegen Abgaben (Apophora, Obrok,
Leibzins) selbständig auf eigene Rechnung zu arbeiten. Direkte Beweise dafür
scheinen zu fehlen. Immerhin finden sich noch heute Spuren ähnlicher Zustände
3
)
und die geringe Bedeutung eigentlicher Fron - Sklaverei in der indischen Er-
werbswirtschaft stimmt damit gut zusammen. Jedenfalls aber zeigen die Quellen
unzweideutig, daß es neben 1. den sicherlich besonders bedeutsamen spezifisch -
indischen Dorfhandwerkern und 2. den städtischen Zunfthandwerkern auch 3. die
herrschaftlichen Handwerker gab. Alle diese aber scheinen nicht der eigentliche
Urtypus zu sein.
Die ökonomische Ordnung des indischen Gewerbes in der Zeit seit dem Epos und
bis in däs Mittelalter, zum Teil bis in die Neuzeit, kannte vier Arten von Hand-
werkern: 1. Heloten der einzelnen Dörfer, welche auf deren Wurthen gegen festes
Deputat oder mit Land angesiedelt waren (Heloten - Handwerk); die Arbeit ge-
schah fast durchweg in strenger Lohnwerksform, d. h. der Kunde hatte alles Ma-
terial zu liefern. 2. Handwerker, welche in gesonderten Handwerkerdörfern unter
eigener Verwaltung angesiedelt waren
4
), dort ihre aus eigenen
1
) Kautaliya Arthasastra, herausgegeben von Shamasastry (Ind. Ant. 34, 1905).
2
) Manu VIII, 413. X, 99, 100.
3
) In Nordwestindien z. B. besteht eine kleine Kaste von “Sklaven”, d. h. Hausarbeitern, wel-
chen wegen mangelnden Bedarfs an Hausarbeit von ihren Herren der freie Erwerb erlaubt
worden ist.
4
) Z. B. setzt die große Inschrift Ep. Ind. V p. 23 f. (Stiftung eines Chalukya - Königs) wohl
entschieden voraus, daß die darin mit ihrem Gouda (Dorfvorstand) erscheinende Webergilde
ein besonderes Weberdorf bewohnte; neben ihr kommen die Getreideimporteure, Palmsaft-
destillateure und Oelpresser des Stiftungsorts
94
Hinduismus und Buddhismus. [94]
Rohstoffen hergestellten Waren oder Dienste feil hielten oder auch selbst oder
durch Händler auswärts vertrieben oder auf die Stör gingen (Stammeshandwerk).
3. Handwerker, welche der König oder ein Fürst oder ein Tempel oder Grundherr
auf eignem Land angesiedelt hatte, - als Hörige oder als freie, aber arbeitspflichti-
ge Leute, - und welche seinen Bedarf an Gewerbeartikeln deckten (entweder Oi-
kenhandwerk oder leiturgisches
1
) Handwerk, letzteres teilweise kombiniert mit
Preiswerk). 4. Unabhängige Handwerker, welche in Städten in bestimmten Stra-
ßen angesiedelt waren und ihre Waren als Preiswerker oder ihre Dienste als
Lohnwerker auf einem Bazar feil hielten (Bazar - Handwerk). Die letzte Katego-
rie war wohl zum erheblichen Teil nicht dauernd stadtsässig, sondern ein Ableger
der zweiten Kategorie: noch heut wird aus Bombay berichtet, daß der Handwer-
ker oft wieder aus der Stadt in sein Kastendorf zurückzieht, wenn er alt oder hin-
länglich wohlhabend geworden sei. Jedenfalls ist sie nichts Primäres. Die dritte
Kategorie ist natürlich ebenfalls nichts Primäres. Die Fürsten, namentlich auch die
reichen Fürsten der südindischen und ceylonesischen Handelsstädte, haben für
den Bau von Palästen und Tempeln Handwerker von weit her kommen lassen und
mit Land gegen die Verpflichtung zu Bau- und Kunsthandwerks - Diensten für
den Hof angesiedelt. Die Rechtsform ist verschieden und es findet sich, neben
diesen rein leiturgischen durch Dienst - Pfründe gelohnten und den Deputat -
Handwerkern, auch kontraktlich freie oder tarifierte Lohnarbeit freier zugewan-
derter Handwerker
2
). Die erste Kategorie: das Heloten - Handwerk, ist recht
wahrscheinlich mindestens sehr oft aus der zweiten abgeleitet, indem man Hand-
werker aus Pariastämmen, die zunächst auf der Stör Dienste geleistet hatten, in
das Dorf berief und dort ansiedelte. Wie alt dies Heloten - Handwerk eigentlich
ist, läßt sich nicht sagen, da die ältesten Quellen einen deutlichen Einblick in die
Lage der Handwerker nicht gewähren. Doch ist es sehr wahrscheinlich, daß seine
Entwicklung der festen Siedelung bald nachfolgte. Die eigentlich primäre Form ist
aber aller Wahrscheinlichkeit nach das Stammeshandwerk, der Zustand also, daß
ein Stamm oder ein Bruchteil eines solchen vom eigenen Dorf aus zunehmend für
den Fernabsatz produzierte, eventuell auch teilweise in die he von rstensit-
zen und Höfen wanderte und dort neue geschlossene Handwerkerdörfer entstehen
ließ. Denn von solchen wird uns gerade aus der Nähe derartiger Orte berichtet.
und dessen Gouda nebst seiner Sippe vor, und allen werden vom König bestimmte Abgaben
zu Gunsten Mahadeva's (Çiva's) und seiner Gattin auferlegt.
1
) Dahin gehörten seit dem Aufkommen des Patrimonialismus vor allen Dingen die Militär-
handwerker (Schiffsbauer und Panzermacher) welche, wie berichtet wird, vielfach nicht für
Private arbeiten durften. Auch Schmiede und ähnliche Handwerker wurden besonders
streng beaufsichtigt (es sind die Gewerbe, welche im altmischen Staat die “centuria fa-
brum” bildeten).
2
) Die Land - Pfründen der ceylonischen Königshandwerker richteten sich in ihrem Umfang
nach der Art der Dienste. Es war rechtlich dem Handwerker jederzeitiger Austritt aus dem
Dienst unter Verzicht auf die Pfründe gestattet.
95
I. Das hinduistische soziale System. [95]
Es scheint nun - und ist auch an sich verständlich -, daß die Königshandwerker,
welche wie die Brahmanen auf den Ruf eines rsten hin sich einfanden und an-
siedeln ließen, im ganzen den vornehmsten Rang unter den Handwerken behaup-
teten
1
). Namentlich die große Bauten - Epoche, welche nach Einführung des
Steinbaus in Indien (3. Jahrh. vor Chr.) einsetzte
2
), mußte die Nachfrage nach ih-
nen, zumal nach den nun ganz neu entstehenden Handwerken der Steinmetzen
und Maurer heben und mit deren Stellung auch der ihrer Hilfshandwerker und des
Dekorationsgewerbes zugute kommen. Ebenso der dann folgende Edelmetall -
Import aus dem Occident den entsprechenden Handwerken. Ein wichtiges Bei-
spiel sind die Kammalar -Handwerker dindiens und der nächstliegenden Inseln,
der dortigen Rangfolge nach: 1. Eisen-, 2. Holz-, 3. Kupfer- und Bronze-, 4.
Stein- und 5. Edelmetall- und Juwelen - Arbeiter, die Fünf - Kasten - Handwerker
(Panch-vala), wie sie in Mysore genannt wurden
3
). Sie verehrten Visvakarma als
Ahnherrn und Berufsgott, hatten - wie schon früher erwähnt - eigene Priester und
beanspruchten hohen Rang, gelegentlich sogar brahmanische Abkunft
4
). Das gro-
ße noch bestehende Kastenschisma des dens in die Kasten rechter” und lin-
ker Hand” wurde durch ihre Auflehnung gegen die Brahmanen getragen. Jeden-
falls war ihr Rang im allgemeinen
5
) höher als derjenige alter Lokalgewerbe wie z.
B. der Töpfer und Weber
6
). Doch richtete sich der soziale Rang und ebenso die
ökonomische Machtlage nach oft sehr individuellen Verhältnissen
7
).
1
) Diese Handwerker genossen einen außerordentlich starken persönlichen Schutz. Wer einem
Handwerker rperlich schwer schädigte, hatte unter der Maurya - Dynastie Todesstrafe zu
gewärtigen. Der gegen andere Gebiete relativ gehobene Rang der Tanti -(Weber-) Kaste in
Bengalen ist vielleicht aus ihrer Herkunft aus einem Königshandwerk dort zu erklären.
2
) Die alte Stadt Pataliputra hatte bis auf König Açoka (3. Jahrh. vor Chr.) Holzmauern: erst
durch ihn erhielt sie Backsteinmauern und Steinhäuser. Auch das indische Großnigtum
schuf seine Bürokratie wenigstens zum Teil als Baubürokratie.
3
) Im Epos: Panchkhalsi. Sie haben lange Commensalität und Berufsaustauschbarkeit bewahrt.
4
) Ueber die Kammalars vgl.Coomarasvamy a. a. O. S. 55. 56. In der Provinz Bombay finden
sich die gleichen 5 Handwerke: Schmiede, Zimmerer, Kupferschmiede, Steinmetzen, Gold-
schmiede, als panchalszusammengefaßt. Da sie eigene Priester bescftigten, aber alle
vedischen Riten befolgten (Vegetarismus, Alkoholabstinenz) und Brahmanen zu sein prä-
tendierten, wurden sie unter den Mahratten - Peschwas oft verfolgt.
5
) In Malabar galten sie, vermutlich weil sie Schismatiker waren, als unrein.
6
) Auch durch eine und dieselbe Kaste geht dieser Riß. Die Sutars im Bombay sind als Dorf-
zimmerleute Deputatisten des Dorfs. Ihre stadtsässigen Kastengenossen wurden Schiffsbau-
er, beanspruchten nun “Brahmanen” zu sein und brachen, als dies abgelehnt wurde, unter
Ausbildung eigener Priester wenigstens die Kommensalität mit den Dorfzimmerleuten ab.
7
) Schon wenn der Dorfgenosse vom Heloten - Handwerker irgendeine
96
Hinduismus und Buddhismus. [96]
Die literarischen und monumentalen Quellen ergeben den beträchtlichen Umfang
dieses fürstlichen Oiken- und leiturgischen Handwerks
1
). Es finden sich nun fast
stets fürstliche Beamte und bei den Großkönigen Ministerialkomitees für das
Gewerbe, und diese Aemter können nicht wohl etwas anderes als die Beaufsichti-
gung der Arbeiten dieser Handwerker bezweckt haben
2
). Daß an Stelle der Fron-
den vielfach Geldleistungen traten
3
), entspricht dem Typus der Verwaltungsent-
wicklung und rückte diese Handwerker dann in eine Reihe mit den lizenz- und
steuerpflichtigen anderen Gewerben der königlichen Städte. Die Steuerleistung
galt als Entgelt des wohl fast überall den angesiedelten Handwerkern in irgendei-
nem Umfang gewährten gewerblichen Monopols
4
). Nach der anderen Seite findet
sich aber auch innerhalb des fürstlichen Oikos die Entwicklung zum Ergasteri-
on
5
), wie es uns aus dem späteren Altertum des Occidents und namentlich aus
Aegypten bekannt ist und im byzantinischen und vorderasiatischen Mittelalter
vertreten war. Wenn wir nun königliche Verleihungen von Handwerkern an Tem-
pel oder Brahmanen oder ritterliche Vasallen finden
6
), so werden darunter im all-
gemeinen wohl Oiken- oder Leiturgiehandwerker verstanden sein. Ganz auszu-
schließen ist indessen nie, daß der König, der zunehmend das Obereigentum am
Boden und die freie Verfügung über die ökonomischen Leistungen der Untertanen
in Anspruch nahm, auch andere, sei es Helotenhandwerker oder sei es selbst
Stam-
Vorrichtung außer der Reihe oder über dessen traditionelle Leistung hinaus forderte, etwa
Reparaturen außer der Zeit, mte er mit ihm besondere Uebereinkunft treffen und das Mo-
nopol des Handwerkers wirkte dann zu dessen Gunsten. Insbesondere der Dorfschmied
scheint in Indien wie anderwärts sehr oft erhebliche Prätensionen erhoben zu haben.
1
) Diese Königshandwerker (und die ihnen gleichartigen Tempelhandwerker) waren die Träger
der Qualitätsarbeit des indischen Kunsthandwerks. Auf ihrer Pfründe gesichert, konnten sie
die Zeit” erschwingen, kunstgewerbliche Produkte herzustellen. Coomaraswamy erwähnt,
ohne nähere Angaben, eine Vase in Delhi, an der drei Generationen einer Königshandwer-
kerfamilie geschaffen hatten.
2
) Was die Griechen und die einheimischen Quellen (Kautaliya Arthasastra) von solchen nig-
lichen “boards of trade” berichten, dürfte dem Wesen nach den Einrichtungen gleichen, wel-
che Robert Knox 1682 für Ceylon berichtet. (An historical relation of the Island Ceilon, mir
unzugänglich, exzerpiert bei Coomaraswamy a. a. O. S. 34 ff.).
3
) Die Leiturgie der niglichen Goldschmiede, Schmiede, pfer usw. war zu festen Sätzen in
Gold ablösbar (Coomaraswamy a. a. O. S. 38. 39).
4
) Die Handwerker waren daher, als nach Beseitigung der Monopole und Handwerkssteuern
die Konkurrenz der englischen Fabrikwaren über sie hereinbrach, der Ansicht, die Abschaf-
fung der Steuer habe ihre Existenz untergraben. Coomaraswamy a. a. O.
5
) Solche sind für Ceylon in ihrer Organisation geschildert bei Knox (exzerpiert bei Coomaras-
vamy a. a. O. p. 33 f. ) und den pharaonischen, späthellenistischen, byzantinischen und isla-
mischen offenbar sehr ähnlich gewesen.
6
) Z. B. Ep, Ind. III, 295 f. (11. Jahrh.) und oft.
97
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
I. Das hinduistische soziale System. [97]
meshandwerker, verliehen haben könnte, obwohl es im ganzen nicht gerade
wahrscheinlich ist.
Die städtischen Handwerker nahmen in der Zeit der Gildenmacht zum Teil an de-
ren Aufschwung teil. Sie hatten, wo sie innungsmäßig organisiert waren, oft hohe
Zunft - Einkaufsgelder (je nach dem Handwerk bis zu mehreren hundert Mark: -
in Indien damals ein kleines Vermögen), aus denen sich in den reichen Preiswer-
ker - Innungen die Erblichkeit der Stellen ebenso entwickelte wie bei den Händ-
lergilden, legten Geldbußen auf, regulierten mit diesen Zwangsmitteln die Arbeit
(Feiertage, Arbeitszeit) und schufen vor allem Qualitätsgarantien für die Waren.
Allein viele Handwerker befanden sich wie gesagt, offenbar in starker Abhängig-
keit von den Händlern, die sie verlegten und im übrigen teilte ihre Selbstverwal-
tung mit der Entwicklung des Patrimonialismus das Schicksal der Gilden gegen-
über der nun vordringenden Kastenorganisation und der Macht der königlichen
rokratie. Königliche Gildemeister finden sich schon fh, und gerade in den
Städten, als Fürstensitzen, kontrollierte der König im fiskalischen Interesse die
Handwerke sicherlich zunehmend streng. Diese fiskalischen Interessen mögen mit
zur Festigung der Kastenordnung beigetragen haben. Selbstverständlich ist anzu-
nehmen, daß zahlreiche Gilden direkt zu Kasten (oder Unterkasten) sich entwik-
kelten oder auch von Anfang an, als Glieder von Pariastämmen, nicht von ihnen
geschieden waren.
Die Handwerkskasten, mindestens die Oberkasten unter ihnen, die Kunsthand-
werker, hatten ein festes Lehrsystem. Der Vater, Oheim, ältere Bruder, nimmt die
Stellung als Lehrherr und, nach Abschluß der Lehre, als Hausherr ein, dem aller
Lohnverdienst abzuliefern ist. Lehre bei einem fremden Meister der Kaste kommt
vor, sie geht nach strengen traditionellen Normen vor sich und schließt Aufnahme
in die Hausgemeinschaft in sich, mit entsprechender Unterwerfung unter den Leh-
rer. Der Theorie nach sollte der Lehrling dabei nach den Anweisungen des Silpa
Çastra, eines Produkts der Priestergelehrsamkeit, über die Grundlagen der Tech-
nik angelernt werden. Die Steinmetzen namentlich galten stellenweise infolgedes-
sen als Literatenkaste und führten den Titel acarya (“Lehrer” = magister)
1
).
Die technischen Werkzeuge der indischen Handwerker waren im allgemeinen so
einfach, daß wenigstens ein beträchtlicher Teil von ihnen vom Handwerker selbst
hergestellt werden konnte. Nichtsdestoweniger genossen sie in manchen Hand-
werken Fetisch - artige Verehrung und wurden mehrfach noch bis in die Gegen-
wart am Dasahra - Fest von der Kaste kultisch verehrt. Neben den sonstigen tra-
ditionalistischen gen der indischen Kastenordnung war diese Stereotypierung
der Werkzeuge (der auf dem Gebiet der bildenden Kunst die Stereotypierung der
Modelle und die Ablehnung alles Formens
1
) Mit dieser schwankenden Rangstellung ist für den Occident das bekannte, durch Hasack be-
handelte Problem der Stellung des “Architekten” in der Zeit des Baues der gothischen Do-
me in Parallele zu setzen.
98
Hinduismus und Buddhismus. [98]
nach der Natur entsprach) eines der stärksten Hemmnisse jeder technischen Ent-
wicklung. Bei manchen Bauhandwerken und namentlich allen mit Kultobjekten
beften Gewerben hatten überdies auch Teile des technischen Prozesses (z. B.
das Malen der Augen des Kultbildes) den Charakter einer magisch relevanten Ze-
remonie angenommen, die nach bestirnmten Regeln zu erfolgen hatte. Ueber
Aenderungen der Technik wurde oft ein - meist negativ ausfallendes - Orakel ein-
geholt, so von den Töpfern einmal das der Göttin Bhagavati.
Wie alt in den einzelnen Gebieten die strenge Kastenabgeschlossenheit der ein-
zelnen Königs- und der Stadthandwerke war, wird sich im einzelnen schwerlich
ermitteln lassen. Betrieb mehrerer Handwerke nebeneinander findet sich
1
),
daneben aber - und zwar als Regel - strenger erblicher Kundschaftsschutz.
Die unterste Kastenschicht endlich, welche als schlechthin rituell unrein und infi-
zierend galt, umfaßt zunächst eine Anzahl Gewerbe, welche fast überall als ver-
achtet galten, weil sie sich mit physisch schmutzigen Diensten befassen: - so die
des Straßenfegers und ähnliche, - ferner eine Anzahl solcher , welche aus zwin-
genden rituellen Gründen für den Hinduismus unrein sein mußten, wie die der
Gerber und Lederarbeiter, und endlich einige Gewerbe, welche in den Händen
von wandernden Gastarbeitern lagen. Aber es wäre nun äußerst verkehrt, zu
glauben: die drei hier unterschiedenen Schichten der Gewerbe: ursprünglich städ-
tische oder königliche Handwerker, ursprünglich ländliche Dorfhandwerker, ur-
sprüngliche Gastgewerbe, fielen auch nur annähernd vollständig in die drei ka-
stenmäßigen Rahmen der Satçudra, gewöhnlichen Çudra und und unreinen Ka-
sten hinein, sofern man nur von den spezifisch rituell bedingten Ausnahmen (wie
z. B. den Ledergewerben) absehe. Auch außerhalb der direkt oder indirekt rituell
bedingten Durchbrechungen jener Regel bietet dazu die Kastengliederung ein viel
zu buntes und irrationales Bild. Sehr zahlreiche Fälle zunächst unerklärlichen Ka-
stenranges sind durchaus nur konkret historisch aufzuklären. r zahlreiche ande-
re lassen sich allgemeine Gründe angeben, auf denen die Degradation oder He-
bung einer Kaste oder Unter - Kaste zu beruhen pflegt. Diese hängen aber mit den
Anlässen zusammen, aus denen überhaupt Kasten und Unter - Kasten neu entste-
hen oder ihren Charakter ändern, und wir kommen damit nach diesem Ueberblick
über die tatsächliche Kastenrangordnung wieder auf die allgemeinen Verhältnisse
zurück.
Die Bearbeiter des englischen Zensus unterscheiden mit Recht zwei Grundtypen
von Kasten: tribal castes” und professional castes”, Stammes- und Berufs - Ka-
sten. Ueber die ersteren ist schon früher Einiges gesagt und hier nur hinzuzufü-
gen: daß
1
) Beispiel: Vereinigung von Holz- mit Stein- und Metall - Arbeit in North Jaipur, nach der von
Coomaraswamy a. a. O. S. 56 zitierten Beobachtung von Col. Hendley, Indian jewellery p.
153.
99
I. Das hinduistische soziale System. [99]
die Zahl derjenigen Kasten, welche mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf
hinduisierte Stämme und Gastvölker dem Ursprung nach historisch zurückgedeu-
tet werden müssen, außerordentlich groß ist. Sie vornehmlich machen das Bild
der Kastenrangordnung so überaus irrational. Denn es ist klar, daß ein Stamm,
welcher bei der Hinduisierung auf eigenem Bodenbesitz ansässig war, unter sonst
gleichen Umständen einen wesentlich höheren Rang behaupten mußte, als ein
hinduisierter reiner Paria” - Stamm, und daß ein Stamm, welcher Reisläufer und
Söldner gestellt hatte, darin noch nstiger fuhr. Kenntlich ist eine Stammeska-
ste” an der Art des Namens - doch haben nicht wenige Stämme bei der Hinduisie-
rung Berufs - Namen angenommen -, ferner daran, daß (oft) ein gemeinsamer Ah-
ne angegeben wird (bei den echten oberen Kasten pflegen Ahnherrn der Unterka-
sten zu figurieren), ferner oft an Resten totemistischer Organisation, an dem Fest-
halten von Stammesgöttern und, vor allem, Stammespriestern als Kastenpriestern,
endlich an ausgesprochen örtlicher Rekrutierung aus bestimmten Gebieten. Die
beiden letztgenannten Merkmale sind jedoch nur dann wichtig, sofern noch das
eine oder andere der sonstigen Kennzeichen vorliegt: denn es gibt auch reine Be-
rufskasten von ziemlich streng örtlicher Rekrutierung und mit eigenen Priestern.
Ferner ist die Endogamie bei Stammeskasten oft laxer entwickelt und pflegen sie,
je näher sie dem Charakter als Stamm noch stehen, desto weniger exklusiv in
bezug auf die Eingliederung von Kastenfremden zu sein. Reine Berufskasten sind
in all diesen Dingen, im allgemeinen wenigstens, die exklusivsten, ein Beweis,
daß die rituelle Kastenexklusivität zwar durch ethnische Fremdheit mitbedingt,
aber keineswegs nur deren religiöse Projektion ist. Am deutlichsten ist die Stam-
meskaste als solche da kenntlich, wo von mehreren Kasten des gleichen Berufs
eine oder einige neben dem üblichen Berufskastennamen noch einen Stammesna-
men hren. In welchem Umfang die Kasten ursprünglich Stammeskasten waren,
ist nicht feststellbar. Gerade die niederen Kasten rften in sehr großem Umfang
aus Gast- und Pariastämmen hervorgegangen sein. Immerhin sicherlich nicht alle.
Am relativ wenigsten rften die oberen Handwerke, besonders die städtischen
freien und leiturgischen Handwerke und die alten Händlerkasten diesen Ursprung
haben. Sie sind wahrscheinlich meist Produkte ökonomischer Spezialisierung,
Besitz- und Arbeits-
100
Hinduismus und Buddhismus. [100]
Differenzierung und nur, daß diese zur Kasten” - Bildung führte, ist das Spezifi-
sche und Erklärungsbedürftige der indischen Entwicklung.
Anders als durch Rezeption von Stämmen in die Kastenordnung kann sich diese
nur durch Kastens p a l t u n g modifizieren.
Eine solche Kastenspaltung; welche stets in der Ablehnung des Konnubium und
der Kommensalität (ganz oder teilweise) sich ausdrückt, kann zunächst durch
O r t s w e c h s e l von Kastenmitgliedern erfolgen. Denn dieser macht die
Fortgewanderten der Verletzung der rituellen Kastenpflichten verdächtig oder
schließt mindestens die Kontrolle der Korrektheit aus
1
). Wie nur der indische Bo-
den und nur soweit als die richtige Kastenordnung auf ihm besteht, rituell heiliger
Boden sein kann, so gilt der strengen Observanz selbst innerhalb Indiens der
Ortswechsel, der in eine Umwelt anderen Rituals hrt, als bedenklich und sogar
schon das Reisen als nur in Fällen der Notwendigkeit unbedenklich. Die Binnen-
wanderung in Indien ist deshalb noch heute wesentlich geringer, als bei den star-
ken Umwälzungen der ökonomischen Verhältnisse an sich zu erwarten wäre.
Mehr als neun Zehntel der Bevölkerung wohnen im Distrikt ihrer Geburt und nur
die alte Dorf - Exogamie hrt regelmäßig zu Umsiedelungen in ein anderes Dorf.
Dauernde Uebersiedelung von Kastenmitgliedern nach anderen Orten hat sehr re-
gelmäßig die Abspaltung neuer Unterkasten zur Folge, indem die zurückbleiben-
den Kastenmitglieder die Nachfahren der Fortgewanderten nicht mehr als voll
gelten lassen.
Da die Wanderung des hinduistischen Systems sich vom oberen Ganges aus nach
Osten zu vollzog, so sind im allgemeinen, unter sonst gleichen Bedingungen, die
östlichen Unterkasten einer Kaste geringer angesehen als die westlichen.
Kasten spalten sich ferner, sobald ein Teil der Kaatenmitglieder im Gegensatz zu
anderen irgendwelche rituelle Vorschriften als fernerhin nicht für sich bindend
anerkennt oder umgekehrt rituelle Pflichten neu auf sich nimmt. Beides kann ver-
schiedene Gründe haben, nämlich 1. Sektenzugehörigkeit, welche von bestimm-
ten rituellen Vorschriften entbindet oder neue auferlegt. Der Grund ist nicht allzu
häufig. 2. Besitzesdifferenzierung,
1
) Das Wanderleben der Viehzüchter trug auch dazu bei, ihren Rang zu drücken. Ueber das
Reisen der Händler s. oben Note 4, S. 50.
101
I. Das hinduistische soziale System. [101]
welche die vermögenden Mitglieder veranlaßt, Ritualpflichten höherer Kasten auf
sich zu nehmen, um fortan mit diesen oder jedenfalls höher als bisher zu rangie-
ren. Dafür ist der Abbruch des Konnubium und der Kommensalität mit den bishe-
rigen Kastengenossen Vorbedingung. Es ist heute eine ziemlich häufige Erschei-
nung, daß bloße Besitzdifferenzierung zum Anl genommen wird, die Gemein-
schaft zu sprengen. 3. Wechsel der Beschäftigungsart. Nach strenger Observanz
kann nicht nur jeder Uebergang zu einer anderen als der traditionellen Beschäfti-
gungsart, sondern unter Umständen ein bloßer Wechsel der Arbeitstechnik Grund
für die in der Tradition bleibenden werden, die Gemeinschaft als abgebrochen an-
zusehen. Wenn nun auch in der Praxis diese Folge keineswegs immer eintritt, so
ist doch dieser Grund einer der häufigsten und praktisch wichtigsten Anlässe aller
Spaltungen. 4. Erschütterung der rituellen Tradition bei einem Teil der Genossen,
welche die strenge. Observanz zur Aufkündigung der Gemeinschaft veranlaßt.
Auch heute können ferner Kasten durch rituell unzulässigen zwischenkastlichen
Geschlechtsverkehr entstehen. Nach der klassischen Theorie waren bekanntlich
alle unreinen Kasten aus Kastenmischlingen entstanden. Das ist natürlich durch-
aus unhistorisch. Allein r die Kastenentstehung durch Kastenmischung, also
durch Konkubinat, gibt es auch jetzt noch Beispiele. Endlich kommt Spaltung au-
cli einfach als Folge von inneren Streitigkeiten über gleichviel welche Anlässe
vor, sofern eine Schlichtung nicht gelingt. Doch gilt dieser Grund als mißbilli-
genswert und gern werden angebliche rituelle Verstöße des Gegners vorgescho-
ben.
Die uns am meisten interessierenden Entstehungsgründe neuer Kasten und Unter-
kasten sind die ökonomischen: Besitzdifferenzierung und Berufswechsel oder
Wechsel der Technik. Es darf mit Bestimmtheit angenommen werden, daß die
Besitzdifferenzierung - einen legalen Berufswechsel gab es nur in Form der Not-
berufe- früher, unter den nationalen Dynastien, weit weniger häufig diese Folge
hatte, als in neuester Zeit. Denn die Macht der Brahmanen, die damals ungleich
größer war, setzte sich überall r die Erhaltung der einmal eingelebten Kasten-
ordnung ein. Konnte die Festigkeit der Kastenordnung damals die Entstehung von
Besitzdifferenzierung nicht hindern, so um so mehr die Entstehung neuer, vom
Kastenstandpunkt
102
Hinduismus und Buddhismus. [102]
beanstandeter Arbeitstechnik und den Berufswechsel. Beides war rituell gefähr-
lich. Es ist selbst heute der Umstand, daß neue Berufe und Techniken eigentlich
die Bildung von neuen Kasten oder Unterkasten bedingen, schon rein an sich ein
starkes Hemmnis gegen Neuerungen und zugunsten der Tradition, mag auch noch
so oft die heute übermächtige Entwicklung des importierten Kapitalismus darüber
hinweggehen.
Alle historischen Anzeichen sprechen dafür, daß die eigentliche strenge Kasten-
ordnung auf dem Boden der Berufskasten ihren ursprünglichen Sitz hatte. Zu-
nächst schon die geographische Verteilung zwischen Stammes- und Berufskasten.
Ob eine Kaste ursprünglich aus ethnischer Differenz oder aus gentilcharismati-
scher Berufsdifferenzierung entstanden ist, kann freilich, für ältere Kastenbildun-
gen zumal, nur selten sicher gesagt werden
1
). Immerhin ist soviel ersichtlich, daß
auf dem spätern Eroberungsgebiet Ostbengalens und im den die als ursprüngli-
che Stammeskasten erkennbaren Kasten an relativer Zahl und Bedeutung gegen-
über den Berufskasten ungleich stärker vertreten sind als auf dem klassischen
Boden des mittleren Nordindien, wo der nachweisliche oder vermutliche Ur-
sprung aus gentilcharismatischen Berufsklassen ohne ethnische Differenz sich re-
lativ wesentlich stärker vertreten findet als dort
2
): Ferner sind gerade die Berufs-
kasten und insbesondere die des Gewerbes - neben den reinen Bauernkasten, bei
denen ja diese Erscheinung wesentlich selbstverständlicher erscheint - Träger der
strengen Kastensonderung und Tradition. Dies äußert sich heute vornehmlich in
dem noch immer sehr starken Festhalten dieser Berufskasten - die dann nur von
einigen sehr alten Paria - Stämmen übertroffen werden - an der überlieferten Be-
schäftigung
3
). Narlich gibt es nicht wenige
1
) Eine typische “Berufskaste” ist in Bengalen z. B. die alte Schmiedekaste der Lohars, die
zweifellos ethnisch gemischt zusammengesetzt sind.
2
) Vgl. zu all diesen Fragen den ganz vortrefflichen Generalbericht (von Gait) im C. R. 1911
Vol. I, p. 377 ff.
3
) Im Weichbild der traditionslosen Großstadt Calcutta hatten von den Hindukasten die Wä-
scher mehr als 80%, die hinduistischen Fischer-, Gassenkehrer-, Korbflechter-, Süßbäcker-
und Hausdienerkasten, aber auch eine Goldschmiedekaste, mehr als 50% im traditionellen
Beruf stehende Zugehörige, während von den Schreibern (Kayastha) nur 30% “clercs”, von
den Brahmanen aber nur 13 % Priester, Lehrer, pandits und Köche waren (nach C. R. 1901
Vol. VII, Bericht von Blackwood, p. IV). Von den alten Weberkasten (Tanti) standen - in-
folge der europäischen Konkurrenz - nur 6% im Beruf.
103
I. Das hinduistische soziale System. [103]
Berufskasten, denen die vernichtende Konkurrenz der europäischen und jetzt
auch der indischen kapitalistischen Industrie die Fortexistenz im bisherigen Er-
werbszweig überhaupt oder doch auf der Grundlage des Handwerks schlechthin
unmöglich gemacht hat. Aber wo dies nicht der Fall ist, sind die Prozentsätze der
im traditionellen Beruf verbliebenen Angehörigen gewerblicher Kasten in Anbe-
tracht der grundstürzenden Umwälzungen der Wirtschaft doch oft außerordentlich
hohe. In die spezifisch modernen Arbeitsgelegenheiten, insbesondere der Großin-
dustrie, sind wenigstens zum überwiegenden Teil nicht die alten gewerblichen
Kasten, sondern weit mehr als diese: Zuwanderer vom Lande , deklassierte und
Paria - Kasten und deklassierte Mitglieder gewisser höherer Kasten eingeströmt.
Das moderne kapitalistische Unternehmertum, soweit es überhaupt indischer Pro-
venienz ist, und die kaufmännischen und höheren Angestellten rekrutieren sich
außer aus gewissen alten Händlerkasten offenbar sehr stark - und bei dem Cha-
rakter der modernen Kontorarbeit und ihren Bildungsanforderungen ganz begreif-
licherweise - auch aus Litteratenkasten, welche schon vorher in der Berufswahl
vielseitiger waren als die gewerblichen Kasten
1
).
Der Traditionalismus der gewerblichen Kasten ruht ökonomisch nicht nur auf der
Abgrenzung der einzelnen Produktionszweige gegen einander, sondern auch heu-
te noch sehr oft auf der Sicherung der Nahrung der einzelnen Kastenmitglieder
vor gegenseitiger Konkurrenz. Absolut geschützt war und ist ja in dieser Hinsicht
der zum alten Dorfstab” gehörige, auf Gartenland und Deputat gesetzte Hand-
werker. Aber das Prinzip des Kundschaftsschutzes, der Garantie der jajmani -
Beziehung, greift weit über sie hinaus und ist noch jetzt in einer ganzen Anzahl
gewerblicher Kasten streng durchgeführt. Wir lernten diesen jajmani - Schutz be-
reits bei den Brahmanen kennen, und die Wortbedeutung (“Opfergeber”) zeigt,
daß der Begriff in den Verhältnissen dieser Kaste seinen Ursprung hat und etwa
mit “persönlicher Sprengelzu übersetzen wäre. Bei den Brah-
1
) Zahlen darüber s. weiter unten Anm. 1, S. 113. An der V e r w a l t u n g beteiligen
sich in der Provinz Bombay die wichtigsten Kasten in folgender Reihenfolgs der Intensität:
Prabhu (alte Beamtenkaste) 27% der Kastenangehörigen, Mahars (Dorfbeamte) 10%,
Brahmanen 7,1%, Lohana (vornehme Händler) 5,8%, Bhatia (Händler) 4,7%, Vania (große
alte Händlerkaste) 2,3%, Radschputen 2% derselben, alle anderen Kasten unter 1 % ihrer
Mitglieder.
104
Hinduismus und Buddhismus. [104]
manen sctzt ihn wesentlich die Etikette des Standes, bei manchen andern Ka-
sten ist er durch die Kastenorganisation garantiert und zwar - wie immer in Indien
- e r b l i c h (gentilcharismatisch). Der Chamar erhält erblich von bestimmten
Familien das gefallene Vieh und liefert ihnen das Leder r den Schuh- und son-
stigen Bedarf, während zugleich sein Weib Hebamme des gleichen Kundenkrei-
ses ist. Die Bettlerkasten haben bestimmte Bettelbezirke, wie etwa unsere Kamin-
feger (nur: erblich), der Nai ist für seine erblichen Kunden Barbier, Manikurist,
Pedikurist, Bader und Zahnarzt
1
), der Bhangi Gassenkehrer bestimmter Bezirke.
Von mancher Kasten - so den Dom (Hausdienern und Bettlern) und Bhangi - wird
berichtet
2
), daß die Kundschaft veräußerlich geworden und oft Teil der Mitgift ist.
Der Einbruch in die fremde Kundschaft gilt, wo die Einrichtung besteht, noch
heute als Exkommunikationsgrund.
Die alten gewerblichen Kasten sind aber nicht nur Trägen eines strengen Tradi-
tionalismus, sondern, im allgemeinen, auch Träger der strengsten rituellen Kasten
- Exklusivität. Nirgends ist Endogamie und Ausschlder Kommensalität stren-
ger durchgeführt als gerade bei ihnen. Und zwar keineswegs nur im Verhältnis
der Kasten höheren Ranges zu den niedriger stehenden. Vielmehr meiden die un-
reinen Kasten unter einander die infizierende Berührung des Ungenossen ganz
ebenso streng wie die reinen Kasten es ihnen gegenüber tun, ein Beweis, daß die-
se gegenseitige Exklusivität vorwiegend nicht soziale, sondern rituelle, in dem al-
ten Gast- und Pariavolks - Charakter zahlreicher dieser Kasten wurzelnde Gründe
hat. Gerade unter den alten Gewerbekasten und zum Teil gerade unter dem unrei-
nen Kasten finden sich hinduistisch besonders korrekte Gemeinschaften.
Der hochgradige Kasten - Traditionalismus gerade zahlreicher gewerblicher und
darunter gerade auch niederer Kasten ist, außer durch einen wichtigen, später zu
erörternden religiösen Grund, bedingt durch die bei ihnen besonders oft sich fin-
dende straffe Organisation der Kaste oder - in der Regel - der Unterkaste. Denn
diese ist der normale Träger der Organe der Kastendisziplin, von denen nunmehr
zu reden ist.
Die Kastenorganisation entspricht der alten Dorfgemeinde
1
) Diese letzten beiden Tätigkeiten degradieren rituell.
2
) Blunt im C. R. 1911 für die United Provinces und Oudh (altklassischer Hinduboden!) p.
223, woher die obigen Notizen entnommen sind.
105
I. Das hinduistische soziale System. [105]
mit ihrem erblichen Dorfhaupt und ihrem Rat von Sippen- oder Familien-
Häuptern
1
). Die Erblichkeit des Dorfhauptes war nie eine absolute, sondern nur
gentilcharismatisch. Bei mangelnder Eignung konnte das Dorfhaupt zwar unter
Umständen abgesetzt werden, die Wahl des Nachfolgers pflegte sich aber an die
gleiche Familie zu halten. Dies gentilcharismatische Prinzip durchzog, sahen wir,
alle in Indien vorkommenden Organisationen, vom politischen Gemeinwesen - wo
die strenge Primogenitur erst später heiliges Recht geworden ist - bis zur Gilde,
deren Vorstand und Aelteste (Schreschthi) in aller Regel ebenfalls gentilcharisma-
tisch erbliec waren und geblieben sind. So auch in der Kaste mindestens für den
Vorsteher: Sar panch, zuweilen - aber nicht immer - noch für die Mitglieder des
panchayat”. Der Umstand, daß alles, was ursprünglich als ökonomische oder
amtliche Leistung für die Gemeinschaft” existierte, im indischen Dorf von jeher
erblich angesiedelten Deputatisten oblag, hat wohl zur Uebernahme und Erhal-
tung dieses Zustands, der ja auch anderwärts z. B. im vorderasiatischen Orient in
hellenistischer Zeit bei Handwerkern inschriftlich bezeugt ist, beigetragen.
Daneben vielleicht eine königliche Beleihung der r die einzelnen Gewerbe und
ihre Leistungen verantwortlichen Personen mit ihren Stellen in der Zeit der gro-
ßen hinduistischen Patrimonialkönigtümer. Aber entscheidend war doch das alte
alles beherrschende Prinzip des Gentilcharisma und seine Stützung durch die
Brahmanen. Gerade in religiösen Organisationen ist ja, noch mehr als in politi-
schen, der Gedanke der Wahl des Oberhauptes in unserem heutigen Sinn nir-
gends urwüchsig. Was uns als Wahlerscheint, war stets pflichtschuldige Aner-
kennung oder Akklamation eines Trägers des persönlichen oder des Gentilcha-
risma. Die alte Stellung der “Aeltesten” in der reformierten Presbyterialverfas-
sung war noch charis-
1
) Mit großem Nachdruck wird heute (z. B. von Mc. Gregor im Census Report 1911 für Bom-
bay Vol. VII p. 200) die Existenz eines Dorf - panchayat überhaupt bestritten. Es gebe nur
Kasten - panchayats und darunter solche der, normalerweise, in einem Dorf zusammenge-
siedelten Bauern gleicher Kaste. Es kann sich, soviel aus dem im kontinentalen Europa zu-
gänglichen Material ersichtlich ist, wohl nur um die Frage handeln, ob die in zahlreichen
Dörfern unter den Dorfgenossen (“Vollbauern”) bestehenden panchayats ihren Ursprung in
der Kaste haben oder ob früher einmal die Kasteninstitution der Dorfinstitution irgendwie
nachgebildet wurde. Die Existenz eines dem panchayat entsprechenden, Rechtsfälle ent-
scheidenden, Komitees in den rfern scheint für die klassische Zeit genügend bezeugt
(Manu Samh. XII, 1087).
106
Hinduismus und Buddhismus. [106]
matisch. Die Verfassung unserer “Synodalordnungen ist dagegen schon dem
modernen Repräsentativgedanken entsprungen. So scheinen auch in Indien die
jetzt mehrfach vorkommenden sabha's (Kasten - Versammlun-gen aller Mit-
glieder oder doch aller Familienhäupter), modernen Ursprungs
1
). Die Sprengel
der panchayat sind in aller Regel örtlich begrenzte Gebiete. Interlokale Zweck-
verbände oder Kartelle r die Erledigung bestimmter Geschäfte kommen inner-
halb der Kasten vor. Gilden als Teile von Kasten oder als Verbände von Kasten
finden sich in Resten, ebenso aber auch Ueberlebsel von Gilden, welche Kasten -
Ungenossen umften. Es gibt, aber nur als Ausnahme, Zentralorganisationen
ganzer Kasten, welche als den panchayat übergeordnet gelten. Am meisten in
Gebieten, welche seit langer Zeit einheitliche politische Reiche gebildet haben,
wie umgekehrt die örtliche Kastenzersplitterung da am größten ist, wo die politi-
sche Einheit am meisten gefehlt hat.
Welche sachliche Zuständigkeit hat nun das panchayat (oder die ihm entspre-
chende Instanz) ? Das ist sehr verschieden. r die Gegenwart bilden jedoch kei-
neswegs Berufsfragen den Schwerpunkt: die Kaste (Unter - Kaste) fungiert heute
keineswegs der Hauptsache nach als Zunft” oder Gewerkverein”. Sondern die
Masse des Stoffs bilden rituelle Fragen. Der Zahl nach steht an erster Linie jede
Art von Ehebruch oder anderen Verstößen gegen die intersexuelle rituelle Etiket-
te, dann die ßung und hnung anderer ritueller Verstöße der Mitglieder, ein-
schließlich vor allem der Verstöße gegen die Regeln vom Konnubium und Kom-
mensalität oder gegen Reinheits- und Speisegesetze. Diese Aufgabe hat sicherlich
von jeher eine sehr gre Rolle gespielt, weil die Duldung von magischen Frev-
lern in der Kaste für deren Gesamtheit bösen Zauber nach sich ziehen konnte.
Aber allerdings spielen gerade in einer Anzahl alter und besonders fest in der
Tradition stehender mittlerer und insbesondere auch niederer Kasten doch die Be-
rufsfragen eine sehr bedeutende Rolle. Zunächst, und selbstverständlich, alle Fälle
des Uebergangs eines Mitglieds zu einer rituell degradierenden oder verdächtigen
Beschäftigungsart, es handle sich um einen
1
) Sie beschließen heute z. B. über die Entsendung von Studenten nach Japan, aber auch über
die Aenderung wichtiger sozialer Gewohnheiten, z. B. die Aufhebung des Witwenlibats,
ein Gegenstand, der früher durch “Beschlüsseüberhaupt nicht hätte geregelt werden kön-
nen, sondern nur durch Gutachten der Brahmanen.
107
I. Das hinduistische soziale System. [107]
neuen Beruf oder eine neue Technik: je nach Umständen kann dies praktisch sehr
weit greifen. Aber auch Fälle, die mit dem Ritual nicht zusammenhängen. Vor al-
lem die Verletzung der jajmani - Rechte durch einen Kastengenossen oder durch
Uebergriffe von outcastes oder fremden Kasten. Ebenso aber auch die Verletzung
sonstiger Kastenrechte durch einen Außenstehenden. Der Umstand, daß gerade
alte und besonders traditionalistische Kasten besonders stark in diese ökonomi-
schen Interessen eingreifen, macht es wahrscheinlich, daß diese Seite der Kasten-
ordnung in früheren Zeitem wesentlich universellere Bedeutung hatte. Und daß
gerade gewerbliche, und unter diesen viele niederen, Kasten diese Funktion einer
Zunft oder - je nachdem - eines Gewerkvereins übernahmen, erklärt sich einer-
seits aus der typischen Interessenlage des Handwerks und der gelernten Arbeiter,
und erklärt andererseits, zu einem Teil wenigstens, die häufig besonders ausge-
prägte Kastentreue gerade solcher niederen Kasten. Nichtzahlung von Schulden,
Vermögensteilungen und Bagatellprozesse unter Mitgliedern sind heute nicht
mehr allzu häufige Gegenstände. Gelegentlich findet sich aber, daß die Kaste
Mitglieder zu hindern sucht, gegen einander Zeugnis abzulegen. Aber die große
Mehrzahl der Fragen sind ritueller Art, und zwar finden sich danter gelegentlich
recht wichtige Angelegenheiten. Dies scheint heute in erheblicher Zunahme: die
Macht der panchayats und sabha's auf diesem Gebiet ist im Steigen, und es ist in
Wahrheit ein charakteristischer Teil der langsam fortschreitenden Emanzipations-
bewegung von der Macht der Brahmanen, der sich in diesen scheinbar so archai-
stischen Geschäften der Kasten äußert. Die Befassung damit bildet das hinduisti-
sche Aequivalent für das Streben nach kirchlicher Gemeinde - Autonomie” im
Occident.
Die Zwangsmittel der Kastenargane sind Dritten gegenüber der Boykott, den ei-
genen Genossen gegeber Geldbußen und Verurteilung zu ritueller Entsühnung,
im Fall der Weigerung und schweren Fällen von Verletzungen der Kastennormen
Exkommunikation (bahishkara). Sie ist (heute) keine Ausstoßung aus dem Hindu-
ismus, sondern aus der einzelnen Kaste. In ihren Folgen kann sie freilich darüber
hinaus wirken, z. B. durch Boykott gegen jeden Dritten, der die Dienste eines ex-
kommunizierten Kastenmitglieds noch in Anspruch nimmt. Die Mehrzahl der
panchayats (und der entsprechenden sonstigen
108
Hinduismus und Buddhismus. [108]
Organe) fassen heute ihre Beschlüsse selbständig, ohne Zuziehung der Çastris
und Pandits, die als fakultativ gilt: Einige, und zwar auch niedere, Kasten freilich
kennen noch heute einen Rechtszug an einen der heiligen Stühle (Klöster in San-
keschwar oder Schringeri). Eine autonome Satzung neuer Rechtsnormen durch
eine Kaste kam nach althinduistischen Begriffen nicht in Frage. Heiliges Recht
kann überall nur offenbart oder als von jeher bestehend neu erkannt” werden.
Aber das heutige Fehlen einer hinduistischen politischen Zwangsgewalt und die
dadurch bedingte Schwächung der Stellung der Brahmanen hat dahin gewirkt,
daß tatsächlich gelegentlich Rechtssatzung, korrekter Weise unter der Form der
Rechtserkenntnis, autonom erfolgt. Wie in den Kastenrang - Usurpationen macht
sich auch hier der Wegfall der politischen, patrimonial - kirchenstaatlichen Struk-
tur der alten Königreiche deutlich in der Richtung langsamer Erschütterung der
Kasten-traditionhlbar.
Bei den Stammeskasten ist, je weniger durchgreifend ihre Hinduisierung ist, desto
öfter die typische Kastenorganisation durch Reste der alten Stammesverfassung
ersetzt, was uns hier im einzelnen nicht interessieren soll.
Die hohen Kasten endlich, namentlich Brahmanen und Radschputen, entbehren
auch in ihren Unterkasten oft jeder einheitlichen Dauerorganisation, und zwar von
jeher, soviel bekannt. Es treten, wenn dringende Fälle vorliegen - etwa ein gröbli-
cher Ritualverstoß eines Mitglieds - für den Einzelfall die nach altem Brauch dazu
berufenen Häupter der Math's (Klöster) zusammen, oder neuerdings auch Ver-
sammlungen der betreffenden Kastenabteilung. r die Brahmanen ist selbstver-
ständlich, daß die aus ihnen hervorgehenden Çastris und Pandits, die Hochschu-
len und Maths (Klöster) mit anerkanntem Ruf als Mittelpunkte heiliger Studien
und die von alters her anerkannten heiligen Stühle ihre Autorität zu wahren im
allgemeinen imstande sind. Aber die alte Konkurrenz der Veda - Schulen, der phi-
losophischen Schulen, Sekten und Asketen - Orden gegeneinander, und die Ge-
gentze der alten vornehmen Brahmanengeschlechter einerseits gegen die durch
Usurpation allmählich zu Brahmanen aufgestiegenen, andererseits gegen die
durch Degradation zu Brahmanen niederen Rechts gewordenen Schichten und
Unterkasten erzeugen doch tiefe Spannungen
109
I. Das hinduistische soziale System. [109]
und begrenzen nach innen das nach außen, als Standesbewußtsein, starke Solida-
ritätsgefühl. Bei den Radschputen ersetzte der starke Einfluß der brahmanischen
Hauspriester (purohita) r die Erhaltung der rituellen Korrektheit die fehlenden
Kastenorgane. Ein Teil der Unterkasten hat immerhin auch bei ihnen starke Orga-
ne und ihr Standesgefühl ist im ganzen kräftig. Die starke Vielseitigkeit der Be-
rufstätigkeit beider Kasten, welche sich freilich im ganzen ziemlich streng inner-
halb der Schranken des rituell Zulässigen hält, ist, wie die erwähnten Notberufe
bei Manu genügend zeigen, schon sehr alt. Daß die reinen Schreiber - Kasten,
Produkte des Fatrimenialismus der indischen Königreiche, dessen historischer
Einfluß in ihnen in die Gegenwart hineinragt, im Gegensatz zu den alten sozialen
und feudalen Aristokratien zwar hohe Kastenrangprätensionen, aber ungleich we-
niger Standesgefühl besitzen - wie ihre heutige Berufsgliederung ergibt - ist leicht
verständlich. In den Händlerkasten existieren Reste der alten Gilden, im übrigen
ist ihre Organisation heute weit weniger straff als, allem Anschein nach, unter den
einheimischen rsten, welche die ökonomischen und speziell die städtischen Ka-
sten, aber auch Paria - Völker oft als Träger leiturgischer Pflichten und entspre-
chender Monopolrechte benutzten. -
Wir können damit diesen trotz aller Länge unvermeidlich höchst unvollständigen
Abrdes Kastensystems abschließen und nach seinen Wirkungen auf die Wirt-
schaft fragen. Da diese wesentlich negativer Art und also mehr zu erschließen als
induktiv zu ermitteln sind, können darüber nur wenige Allgemeinheiten gesagt
werden. Uns geht hier nur das an: daß diese Ordnung ihrem ganzen Wesen nach
durchaus traditionalistisch und antirational wirken mußte. Nur darf man die Gn-
de dafür nicht an falschen Stellen suchen.
K. Marx hat die eigenartige Stellung des indischen Dorfhandwerkers: - seine An-
gewiesenheit auf feste Deputate statt auf Marktabsatz - als Grund der spezifi-
schen Stabilität asiatischer Völker” bezeichnet. Mit Recht. Aber es gab neben
dem alten Dorfhandwerker den Händler und den Stadthandwerker, diesen als
Marktarbeiter oder als ökonomisch abhängig von den Händlergilden wie im Oc-
cident. Zwar ist Indien immer ganz vorwiegend ein Land der Dörfer geblieben.
Aber die Anfänge der Städte waren auch im Occident, im Binnenland zumal,
110
Hinduismus und Buddhismus. [110]
bescheiden, und die Stellung des städtischen Markts war in lndien in vielen Punk-
ten, durch die rsten, merkantilistisch” in ähnlichem Sinn geregelt, wie in den
Territorialstaaten der beginnenden Neuzeit. Es ist also, soweit die soziale Gliede-
rung in Betracht kommt, jedenfalls nicht gerade nur die Stellung des Dorfhand-
werkers allein, sondern auch die Kastenordnung als Ganzes als Träger der Stabili-
tät anzusehen. Nur darf hier die Wirkung nicht allzu unmittelbar gedacht werden.
Man könnte etwa glauben: die rituellen Kastengegensätze hätten die Entstehung
von Großbetrieben” mit Arbeitszerlegung in der gleichen Werkstätte unmöglich
gemacht und darin liege ein entscheidendes Moment. Dies ist nicht der Fall. Das
Kastenrecht hat sich den Notwendigkeiten der Arbeitsvereinigung in Werkstätten
gegenüber ebenso nachgiebig gezeigt wie den Bedürfnissen der Arbeitsvereini-
gung und des Dienstes im vornehmen Haushalt. Rituell rein, sahen wir, waren alle
für die Oberkasten nötigen Hausbediensteten. Der Grundsatz: “Die Hand des
Handwerkers ist in seinem Beruf immer rein
1
) bedeutete eine ähnliche Konzessi-
on an die Notwendigkeit, sich von außerhäuslichen Lohnwerkern und Störern
Anbringungs-, Reparatur- und andere Arbeiten oder persönliche Dienste leisten
lassen zu können. Ebenso aber galt auch die Werkstatt
2
) (das Ergasterium) als
rein, und einer Miteinanderverwendung verschiedener Kasten im gleichen Ar-
beitssaal hätte mithin rituell nichts im Wege gestanden, so wenig wie das Zins-
verbot im Mittelalter als solches die Entwicklung des Erwerbskapitals, welches
gar nicht in Form der Anlage gegen festen Zins auftrat, gehindert hat. Nicht in
solchen Einzelschwierigkeiten, welche jedes der großen Religionssysteme in sei-
ner Art der modernen Wirtschaft in den Weg stellte oder zu stellen schien, lag der
Kern der Hemmung. Sondern im Geist” des ganzen Systems. Wenn es in der
Neuzeit zwar nicht immer ganz leicht, aber eben doch schließlich möglich gewe-
sen ist, indische Kastenarbeiter in moderne Fabriken einzustellen und vorher
schon: die Arbeit auch der indischen Handwerker kapitalistisch in den auch sonst
in Kolonialgebieten dafür üblichen Formen auszunützen, nachdem einmal der
moderne
1
) Baudhayana's Rechtsbuch I, 5, 9, 1. Ebenso alle öffentlich zum Verkauf gestellten Waren.
2
) Bandhayana I, 5, 9, 3. Rituell rein sind Minen und alle Werkstätten mit Ausnahme derjenigen
für Alkohol - Destillation.
111
I. Das hinduistische soziale System. [111]
Kapitalismus als fertige Maschinerie aus Europa importiert werden konnte, so
mes doch als der Gipfel der Unwahrscheinlichkeit erscheinen, daß auf dem
Boden des Kastensystems die moderne Organisationsform des gewerblichen Ka-
pitalismus jemals e n t s t a n d e n wäre. Ein Ritualgesetz, bei welchem jeder
Berufswechsel, jeder Wechsel der Arbeitstechnik rituelle Degradation zur Folge
haben könnte, war sicherlich nicht geeignet, aus sich ökonomische und technische
Umwälzungen zu gebären oder ihnen auch nur das erstmalige Aufkeimen in sei-
ner Mitte zu ermöglichen. Der an sich große Traditionalismus des Handwerkers
mußte dadurch aufs äußerste gesteigert werden und allen Versuchen des Han-
delskapitals, vom Boden des Verlags aus die gewerbliche Arbeit zu organisieren,
mußte ein wesentlich schärferer Widerstand begegnen als im Occident. Die
Händler selbst blieben in ihrer rituellen Abgeschlossenheit in den Banden des ty-
pischen orientalischen Händlertums, welches nirgends aus sich eine moderne ka-
pitalistische Organisation der Arbeit geschaffen hat: so als wenn lauter verschie-
dene, gegen einander und gegen Dritte rituell exklusive Gastvölker wie die Juden
neben einander in einem Wirtschaftsgebiet ihrem Erwerb nachgehen würden.
Man hat manche der gren hinduistischen Händlerkasten, so namentlich die Va-
nia, die Juden Indiens” genannt, und in diesem negativen Sinn auch mit Recht.
Sie waren zum Teil Virtuosen skrupellosen Erwerbs, und namentlich manche frü-
her als sozial degradiert geltende oder unreine und deshalb besonders wenig
durch (in unserem Sinne) “ethische” Ansprüche an sich selbst belastete Kasten
zeigen heute ein bedeutendes Tempo der Vermögensakkumulation. Sie konkurrie-
ren darin mit einigen Kasten, die früher die Stellungen der Schreiber, Beamten
oder Steuerpächter und ähnliche Chancen des politisch bedingten Erwerbs, wie
sie in Patrimonialstaaten typisch sind, monopolisierten. Auch aus den Händlerka-
sten ist ein Teil der kapitalistischen Unternehmer hervorgegangen. Aber - wie ge-
legentlich schon bemerkt - nur soweit sie die heute dafür erforderliche Bildung
sich aneigneten, vermochten sie darin mit den Literatenkasten Schritt zu halten
1
).
Die Intensität der Erziehung zum Händlertum ist bei ihnen, soviel die Berichte er-
kennen lassen, teilweise so stark, daß ihre spe-
1
) Ueber die Beziehung der indischen Sekten und Erlösungsreligionen zu den Bank- und Han-
delskreisen Indiens wird später gesprochen.
112
Hinduismus und Buddhismus. [112]
zifische Begabungdafür keineswegs auf Anlageberuhen muß
1
). Daß sie aber
aus sich den rationalen Betrieb des modernen Kapitalismus hätten schaffen kön-
nen, dafür liegt kein Anzeichen vor. Vollends aus den Kreisen des ganz traditio-
nalistischen indischen Gewerbes re er zweifellos nie entstanden. Dabei ist aber
der hinduistische Handwerker dennoch notorisch überaus arbeitsam; er gilt insbe-
sondere als wesentlich arbeitsamer als der indische Handwerker islamitischen
Glaubens. Und auf das Ganze gesehen, entwickelte die hinduistische Kastenorga-
nisation innerhalb der alten Berufskasten vielfach eine sehr hohe Intensität der
Arbeit und der Besitz - Akkumulation. Das Erstere mehr im Handwerk und in
einzelnen alten landwirtschaftlichen Kasten, von denen übrigens namentlich die
Kunbi's (z. B. in Südindien) auch an Besitzakkumulation und zwar heute auch in
modernen Formen Beträchtliches leisten.
Unter der englischen Verwaltung und direktem starkem Anreiz dazu ist der mo-
derne gewerbliche Kapitalismus, die Fabrik insbesondere, in Indien eingezogen.
Aber - vergleichsweise betrachtet - in wie geringem Umfang und mit welchen Er-
schwerungen ! Nach mehreren hundert Jahren englischer Herrschaft gibt es jetzt
gegen 980 000 Fabrikarbeiter, also etwa,
1
/
3
% der Bevölkerung. Dabei ist, und
zwar auch in den Fabrikindustrien mit den höchsten Löhnen, die Arbeiterrekrutie-
rung schwer
2
); erst die neuesten Arbeiterschutzakte hat die Fabrikarbeit etwas
populärer gemacht. Frauenarbeit findet sich, obwohl es (Textil) - Industrien gibt,
wo die Frau das Doppelte leisten kann als der Mann, nur spärlich und aus den al-
lerverachtesten Kasten. Die indische Fabrikarbeiterschaft zeigt genau jene tradi-
tionalistischen Züge, welche ihr in der Frühzeit des Kapitalismus auch in Europa
anhafteten.
Die Arbeiter wollen gern schnell etwas Geld verdienen, um
1
) Ueber die Schulung zum Handel bei den Baniya's s. den C. R. für Bengalen. Gegen eine Ein-
schätzung der “Naturanlage” spricht ja auch, daß alte Kasten mit starkem Berufswechsel oft
in Berufe einstmen, welche in den Anforderungen an die “Naturanlage” psychologisch den
denkbar größten Gegensatz zur bisherigen Beschäftigungsart bilden, aber durch die Ge-
meinsamkeit des Nutzens bestimmter anerzogener Kenntnisse nnd Fertigkeiten einander na-
he stehen. So der früher erwähnte häufige Uebergang der alten Feldmesserkasten - deren
Glieder naturgemäß die W e g e besonders genau kannten - zum Chauffeurberufe und viele
ähnliche Beispiele.
2
) Sie m in Kalkutta vielfach von auswärts erfolgen: in einem Dorf der Umgegend spricht
kaum
1
/
9
die Landessprache, das Bengalisch.
113
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
I. Das hinduistische soziale System. [113]
sich selbständig zu machen. Erhöhung der Lohnsätze wirkt auf sie nicht im Sinn
des Anreizes zu stärkerer Arbeit, oder zu besserer Lebenshaltung, sondern umge-
kehrt : sie machen dann längere Ferien, weil sie es können oder ihre Frauen be-
hängen sich mit Schmuck. Beliebiges Fortbleiben von der Arbeit versteht sich von
selbst und so bald als möglich, zieht sich der Arbeiter mit seinen Spargroschen
wieder auf das Heimatdorf zurück
1
). Er ist eben nur Gelegenheits- Arbeiter.
Disziplin” im europäischen Sinn ist ihm ein unbekannter Begriff: Trotz eines
viermal billigeren Lohnes ist daher die Konkurrenz gegen Europa, da man 2
1
/
2
mal mehr Arbeiter und weit mehr Aufsicht braucht, nur in der Textilindustrie
leicht. Ein Vorteil der Unternehmer ist: daß die Kastengeschiedenheit der Arbei-
ter bisher jegliche Gewerkschaftsorganisation und jeden eigentlichen “Streik”
unmöglich gemacht hat. Zwar - wie wir sahen - die Arbeit in der Werkstatt ist
reinund erfolgt gemeinsam, (nur gesonderte Wasserbecher am Brunnen sind
nötig, rnindestens je einer r Hindu und Islamiten, und in Schlafstätten schlafen
nur Leute gleicher Kaste zusammen) - aber eine Verbrüderung ist hier (bisher) so
wenig möglich gewesen wie eine conjuratio der Bürger
2
).
Leider liegen eingehende Angaben über die Einbeziehung der einzelnen Kasten in
den modernen kapitalistischen Erwerb - wenigstens für den fremden Bearbeiter
zugänglich - nur im dürftigem Umfang vor
3
).
1
) v. Delden a. a. O. S. 96.
2
) Vgl. v. Delden a. a. O. S. 114 -125.
3
) Moderne “gelernte” Arbeit wird in der Stadt Calcutta anscheinend am stärksten aus den Ka-
sten der Kaivartha (alte Stammeskaste von Bauern und Fischern), Kayasth (Schreiber) und
Tanti (alte Weberkaste) rekrutiert, die ungelernte sog. Kuli - Arbeit ebenfalls aus den Ka-
sten der Kaivartha und Kayasth, daneben aus den verachteten Kasten der Goala (Milchmän-
ner, alter Pariastamm) und Chamar (die große unreine Lederarbeiterkaste Bengalens). Auch
sonst sind dort die aus ihrem traditionellen Verdienst geworfenen untersten Kasten unter der
Kuli - Arbeit am stärksten vertreten. Die eigentlichen Fabrikarbeiter stellen wiederum vor
allem die vier Kasten der Tanti (Weber), Kaivartha (Bauern und Fischer), Chamar (Lederar-
beiter), Kayasth (Schreiber). Dagegen sind z. B. von den Chhatri (angeblich: Kschatriya, in
Wahrheit ein alter Reisläuferstamm) 45% Bauern, “peons” und Hausgesinde, fast keiner im
Staatsdienst und in der Industrie. In der Textilindustrie der Provinz Bombay sind beteiligt
mit 63% ihres Bestands die Weberkasten, mit 11,7% die Bhatia (altes Gastvolk von Händ-
lern), mit 9,8% die Vani (vornehme Händler), mit 3,8% die Radschputen; die Prabhu (Be-
amte) und Mahan (Dorfbeamte) mit über 1 %, der Rest der Kasten darunter. Die Händler
und die zuletzt genannten
114
Hinduismus und Buddhismus. [114]
Ueber die Einkommensverhältnisse der Hauptkasten (aus anderen Quellen als
Amt, Pension und Wertpapieren, Part IV der Income Tax Act), soweit darüber die
Zensus - Superintendenten berichtet haben, macht Gait im Generalbericht zum
Zensus von 1911
1
) folgende hier interessierende Angaben:
In Bengalen gibt es rund 23 000 zur Einkommenssteuer aus Wirtschaftserwerb
Veranlagte. Die Mohammedaner, 24 Millionen = 51,7% der Bevölkerung, haben
nur 3177 aus diesen Steuerquellen Veranlagte, also etwas über
1
/
8
aller. Fast
ebensoviel hat die eine einzige Kayasth - (Schrei- ber-) Kaste für sich allein, und
zwar teils aus Unternehmungen, teils aus profession”. Nach ihnen kommen die
Brahmanen, von denen 50 % der Veranlagten ihr Einkommen aus Unternehmer-
verdienst beziehen, und, ihnen fast gleichstehend, die Shaha, eine kleine (119 000
Köpfe zählende) Unterkaste der Sunri, welche den Spirituosenhandel monopoli-
sierten. Sie stellen prozentual die Höchstzahl der Veranlagten. Außer ihnen hat
nur noch die Oelpresser- und Händler - Kaste der Teli über 1.000 Veranlagte, alle
anderen weniger. Der Bericht findet es überraschend, daß die alten Händlerkasten
der Gandhabaniks und Subarnabaniks, nach dem Namen zu schließen ursprüng-
lich Spezerei- und bzw. Edelmetallhändler nur mit je 500 Veranlagten vertreten
sind; indessen ist das proportional zur Zahl (je zwischen 100 000 und 120 000
Köpfe) doch stärker als die Teli - Kaste (1
1
/
2
Millionen). Daß eine zu den niedri-
gen Çudra gerechnete Händlerkaste, wie die Shaha's (deren Wasser von Brahma-
nen nicht immer genommen wird) unbedenklicher in der Eingliederung in die mo-
dernen Erwerbschancen ist, als die Teli (welche in Bengalen mit der Nabasakh -
Gruppe rangieren) und die beiden Kasten der Gandhabaniks und Subarnabaniks,
welche, vermutlich
Kasten stellen im wesentlichen die Unternehmer (bzw. was die Radschputen anlangt, Be-
sitzer”). Am H a n d e l (mit Ausschl der Nahrungsgewerbe) beteiligen sich in der Pro-
vinz Bombay von den einzelnen Kasten folgende Prozentsätze (des Kastenbestandes):
Brahmanen 3,2%, Vania (älte vornehme Händlerkaste) 24,8%, Bhatia (altes Händler-
Gastvolk) 7%, Radschputen und Mahrathem praktisch 0, Prabhu (Beamte) 9,3% , Lohana
(alte vornehme Händlerkaste im Sindh) 6%, Weber, Koli (Kleinbauern), Kunbi (Bauern),
Mahar (Dorfbeamte) praktisch 0, Pandhari (Palmsaftdestillateure) 2%. Von den alten Händ-
lerkasten sind erhebliche Bruchteile heut im Nahrungsmittelgewerbe (wohl namentlich im
Detailgeschäft) tätig, so 40% der Vania, 61,3% der Bhatia, 22,8% der Lohana, von allen
anderen nur wenige und von den vornehmen Kasten praktisch niemand.
1
) S. 480.
115
I. Das hinduistische soziale System. [115]
mit Recht, früher Vaiçya - Rang eingenommen zu haben beanspruchen, ist durch-
aus verständlich, freilich auch r den traditionalistischen Geist des echten alten
Hinduismus bezeichnend. Die Ueberlegenheit der Anpassung der dazu überhaupt
geeigneten Hindukasten an den rationalen Erwerb gegenüber dem bengalischen
Islam tritt deutlich zutage. Diese relative Unterlegenheit des Islam wiederholt sich
ebenso in allen anderen Provinzen. Die islamitische Scheikh - Kaste hat hohe
Steuerzahler (namentlich im Panjab) wesentlich unter den großen Landrentnern
1
),
ebenso wie die Radschputen, Babhans (vornehme Landlord- und Getreide -
Großhändler - Kaste) und mehrfach auch die Brahmanen und die den Radschpu-
ten nahestehenden Khatri. In Bihar stehen unter den Veranlagten aus kapitalisti-
schem Einkommen die Agarvals (Unterkaste der Kewat, sehr alte Händlerkaste)
voran und die Kalvan und Sunri (alte Kasten von Palmsaftdestillateuren) und Teli
(Oelpresser) stehen unter den dann Folgenden quantitativ neben den vornehmen
Kasten der Brahmänen und Babhans (diese 7 Kasten haben die Hälfte des aus
trade” fließenden steuerbaren Einkommens). Im oberen Gangestal (United Pro-
vinces), dem altklassischen Gebiet des Hinduismus, im Panjab und im Süden ist
meist die alte Händlerkaste der Baniyas Träger der weitaus größten Einkommen,
aus Handel, während im Nordwesten die Khatris - eine alte vornehme, internatio-
nal bekannte Händler- und Schreiber - Kaste, die auch im Grundrenteneinkom-
men neben den Brahmanen eine bedeutende Rolle spielt, im gewerblichen Ein-
kommen allen voranstehen, die Kayasth aber (im oberen Gangestal) im Verhältnis
zu ihrer Zahl überproportional am Einkommen aus “professionbeteiligt sind.
Die Beteiligung des einheimischen - zum Teil ganz gewaltigen - Vermögensbesit-
zes als “Kapital” in modernen Unternehmungen blieb lange verhältnismäßig ge-
ring; in der Jute - Industrie fehlte sie fast ganz. Schlechte Erfahrungen” nicht nur
mit den Unternehmern und Associés, sondern auch mit den Werkmeistern haben
es bedingt, daß noch jetzt z. B. in der recht eigentlich indischen, der Jute - Indu-
strie, eigentlich nur die Aufpasser, aber sonst fast niemand, der technische oder
1
) Rentner überhaupt waren in der Provinz Bombay unter den Kasten der Brahmanen, Prabhu
(Beamte), Mahar (Dorfbeamte), Lohana (Händler) am stärksten vertreten.
116
Hinduismus und Buddhismus. [116]
kaufmännische Funktionen hat, indischer Abkunft ist (es sind meist Schotten: v.
Delden, Die ind. Jute - Industrie 1915, S. 86). - Die Jute-Industrie mit durch-
schnittlich 3420 Arbeitern auf jeden Betrieb ((v. Delden a. a. O. 179) ist die am
stärksten zur Großindustrie entwickelte Industrie Indiens.
Die Unterschiede der Intensität des Strebens nach Gelderwerb, vor allem die Be-
nstigung der vom hinduistischen Standpunkt aus ethisch ungebundeneren Händ-
ler (Spirituosen - Händler) und daneben der Literaten, sodann aber die stärkere
Neigung des Hindu - Reichtums zu intensiver händlerischer Verwertung gegen-
über dem islamitischen tritt deutlich zutage und entspricht der oft berichteten grö-
ßeren Arbeitsintensit der - dabei traditionalistischeren - hinduistischen Hand-
werker gegenüber den islamitischen. Beides ist, durch den besondern Sinn mitbe-
dingt, welchen die Erfüllung der Kastenpflichten für den Hinduismus besitzt. Wir
müssen uns diesem wichtigen Punkt jetzt zuwenden.
Wir sahen, daß innerhalb des Hinduismus eine ungewöhnlich breite Toleranz in
bezug auf die Lehre (mata) besteht, während alles Gewicht auf den rituellen
Pflichten (Dharma) liegt. Immerhin hat nun aber, und damit haben wir uns jetzt zu
befassen, auch der Hinduismus gewisse Dogmen”, wenn man darunter solche
Glaubenswahrheiten versteht, deren gänzliche Leugnung als “ketzerisch” gilt und,
wenn auch nicht einen Einzelnen, so doch eine Gemeinschaft, die sich zu ihnen
ausdrücklich bekennt, außerhalb der hinduistischen Gemeinschaft stellen würde.
Der Hinduismus kennt zunächst eine Anzahl offizieller Lehrsysteme. Wir werden
sie später, bei Besprechung der Erlösungsreligionen der Intellektuellenschichten,
kurz kennen lernen. Hier interessiert uns, daß es auch spezifisch heterodoxe phi-
losophische Lehrmeinungen gibt. Vor allen zwei pflegen angeführt zu werden :
die Philosophie der Materialisten und die der Bauddhas (Buddhisten). Was ist an
der Lehre der letzteren das spezifisch Heterodoxe ? Die Ablehnung der Brahma-
nen - Autorit findet sich auch bei Hindukasten. Die Zulassung aller Kasten zur
Erlösung findet sich auch bei Hindus. Die Rekrutierung der Mönche aus allen Ka-
sten hätte sie zu einer rituell unreinen Sektenkaste machen können. Belastender
war die Verwerfung der Veden und des hinduistischen Rituals als für die Erlö-
sung wertlos. Aber die Buddhisten hätten ein eignes Dharma an die Stelle
117
I. Das hinduistische soziale System. [117]
gesetzt, teilweise ein strengeres als das der Brahmanen. Und es wird ihnen eben
nicht nur rituelle Kastenlosigkeit, sondern auch ketzerische Lehre vorgeworfen,
einerlei ob diese nun der wirkliche Grund war, sie nicht als Hindu anzuerkennen.
Worin bestand diese, und was hatte sie mit der Ketzerei der Materialisten” ge-
meinsam im Gegensatz zu der Lehre der orthodoxen Schulen ? Die Buddhisten
leugneten, ebenso wie die Materialisten, die Existenz der Seele”
1
), zum minde-
stens als einer Einheit des Ich. Das hatte nun bei den Buddhisten - und zwar ge-
rade in dem gleich zu erwähnenden entscheidenden Punkt - eine fast rein theoreti-
sche Bedeutung. Aber es scheint doch, daß hier der wichtigste Anstoß (in theore-
tischer Hinsicht) lag. Denn alle hinduistische Philosophie und Alles, was man,
über den reinen Ritualismus hinaus, als Religion” der Hindus bezeichnen kann,
hängt allerdings am Seelenglauben.
Kein Hindu leugnet zwei Grundvoraussetzungen der hinduistischen Religiosität:
den Samsara- (Seelenwanderungs-) Glauben und die mit ihm zusammenhängende
Karman- (Vergeltungs-) Lehre. Sie, und nur sie, sind wirkliche “dogmatische”
Lehrstücke des gesamten Hinduismus, und zwar gerade in der Art ihrer Verknüp-
fung miteinander zu einer dem Hinduismus ganz allein eigentümlichen Theodizee
der bestehenden sozialen, d. h. also: der Kastenordnung.
Der Glaube an die Seelenwanderung (Samsara), direkt erwachsen aus sehr uni-
versell verbreiteten Vorstellungen vom Schicksal der Geister nach dem Tode, ist
auch anderwärts entstanden. So im hellenischen Altertum. In Indien lag aus
Gründen der Fauna und des Nebeneinander verschiedenfarbiger Rassen die Ent-
stehung der Vorstellung nahe. Es ist doch wohl sehr wahrscheinlich, daß das im
Ramayana in dindien auftretende Affenheer ein solches der schwarzen Dravi-
da's ist. Und selbst wenn nicht, so zeigt sich jedenfalls, daß die Affen als den
Menschen gleichartig gedacht werden und, daß dieser Gedanke gerade für din-
dien, den Sitz von schwarzen Völkern, welche vom Standpunkt des Ariers dem
Affen ähnlich sahen, nahe lag. Als unsterblich” galten die abgeschiedenen See-
len ursprünglich in
1
) Wir brauchen hier diesen Ausdruck ganz provisorisch und undifferenziert, also vorläufig oh-
ne Rücksicht darauf, daß die hinduistische Philosophie verschiedene metaphysische Vorstel-
lungen vom Wesen der Seele entwickelt hat.
118
Hinduismus und Buddhismus. [118]
Indien sowenig wie anderwärts. Die Totenopfer sollten sie zur Ruhe bringen und
ihren Neid und Zorn gegen die glücklichen Lebenden beschwichtigen. Der Auf-
enthalt der Väter” blieb im ganzen doch problematisch. Ohne Opfer drohte ihnen
in den Brahmana's der Hungertod; deshalb galten ja Opfer als das Verdienst
schlechthin. Auch den Göttern wurde gelegentlich langes Leben gewünscht und
zunehmend findet sich die Annahme, daß die Existenz weder der Götter noch der
Menschen im Jenseits etwas Ewiges sei
1
). Als sich dann die Spekulation der
Brahmanen mit ihrem Schicksal zu befassen begann, entstand allmählich die Leh-
re vom Wiedertod”, der den sterbenden Geist oder Gott wieder in ein anderes
Dasein führe, - und es lag nahe, dieses wieder auf der Erde zu suchen und damit
an Seelentier”-Vorstellungen, die hier wie sonst bestanden haben werden, anzu-
knüpfen. Damit waren die Elemente der Lehre gegeben. Die Verknüpfung mit der
Lehre von der Vergeltung guter und böser Handlungen durch die mehr oder min-
der ehrenvolle oder schmachvolle Art der Wiedergeburt ist gleichfalls nicht nur
indisch, sondern findet sich ebenfalls z. B. bei den Hellenen. Dem Rationalismus,
der Brahmanen ist aber zweierlei eigentümlich, was erst die höchst penetrante
Bedeutung der so gewendeten Lehre bedingt: 1. die Durchhrung des Gedan-
kens, daß jede einzelne ethisch relevante Handlung unabwendbar ihre Wirkung
auf das Schicksal des Täters übt, daß also keine solche Wirkung verloren gehen
kann: die Lehre vom Karman”; - 2. die Verknüpfung mit dem sozialen Schicksal
des Einzelnen innerhalb der gesellschaftlichen Organisation und dadurch mit der
Kastenordnung. Alle (rituellen oder ethischen) Verdienste und Verschuldungen
des Einzelnen bilden eine Art von Kontokorrent, dessen Saldo unweigerlich das
weitere Schicksal der Seele bei der Wiedergeburt bestimmt, und zwar ganz genau
proportional dem Maß des Ueberschusses der einen oder der anderen Seite des
Kontos
2
). Ewige” Belohnungen oder Strafen kann es also unmöglich geben: sie
wären ja absolut
1
) S. B o y e r , Journal Asiat. 9. Ser. 18 (1901) und über den “Wiedertod” jetzt vor allem: H.
O l d e n b e r g , Die Lehre der Upanischaden und die Annge des Buddhismus (Göttin-
gen 1915).
2
) Schicksalsglaube, Astrologie, Horoskopie waren in Indien seit langem sehr verbreitet. Aber
bei näherem Zusehen scheint sich zu zeigen, daß das Horoskop die Schicksale wohl anzeigt,
daß aber die Konstellation selbst in ihrer guten oder üblen Bedeutung für den Einzelnen
durch Karman bestimmt wird.
119
I. Das hinduistische soziale System. [119]
unproportional einem endlichen Tun. Im Himmel sowohl wie in der Hölle kann man
nur endliche Zeit sein. Und beide spielen überhaupt nur eine Nebenrolle. Der Himmel
war wohl ursprünglich nur ein Brahmanen- und ein Kriegerhimmel. Der Hölle aber
konnte auch der übelste nder durch rein rituelle und äußerst bequeme Mittel: das
Aussprechen bestirnmter Formeln in der Todesstunde, auch durch andere (sogar un-
wissentlich und durch den Feind) entgehen. Hingegen gab es schlechthin keinerlei ritu-
elles Mittel und überhaupt keine (innerweltliche) Tat, durch die man sich der Wieder-
geburt und dem Wiedertod entziehen konnte. Die universell verbreitete Vorstellung:
daß Krankheit, Gebrechen, Armut, kurz alles was im Leben gefürchtet wurde, Folgen
selbstverschuldeter, bewußter oder unbewußter, magisch relevanter Verfehlungen sei-
en, wurde hier zu der Anschauung gesteigert: daß das gesamte Lebensschicksal des
Menschen eigenste Tat sei. Und da der Augenschein allzu sehr dagegen sprach, daß
die ethische Vergeltung innerhalb jedes einzelnen Lebens im Diesseits sich vollziehe,
so lag nach Durchbildung des Seelenwanderungsgedankens die Konzeption sehr nahe
und wurde von den Brahmanen, zuerst offenbar als esoterische Lehre, vollzogen: daß
Verdienste und Verschuldungen früherer Leben das jetzige, solche des jetzigen Lebens
das Schicksal im künftigen Erdenleben bestimmen. Daß der Mensch in der grenzenlo-
sen Abfolge immer neuer Leben und Tode allein durch eigene Handlungen sein
Schicksal bestimme, war die konsequenteste Form der Karman - Lehre. Die Quellen,
zumal die monumentalen Quellen, zeigen zwar, daß diese Konsequenz nicht immer
festgehalten wurde. Die altüberlieferten Totenopfer waren ja, sofern man durch sie das
Schicksal des Toten beeinflussen wollte, damit im Widerspruch, und wir finden denn
auch, daß, wie im Christentum, Gebete und Opfer verrichtet, Stiftungen gemacht und
Bauten aufgeführt wurden, um die Verdienste und damit das Zukunftsschicksal der
Ahnen aufzubessern. Allein solche, und ähnliche, Reste einer anderen Auffassung än-
dern nichts daran, daß der Einzelne sich fortgesetzt vor allem mit der Besserung seines
eigenen Wiedergeburts - Schicksals befaßte. Gerade das zeigen die Inschriften. Man
bringt Opfer und macht Stiftungen, um künftig in einer ebenso guten oder besseren Le-
benslage, z. B. mit der gleichen Frau oder den gleichen Kindern, wiedergeboren zu
werden; Fürstinnen
120
Hinduismus und Buddhismus. [120]
wünschen zu erreichen, daß sie künftig in einer ähnlich respektabeln Position wieder
auf Erden erscheinen. Und hier liegt nun der entscheidende Zusammenhang mit der
Kastenordnung. Gerade die Kastenlage des Einzelnen ist nichts Zufälliges: der sozial-
kritische Gedanke des Zufalls der Geburt”, wie er dem Schicksalsglauben des tradi-
tionalistischen Konfuzianismus mit occidentalen Sozialreformern gemeinsam ist, fehlt
in Indien fast völlig. Der Einzelne wird in der Kaste geboren, welche er sich in einem
früheren Leben durch sein Verhalten verdient hat. Der einzelne Hindu ist also tatsäch-
lich, je nachdem, “vorsichtig” oder unvorsichtiggewesen in der Wahl, wenn auch
vielleicht nicht, wie das deutsche Scherzwort sagt, seiner konkreten Eltern”, so doch
der Kaste, der diese angehörten. Ein korrekt gläubiger Hindu wird im Hinblick auf die
klägliche Lage eines zu einer unreinen Kaste Gehörigen nur den Gedanken haben: er
hat besonders viele Sünden aus früherer Existenz abzubüßen
1
). Dies aber hat die Kehr-
seite: daß das Mitglied der unreinen Kaste vor allem auch an die Chance denkt, durch
ein kastenrituell exemplarisches Leben seine sozialen Zukunftschancen bei der Wie-
dergeburt verbessern zu können. In diesem Leben gibt es einen Ausweg aus der Kaste,
nach oben wenigstens, schlechterdings nicht. Denn der unentrinnbar abrollenden Kar-
man - Kausalität entspricht die Ewigkeit der Welt, des Lebens und vor allem: der Ka-
stenordnung. Keine echt hinduistische Lehre kennt einen jüngsten Tag”. Es gibt zwar
nach weitverbreiteten Lehren Epochen, in denen die Welt, wie bei der germanischen
Götterdämmerung, zum Chaos zurückkehrt, aber nur um ihren Kreislauf alsbald wieder
zu beginnen. So wenig wie die Menschen sind die Götter unsterblich”. Ja, nach ein-
zelnen Lehren ist, da ein Mensch durch besonders hohe Tugend auch als ein Gott, z.
B. als Indra, wiedergeboren werden kann, dieser eigentlich nur ein Name für Wech-
selnde und fungible Persönlichkeiten. Daß der einzelne fromme Hindu die pathetischen
Voraussetzungen dieser die Welt in einen streng rationalen, ethisch determinierten
Kosmos umwandelnden Karman- lehre - der konsequentesten Theodizee, welche die
Geschichte je hervorgebracht hat - nicht immer in ihrem Gesamtzusammenhang vor
Augen zu haben pflegte, ist für die uns interessierende praktische Wir-
1
) Dies berichtet denn auch Blunt im Census Report 1911 als eine ihm gegenüber mit Bezug auf die
Chamar gemachte Aeußerung vornehmer Hindus.
121
I. Das hinduistische soziale System. [121]
kung ohne Belang. Er blieb hineingebannt in das Gehäuse, welches nur durch diesen
ideellen Zusammenhang sinnvoll wurde und die Konsequenzen davon belasteten sein
Handeln. Wenn das kommunistische Manifest mit den Sätzen schließt: Sie” (die Pro-
letarier) haben nichts zu verlieren als ihre Ketten, sie haben eine Welt zu gewinnen” -
so galt das gleiche r den frommen Hindu niederer Kaste. Auch er konnte die Welt”,
sogar die Himmelswelt gewinnen, Kschatriya, Brahmane, des Himmels teilhaftig und
selbst ein Gott werden, - nur nicht in diesem seiriem jetzigen Leben, sondern in dem
künftigen Dasein nach der Wiedergeburt, innerhalb der gleichen Ordnungen dieser
Welt. Die Ordnung und der Rang der Kasten waren ewig (der Idee nach), wie der
Gang der Gestirne und der Unterschied zwischen den Tiergattungen und den Men-
schenrassen. Sinnlos wäre der Versuch sie umstürzen zu wollen. Die Wiedergeburt
konnte ihn zwar hinab in das Leben eines Wurms im Darm eines Hundes” führen, -
aber je nach seinem Verhalten auch hinauf in den Schoß einer Königin und Brahma-
nentochter. Absolute Vorbedingung aber war in seinem dermaligen Leben die strenge
Erfüllung seiner jetzigen Kastenpflichten, die Vermeidung des rituell schwer sündhaf-
ten Versuchs, aus seiner Kaste treten zu wollen. Das bleibe in deinem Beruf”, im Ur-
christentum eschatologisch motiviert, und die Berufstreue” überhaupt waren hier an
den hinduistischen Wiedergeburts - Verheißungen verankert, so fest, wie keine andere
organische” Gesellschaftsethik es je vermocht hat. Denn im Hinduismus knüpfte sie
nicht an sozialethische Lehren von der Sittlichkeit der Berufstreue und des frommen
Sichbescheidens an, wie in den patriarchalen Formen des Christentums, sondern an die
ganz persönlichen Heilsinteressen des Einzelnen. Sie setzte, neben den Aengsten vor
magischen Folgen von Neuerungen
1
), auch die denkbar höchste Prämie, welche der
Hindu kannte, auf die Kastentreue. Der Handwerker, welcher nach den Vorschriften
der Tradition treu arbeitet, im Lohn nicht überfordert, in der Qualität nicht betrügt,
wird nach der Heilslehre des Hinduismus - je nach dem Rang seiner gegenwärtigen
Kaste - als König, als Edler usw. wiedergeboren. Dagegen gilt der oft zitierte Grund-
satz der
1
) Die indischen Jutebauern sind noch heute nicht oder schwer zum Düngen ihres Landes zu bringen,
nur weil es “gegen den Brauch” ist. (v. Delden, Studien über die indische Juteindustrie 1915.)
122
Hinduismus und Buddhismus. [122]
klassischen Lehre: daß die Erfüllung der eigenen” (Kasten-) Pflicht selbst ohne Aus-
zeichnung besser ist als das Erfüllen der Pflicht eines Anderen sei es auch in noch so
ausgezeichneter Art: denn darin liegt stets Gefahr”. Vollends die Vernachlässigung ei-
gener Kastenpflichten zugunsten von höheren Prätensionen zieht unfehlbar Nachteile
im jetzigen oder künftigen Leben nach sich. Die hinduistische Berufstugend war die
traditionalistischste Konzeption der Berufspflicht, die überhaupt denkbar war. Die Ka-
sten mochten mit bitterem Haß fremd nebeneinanderstehen, - denn daß ein jeder sein
Schicksal verdient” hatte, machte das bessere Schicksal des Anderen gewiß nicht er-
quicklicher r den sozial Benachteiligten: - Umsturzgedanken oder das Streben nach
Fortschritt” waren auf diesem Boden undenkbar, so lange und so weit die Karman -
Lehre unerschüttert blieb. Gerade r die niederen Kasten, die durch rituelle Kasten -
Korrektheit das Meiste zu gewinnen hatten, war die Versuchung zu Neuerungen am
geringsten und ihr noch heute oft besonders strenges Festhalten an der Tradition erklärt
sich auch aus der Größe der Verheißungen, die gerade r sie durch eine Abweichung
von ihr bedroht wurden. Auf dem Boden dieses an der Karman-Lehre verankerten Ka-
sten - Ritualismus war eine Brechung des Traditionalismus durch Rationalisierung der
Wirtschaft eine Unmöglichkeit. Wer aus dieser ewigen Kastenwelt, in welcher die
Götter eigentlich auch nur eine, zwar über den Brahmanen, aber - wie wir sehen wer-
den - unter den durch Askese mit magischer Kraft ausgestatteten Zauberern stehende
Kaste bildeten, und aus dem unentrinnbaren Kreislauf der Wiedergeburt und des Wie-
dertodes heraus wollte, der mußte aus der Welt selbst heraus in jene Hinterwelt, in
welche die hinduistische Erlösung” hrte. Von der Entwicklung dieses indischen Er-
lösungsglaubens ist später gesondert zu reden. Hier beschäftigt uns vorerst ein anderes
Problem.
Wenn es klar ist, daß das r den Hinduismus Spezifische die V e r b i n d u n g der
an sich auch sonst vorkommenden Karman - Theodizee mit der kastenmäßigen sozia-
len Ordnung ist, so mgefragt werden: woher ist diese Kastenordnung, welche sich
in dieser Art anderwärts gar nicht oder doch nur in Ansätzen findet, gerade in Indien
entstanden ? Mit dem Vorbehalt, daß bei der Meinungsverschiedenheit auch der aus-
gezeichnetsten Fach-
123
I. Das hinduistische soziale System. [123]
Indologen über viele Punkte hier nur Vermutungen möglich sind, läßt sich darüber im
Anschlan fhere Ausführungen das Folgende sagen:
Klar ist, daß bloße Berufsschichtung an und r sich eine so schroffe Scheidung nicht
aus sich gebären konnte. Daß leiturgische Zunftgliederung sie erstmalig bewirkt hätte,
ist nicht erweislich und nicht wahrscheinlich. Und die sehr große Zahl der dem Ur-
sprung naeh ethnischen Kasten zeigt, daß zum mindesten Berufsgliederung allein den
Zustand nicht erklärt, so stark sie mitgewirkt haben muß. Die Bedeutung ethnischer
Momente neben den ständischen und ökonomischen ist außer Zweifel.
Man hat nun, mehr oder minder radikal, die Kastengliederung einfach mit der Rassen-
gliederung gleichsetzen wollen. Der älteste Ausdruck für “Stand” (varna) bedeutet
Farbe”. Die Kasten sind in der Tradition oft nach typischer Hautfarbe geschieden:
Brahmanen : weiß, Kschatriya : rot, Vaiçya : gelb, Çudra: schwarz. Die anthropometri-
schen Untersuchungen, - namentlich von Risley, haben typische Abstufungen anthro-
pologischer Merkmale je nach der Art der Kasten ergeben. Der Zusammenhang be-
steht also. Man darf sich nur nicht etwa vorstellen: es sei die Kastenordnung ein
rassenpsychologisches” Produkt, aus geheimnisvollen, im “Blut” liegenden Tenden-
zen der indischen Seele” zu erklären. Oder: die Kaste sei der Ausdruck des Gegen-
satzes verschiedener Rassentypen oder ein Produkt einer “im Blut” liegenden “Rassen-
Abstoßung”
1
), oder von im Blut” liegenden Unterschieden der Begabungund Eig-
nung für die einzelnen Kastenberufe. Die Rasse, oder richtiger, die Tatsache des Zu-
sammenstoßens rassenverschiedener und zwar - darauf kommt es soziologisch an - im
äußeren Typus auffallend rassenverschiedener Völker in Indien ist r die Entwicklung
der Kastenordnung von sehr erheblicher Be-
1
) Solche Vorstellungen treiben auch in der Erörterung der nordamerikanischen Neger -Probleme ihr
Wesen. Was die angebliche natürliche” Antipathie der Rassen gegeneinander anbelangt, so ist -
wie mit Recht gesagt wurde - die Existenz mehrerer Millionen von Mischlingen wohl ein ausrei-
chendes Dementi dieser angeblichen “natürlichenFremdheit. Die Blutsfremdheit gegenüber den
Indianern ist mindestens so groß, wenn nicht größer; jeder Yankee aber sucht Indianerblut in sei-
nem pedigree nachzuweisen und wenn die Häuptlingstochter Pocohontas für die Existenz aller der
Amerikaner verantwortlich sein sollte, welche von ihr abstammen möchten, so müßte sie eine
Kinderzahl wie August der Starke gehabt haben.
124
Hinduismus und Buddhismus. [124]
deutung gewesen
1
). Aber man muß sie in richtiger Art in den Kausalzusammenhang
einstellen.
Die alte vedische Periode kennt nur den Gegensatz der Arya und der Dasyu. Der Na-
me Arya ist geblieben als Ausdruck r das Vornehme”, den Gentleman”. Der Da-
syu war der dunkelfarbige Feind der eindringenden Eroberer, in seiner Zivilisation
vermutlich ihnen mindestens ebenbürtig, burgensässig, auch politisch organisiert. Wie
alle Völker von China bis Irland hat auch der arische Stamm damals seine Epoche wa-
genkämpfender burgsässiger Ritter durchgemacht. Diese Ritterschaft heißt technisch
Maghavan”, Gabenspender”. Diejenigen, die sie so nennen, sind die heiligen Sänger
und Zauberer, die von jenen Gaben abhängen, den Geber preisen, den Kargen verhöh-
nen und magisch zu schädigen trachten. Diese spielten schon damals, und zwar gerade
bei den Ariern, eine gewaltige, mit der Zeit offenbar zunehmende Rolle: Wir und der
Miaghavan”, unser Maghavan” heißt der Ausdruck von den Rittern, denen sich die
Zauberer angeschlossen haben. Sie tragen schon damals durch ihren Zauber außeror-
dentlich viel zum militärischen Erfolg bei. Dies steigert sich nun in der Periode der
Brahmanas” und der “Epen” zu ganz unerhörter Höhe.
Ursprünglich ist der Uebergang zwischen den Krieger und den Priester-(Rischi-) Ge-
schlechtern frei. Im Epos aber muß König Viçvamithra Jahrtausende lang Askese
üben, bis die Götter, in der Angst vor seiner magischen Macht, ihm die
Brahmanenqualität verschaffen. Das Gebet des Brahmanen verschafft dem König den
Sieg. Der Brahmane steht turmhoch über dem König. Er ist ein ritueller
Uebermensch” nicht nur, sondern er steht an Gewalt gleich den Göttern, und ein
König ohne Brahmanen heißt einfach ungeleitet”, denn die Leitung durch den
purohita versteht sich von selbst. Die Realität stand mit diesen Ansprüchen vielfach
noch im starken Widerspruch. In den Gebieten, welche die ritterliche Gesellschaft des
frühen Mittelalters - der vorbuddhistischen Zeit - erobert hatte, dem heutigen Bihar
etwa, dachte die Ritter- (Kschatriya-)
1
) Noch im 12. Jahrh. äußerte sich die ethnische Grenze zwischen Ariern und Dravidas am Indravati
in der verschiedenen Sprache der Inschriften: die Verwaltung hielt an der Scheidung fest. Immer-
hin wird ein Ort mit Volk, “welches von überall her kam”, also ethnisch gemischt, einem Tempel
übergeben. (Ep. Ind. IX, 313.)
125
I. Das hinduistische soziale System. [125]
Gesellschaft gar nicht daran, die Brahmanen als sozial gleichberechtigt anzuerkennen.
Erst die patrimonialen hinduistischen Großkönigreiche stützten sich im Legitimitätsin-
teresse auf sie und die islämische Eroberung zertrümmerte die politisch - militärische
Macht der Kschatriya und stützte so die ihr selbst verhte Brahmanenherrschaft, de-
ren Prätensionen, wie sie die klassische Literatur und die Rechtsbücher wiedergaben,
nun stereotypiert blieben.
Daß nun diese Priesterherrschaft gerade in die Bahnen der Kastenordnung einlenkte,
hatte eine Reihe von Ursachen. Ethnische Gegentze heften sich an Gegensätze des
äußeren Habitus und der äußeren Lebensführung. Der auffallendste Gegensatz der äu-
ßeren Erscheinung ist aber nun einmal der Unterschied der Hautfarbe. Er hinderte, ob-
wohl die Eroberer, um überhaupt genügend Frauen zu haben, sich solche aus den Un-
terworfenen nahmen, doch, daß jemals eine Verschmelzung, etwa nach Art der Nor-
mannen und Angelsachsen aufkam. In der ganzen Welt setzen vornehme Geschlechter
ihre Ehre darein, sich nur Gleichgeordnete als Werber um ihre Töchter gefallen zu las-
sen, während den Söhnen die Art der Befriedigung ihrer Geschlechtsbedürfnisse über-
lassen zu bleiben pflegt. Hier, und nicht in irgendwelchen mystischen Rasseninstink-
ten” oder unbekannten Unterschieden der Rassenqualitäten”, liegt der entscheidende
Punkt der Einwirkung des Gegensatzes der Hautfarben: ein Konnubium mit den ver-
achteten Unterworfenen kam niemals auf gleichem Fuß zustande. Der Mischling we-
nigstens aus Geschlechtsgemeinschaft von Töchtern der Oberschicht mit Söhnen der
Unterschicht blieb sozial verachtet.
Diese an sich feste, durch magische Scheu befestigte, Schranke mußte das Schwerge-
wicht der Geburtsrechte, das Gentilcharisma, auf allen Gebieten steigern und erhalten.
Wir sahen, daß schlechthin alle, Stellungen, welche unter der Herrschaft magischen
Geisterglaubens an den Besitz magischen Charismas geknüpft zu sein pflegen: vor al-
lem Autoritätsstellungen geistlicher und weltlicher Art, aber auch die Kunst der Hand-
werker, in Indien alsbald die Tendenz hatten, gentilcharismatisch, schließlich einfach:
erblich” zu werden, so stark, wie diese an sich nicht auf Indien beschränkte Erschei-
nung nirgends sonst in der Welt auftritt. Darin lag der Keim der Kastenbildung r die-
se Stellungen und Berufe.
126
Hinduismus und Buddhismus. [126]
Zur eigentlichen Kastenbildung führte dies in Verbindung mit einer Anzahl äußerer
Umstände. Die Okkupation des eroberten Landes erfolgte durch gentilcharismatische
Sippen und Phratrien, die sich dorfweise ansiedelten und die unterworfene Bevölke-
rung nun entweder als Rentenzahler oder als Dorfarbeiter, landwirtschaftliche oder
gewerbliche Arbeiter, auf die Außenschläge und Wurthen oder auch in besondere He-
loten- und Handwerker - Dörfer verwiesen , bald aber aus den gewerblichen Paria-
stämmen Arbeiter draußen ansiedelten. Sie selbst behielten das “Recht auf Land” in
ähnlicher Art, wie die Spartiaten: als Recht auf Zuteilung eines rententragenden Kle-
ros. Die in dieser äußerlichen Hinsicht bestehende Analogie der Stellung der Heloten
im spartiatischen Stäat mit der Lage der indischen Dorfhandwerker und unterworfenen
Stämme mman, so groß in anderen Hinsichten die Unterschiede waren, stets im
Auge behalten, um die Kastenbildung zu verstehen. Als Gesamtheiten standen die
dorfweise gesiedelten Eroberersippen und die Unterworfenen einander gegenüber. Die
persönliche Sklaverei verschwand an Bedeutung gegenüber jener wichtigen Erschei-
nung: daß der Unteiworfene (Çudra) zwar Knecht war, aber prinzipiell als Knecht
nicht eines Einzelnen, sondern der Gemeinschaft der Wiedergeborenen galt. Die Ero-
berer fanden ein gewisses, vermutlich ein nicht ganz unerhebliches, Maß gewerblicher
Entwicklung bei den unterworfenen Völkerschaften vor. Aber diese gewerbliche Ent-
wicklung und der Absatz der Produkte vollzog sich zunächst durchweg nicht als lokale
Berufsgliederung mit dem Markt und der Stadt als Mittelpunkt, sondern gerade umge-
kehrt durch Uebergang aus der Eigenwirtschaft des Hauses zum Absatz auf dem Wege
der interlokalen und interethnischen Berufsspezialisierung. Wir kennen das Gleiche in
primitiver Form massenhaft, z. B. durch Schilderungen von den Steinen's aus Brasilien
und anderer Forscher: die einzelnen Stämme, Stammesbruchteile, Dörfer, welche
durch Nähe der Rohmaterialien oder der Flüsse und anderer Verkehrsmittel oder durch
zufällig erworbene und dann als Geheimkunst erblich weitergepflegte gewerbliche Fer-
tigkeit als Träger der “stammesgewerblichen Absatzproduktion auftreten, beginnen
über immer weitere Gebiete hin die zunehmenden Ueberschüsse ihres Hausfleißes ab-
zusetzen; ihre spezialistisch geschulten Arbeiter gehen auf die Wanderschaft und sie-
deln sich
127
I. Das hinduistische soziale System. [127]
weiterhin als Gastarbeiter zeitweise oder schließlich dauernd in fremden Gemeinschaf-
ten an. In den allerverschiedensten Erdteilen und Gebieten, - selbstverständlich in sehr
erheblichen Spuren auch im antiken wie im mittelalterlichen Occident, - finden wir die-
se interethnische Arbeitsteilung. Wenn sie in Indien die Herrschaft behielt, so war dar-
an wohl die schwache Entwicklung der Städte und ihres Marktes schuld. rstenbur-
gen und Bauerndörfer blieben Jahrhunderte lang die Absatzstätten. Innerhalb der Dör-
fer der Eroberer aber erhielt sich, und zwar sicherlich infolge der Gegensätze der
Rassen, welche dem Gentilcharismatismus die entscheidende Stütze gab, der Zusam-
menhalt der Gemeinschaft der Eroberersippen, auch wo diese schließlich gänzlich ver-
bauerten. Und als der patrimonialistische Fiskalismus einsetzte, stärkte er diese Ent-
wicklung. Es war r ihn bequem, einerseits nur mit einem verantwortlichen Steuerträ-
ger zu tun zu haben, andererseits die Gesamtheit der am Bodenbesitz vollberechtigten
Dorfgenossen r das Steuersoll haftbar zu machen. Er knüpfte an die alten Herrendör-
fer an, überließ ihnen die Teilung der Feldmark und die Verfügung daber nach ihrem
Belieben und begnügte sich mit der Garantie des Aufkommens der Steuersumme durch
solidarische Haftung aller Vollgenossen des Dorfes. Ganz ebenso haben vermutlich -
denn erweislich ist das nicht - die unterworfenen Stämme mit spezialisierten Gewerben
Pauschaltribute zu zahlen gehabt. Das festigte die überkommene Gewerbeverfassung;
Die Städte waren durchweg herrschaftliche Festungen. In und bei ihnen wurden - wie
wir sahen - leiturgisch, also meist erblich, an ihren Beruf gebundene Hörige oder soli-
darisch steuerhaftende Verbände von Gastarbeitern oder Angehörigen der gewerbe-
treibenden Stämme angesiedelt und rstlichen Aufsichtsbeamten unterstellt. Die fiska-
lischen Lizenz- und Akziseinteressen haben zwar, sahen wir, eine Art von städtischer
Marktpolitik nach Art des Occidents hervorgebracht. Und die Entwicklung städtischer
Gewerbe und vor allem des städtischen Preiswerks brachte Gilden und nfte, schließ-
lich auch Gildenverbände, zum Entstehen. Aber das war eine dünne Schicht inmitten
des Meers der dörflichen Deputatisten und des Gastgewerbes und Gasthandels der
Stämme. Die gewerbliche Spezialisierung blieb, der Masse nach, in die Bahn der
Gastvolksentwicklung gebannt. In den Städten aber hinderte gerade in der breiten
Schicht der
128
Hinduismus und Buddhismus. [128]
Gewerbe die rassenmäßige und ethnische Fremdheit der Gasthandwerker gegeneinan-
der die Entwicklung von Verbänden nach Art des occidentalen popolo. Nirgends, vor
allen Dingen, wurde eine Verbrüderung der Stadtbürgerschaft a l s s o l c h e Träger
der höchst entwickelten Wehrmacht nach Art der Polis der Antike und der Stadt we-
nigstens des südeuropäischen Mittelalters im Occident. Sondern an die Stelle der Rit-
terschaften traten unmittelbar die rstlichen Herren. Die Städte und ihr rgertum
blieben infolge der apolitischen Eigenart der Erlösungsreligionen Indiens in aller Regel
in ganz spezifischem Sinn unmilitärisch und religiös pazifistisch.
Mit der Niederwerfung der sozialen Machtstellung der Gilden durch das rstentum
wurden die Ansätze einer Stadtentwicklung occidentalen Gepräges vertilgt, Brahma-
nenmacht und patrimoniale Fürstenmacht im Bunde stützten sich, dem kontinentalen
Charakter Indiens entsprechend, auf die ländlichen Organisationen als Heeres- und
Steuerquellen. Auf dem Lande aber blieb die Entwicklung der gastvolksmäßigen Ar-
beitsteilung und des Deputatistentums der alten Dorfhandwerker das Vorherrschende.
Die Städte hatten nur eine Vermehrung der Zahl der Gewerbe und die Entstehung rei-
cher Händler- und Preiswerker - Gilden gebracht. Nach dem Muster des jajmani -
Prinzips der Brahmanen und der Dorfhandwerker gerieten auch sie in die Bahn der
Kontingentierung der Nahrungen und der erblichen Appropriation der Kundschaften.
Wiederum war es der überall als selbstverständliches Prinzip bestehende Gentilcha-
rismatismus, der diese Entwicklung stützte. Die rstlich verliehenen Monopole des in-
terlokalen Handels hrten in den gleichen Weg, da auch sie oft an Gasthandelsvölker
anknüpfen. Sippen- und Dorfexogamien und Gaststammesendogamien, und der Fort-
bestand der rituellen und kultischen, niemals durch Kultverbrüderungen von das Land
beherrschenden autonomen Städtebürgerschaften gebrochenen Abgesondertheit der
Gaststämme gegeneinander gaben den Brahmanen die Möglichkeit, bei der rituellen
Reglementierung der sozialen Ordnung die gegebenen Verhältnisse religiös zu stereo-
typieren. Sie selbst hatten, im Interesse ihrer eigenen zunehmenden, aus der alten Mo-
nopolisierung der magischen Qualitäten und magischen Zwangsmittel und der dafür er-
forderlichen Schulung und Bildung herauswachsenden Machtstellung, ein Interesse
daran. Die Fürstenmacht lieferte
129
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
I. Das hinduistische soziale System. [129]
ihnen die Machtmittel, die heterodoxen Erlösungsreligionen der Stadtbürger sowohl,
wie die von den aufstrebenden vornehmen Gilden und nften vielfach beibehaltenen
oder auch neu geschaffenen nichtbrahmanischen, aber Brahmanenrang beanspruchen-
den Stammes- und Berufspriester und die als Uebergriff empfundene Autonomie dieser
Verbände zu unterdrücken
1
).
Daß eine Schicht von Zauberern zu einem gentilcharismatischen Stande erwächst, ist
ja nichts Indien Eigentümliches. Auch im hellenischen Altertum (Milet) finden wir ge-
legentlich eine Gilde der heiligen Tänzer inschriftlich als herrschenden Stand. Aber die
Universalität der kultischen und rituellen Fremdheit der Gasthandwerker und - Stämme
gegeneinander fehlte auf dem Boden der Polis - Verbrüderung. Die rein beruflich und
also frei sich rekrutierenden Händler- und Handwerkerberufe blieben in Indien eine
Teilerscheinung, darauf angewiesen, sich in ritueller Hinsicht den bei der überwälti-
genden Mehrheit herrschenden Gepflogenheiten zu fügen. Dies zu tun lag um so näher,
als gerade diese rituelle Schließung der Berufsverbände ihnen die Legitimität ihrer
Nahrungs” - Monopole absolut garantierte. Wie überall im Occident die Patrimonial-
bürokratie zunächst die Schließung der Zünfte und Gilden nicht hemmte, sondern för-
derte und im ersten Stadium ihrer Politik nur die Interlokalität mancher von diesen
Verbänden an die Stelle der stadtwirtschaftlichen rein lokalen Monopole setzte, so
auch hier. Das zweite Stadium der occidentalen rstenpolitik aber: das ndnis mit
dem Kapital, zur Steigerung der Macht nach außen, kam in Indien seines kontinentalen
Charakters und des Ueberwiegens der beliebig erhöhbaren Grundsteuern wegen, nicht
in Frage.
Die rsten waren in der Zeit der Gildenmacht von den Gilden finanziell, stark abhän-
gig gewesen.
1
) Wie wichtig diese Seite der Sache war, zeigt sich darin, daß heute die Opposition vornehmer Bür-
gerkasten gegen die Brahmanen gelegentlich wieder zu den Mitteln greift; 1. die Teilnahme am öf-
fentlichen Tempelkult abzuschaffen und sich auf den Hauskult zu beschränken; dadurch gewinnt
der Einzelne die Wahl des ihm genehmen Brahmanen, und es wird das höchst wirksame Macht-
mittel der Fürsten und Brahmanen: Sperrung des Tempels, also eine Art “Interdikt”, gebrochen; 2.
aber und noch radikaler: eigene Priester aus der eigenen Kaste auszubilden und an Stelle der
Brahmanen zu verwenden. Ebendahin gehört ganz allgemein 3. die gegen die Autorität der Brah-
manen gerichtete Tendenz, die Kastenangelegenheiten, auch rituelle, durch die panchayats odes
vollends durch die modernen Kastenversammlungen zu erledigen, statt sich an einen pandit oder
ein math (Kloster) um Entscheidung zu wenden.
130
Hinduismus und Buddhismus. [130]
Die unmilitärische Schicht der Stadtbürger war aber nicht in der Lage, der Fürsten-
macht zu widerstehen, wo diese, müde jener Abhängigkeit, die sie empörte, an Stelle
der kapitalistischen die leiturgisch - steuerliche Deckung der Verwaltungskosten
durchführte. Die patrimoniale Fürstenmacht setzte sich mit Hilfe der Brahmanen ge-
genüber dem in Ansätzen vorhandenen und zeitweilig machtvollen Gildenbürgertum
durch. Die religiöse Domestikation der Untertanen leistete die brahmanische Theorie
dabei in unübertrefflicher Weise. Der Alleinherrschaft der Brahmanen selbst kam dann
schließlich auch die hereinbrechende Fremdherrschaft zu gut. Ihre wichtigsten Konkur-
renten: das Rittertum und die Reste der Gilden in den Städten, wurden von den Erobe-
rern als politisch gefährlich jeder eigenen Macht entkleidet. Die Machtstellung der
Brahmanen andererseits wuchs, nachdem die Eroberer sich nach einer Epoche fanati-
schen Bildersturms und energischer islamischer Propaganda mit dem Fortbestand der
hinduistischen Kultur abfanden, wie ja überall unter der Fremdherrschaft die theokrati-
schen Mächte für die Unterworfenen die gegebene Zuflucht, für die fremden Herren
aber das gegebene Domestikationsmittel gewesen sind. Die rituell geschiedenen Gast-
und Pariastämme wurden nun, mit zunehmender Stabilisierung der ökonomischen Ver-
hältnisse, zunehmend in die sich - aus den früher erwähnten Motiven - zunehmend
ausbreitende Kastenordnung eingegliedert, welche so zu jenem universell herrschenden
System wurde, das wir in dem Jahrtausend vom 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung
bis zum Beginn der islamischen Herrschaft in unaufhaltsamer, durch die Propaganda
des Islam verlangsamter, aber doch sich immer weiter fortsetzender, Ausdehnung fin-
den. Als geschlossenes System ist es ein Produkt konsequenten brahmanischen Den-
kens urid hätte ohne den intensiven Einflder Brahmanen, als Hauspriester, Respon-
denten, Beichtväter,und Ratgeber in allen Lebenslagen und als ihrer Schreibkunst we-
gen mit Beginn der bürokratischen Regierung steigend gesuchte fürstliche Beamte
wohl niemals die Herrschaft gewonnen. Aber die Bausteine lieferten die alten Zustände
Indiens: die interethnische Arbeitsspezialisierung und die Entstehung massenhafter
Gast- und Pariavölker, die Organisation des Dorfgewerbes auf der Grundlage des erb-
lichen Deputathandwerks, der Binnenhandel in den Händen von Gaststämmen, die
quantitativ
131
I. Das hinduistische soziale System. [131]
schwache städtische Entwicklung und das Einlenken der Berufsspezialisierung in die
Bahnen erblicher Ständescheidung und erblichen Kundschaftschutzes. Nur daneben
wirkten wohl auch Ansätze leiturgischer und fiskalischer Berufsbindung durch die Für-
sten, stärker aber deren Legitimitäts- und Domestikations - Interesse daran: mit den
Brahmanen gemeinsam die nun schon eingelebte heilige Ordnung zu wahren, an deren
Festigung. Alle übrigen von diesen einzelnen Entwicklungsmomenten wirkten, als ein-
zelne, auch anderwärts. Nirgends aber trafen sie alle zusammen mit der besonderen
Lage Indiens: ein Eroberungsgebiet mit unauslöschbaren, äußerlich schroff in der
Hautfarbe hervortretenden, Rassengegensätzen zu sein. Neben der sozialen rief dies
auch die magische Ablehnung der Gemeinschaft mit den Fremden weit stärker als ir-
gendwo sonst auf den Plan und trug dazu bei, das Charisma der vornehmen Sippen und
die Schranken zwischen den ethnisch fremden unterworfenen Stämmen, Gastvölkern
u.nd Pariastämmen und den Herrenschichten auch nach endgültiger Einordnung der er-
steren in die lokale Wirtschaftsgemeinschaft unübersteiglich zu machen oder zu erhal-
ten. Individuelle Aufnahme in die Handwerkslehre, in die Tauschgemeinschaft auf dem
Markt, in das Bürgerrecht, alle diese Erscheinungen des Westens entwickelten sich
entweder gar nicht oder schwanden wieder gegenüber dem Schwergewicht der zuerst
ethnischen, dann kastenmäßigen Gebundenheit.
Noch einmal aber: ohne den penetranten, alles beherrschenden Einfluß der Brahmanen
würde dies in aller Welt seines Gleichen, nicht findende soziale System in seiner Ge-
schlossenheit nicht entstanden oder doch nicht herrschend geworden und geblieben
sein. Längst ehe es auch nur den größeren Teil Nordindiens erobert hatte, mes als
Gedankengebilde fertig gewesen sein. Die in ihrer Art geniale Verknüpfung der Ka-
stenlegitimität mit der Karmanlehre und also mit der spezifisch brahmanischen Theodi-
zee ist schlechterdings nur ein Produkt rational ethischen Denkens, nicht irgendwel-
cher ökonomischer Bedingungen”. Und erst die Vermählung dieses Gedankenpro-
dukts mit der realen sozialen Ordnung durch die Wiedergeburtsverheißungen gab die-
ser Ordnung die unwiderstehliche Gewalt über das Denken und Hoffen der in sie ein-
gebetteten Menschen, das feste Schema, nach dem die Stellung der einzelnen berufli-
chen Gruppen und Pariavölker religiös und sozial
132
Hinduismus und Buddhismus. [132]
geordnet werden konnte. Wo diese Verküpfung fehlte, da konnte - wie bei dem indi-
schen Islam - die Kastenordnung äußerlich übernommen werden: sie blieb ein caput
mortuum, brauchbar zur Festigung der ständischen Differenzen, Vertretung ökonomi-
scher Interessen durch das mitübernommene panchayat, und vor allem: Anpassung an
die zwingenden Einflüsse der Umgebung, aber ohne den Geist”, der sie auf ihren ge-
nuinen religiösen Nährboden beseelte. Weder hätte sie dort entstehen können noch ent-
faltete sie in gleicher Intensität jene Wirkungen auf die “Berufstugend”, welche den
hinduistischen Berufskasten eigentümlich sind. Die Census Reports
1
) ergeben deutlich,
daß den islamischen Kasten einige der allerwichtigsten Eigentümlichkeiten des hindui-
stischen Kastensystems fehlen: vor allem die rituelle Befleckung durch Kommensalität
mit einem Ungenossen, mag die Meidung der Kommensalität, wie schlilich doch
auch der Ausschldes geselligen Verkehrs zwischen den sozialen Schichten bei uns,
ziemlich streng festgehalten werden. Die rituelle Befleckung maber fehlen, weil die
religiöse Gleichheit der Bekenner des Propheten vor Allah sie ausschließt. Auch die
Endogamie besteht zwar, aber mit weit geringerer Intensit. Die sogenannten islami-
schen Kasten” sind wesentlich “Stände”, keine Kasten im vollen Sinn. Und vor allem:
die spezifische Verankerung der Berufstugend” an der Kaste fehlte, ebenso wie die
Autorität einer Brahmanenkaste. - Das Prestige der Brahmanen nun, welches hinter
dieser Entwicklung stand, ist teils rein magischer Art, teils aber bedingt durch ihre
Qualität als einer besonders gearteten vornehmen B i l d u n g s schicht. Wir müssen
auf die Eigenart dieser Bildung und deren Entstehungsbedingungen noch einen Blick
werfen. - Dies auch aus einem anderen Grunde.
So sicher und eindeutig das Kastensystem und die Karmanlehre den Einzelnen in einen
klaren Pflichtenkreis einbettete und ein so abgerundetes, metaphysisch befriedigendes
Bild der Welt sie darbot, so furchtbar konnte diese ethisch rationale Weltordnung emp-
funden werden, wenn der Einzelne begann, nach dem Sinn” seines Lebens innerhalb
dieses Vergeltungsmechanismus zu fragen. Die Welt und ihre kosmische und soziale
Ordnung war ewig und das einzelne Leben nur ein Fall aus einer
1
) Vgl. z. B. C. R. für Bengalen 1911, Part. I, § 958 p. 495.
133
I. Das hinduistische soziale System. [133]
sich in alle Unendlichkeit der Zeit hinein wiederholenden Reihe von Leben der glei-
chen Seele und deshalb letztlich etwas unendlich Gleichgültiges. Die indische Vorstel-
lung von Leben und Welt wendete sich gern dem Bild eines ewig um sich selbst rol-
lenden Rades” von Wiedergeburten zu, - welches sich übrigens, wie Oldenberg be-
merkt hat, auch in der hellenischen Philosophie gelegentlich findet. Es ist kein Zufall,
daß Indien keinerlei nennenswerte Geschichtsschreibung entwickelt hat. Dazu war der
Akzent des Interesses, der auf die jeweilige Gestaltung der politischen und sozialen
Verhältnisse fiel, weitaus zu schwach r den Blick des über das Leben und seine Vor-
gänge Nachsinnenden. Der Glaube an die klimatisch bedingte Erschlaffung” als
Grund der angeblichen indischen Tatenfremdheit ist ganz unbegründet. Kein Land der
Erde hat den wildesten Krieg in Permanenz, die rücksichtsloseste Eroberungssucht in
voller Ungehemmtheit so ausgiebig gekannt wie Indien.
Aber r jedes denkende Sichbesinnen mußte ein solches zu ewiger Wiederholung be-
stimmtes Leben leicht als völlig sinnlos und unerträglich erscheinen. Und zwar ist es
wichtig, sich klar zu machen: daß nicht in erster Linie das stets neue Leben auf dieser
trotz allem doch schönen Erde es war, was gefürchtet wurde, sondern: der stets neue
unentrinnbare Tod. Immer wieder wurde die Seele verstrickt in die Interessen des Da-
seins, mit allen Fasern ihres Herzens gekettet an Dinge und, vor allem, an geliebte
Menschen, - und immer erneut sollte sie sinnlos von ihnen losgerissen und durch Wie-
dergeburt in andere unbekannte Beziehungen verstrickt werden, mit dem gleichen
Schicksal vor sich. Dieser “Wiedertod” war, wie zwischen den Zeilen mancher In-
schriften und auch der Predigten Buddhas und anderer Erlöser ersctternd zu spüren
ist, das, was in Wahrheit gefürchtet wurde. Die allen Erlösungsreligionen des Hindu-
ismus gemeinsame Frage ist: wie kann man dem Rade” der Wiedergeburt und damit,
vor allem, des stets neuen Sterbens entrinnen: Erlösung vom ewig neuen Tode und
deshalb Erlösung vom Leben. Welche Wege der Lebensführung und mit welchen Wir-
kungen r das Handeln aus dieser Fragestellung geboren wurden, müssen wir nun be-
trachten.
_________________
134
Hinduismus und Buddhismus. [134]
II.
II. D i e o r t h o d o x e n u n d h e t e r o d o x e n H e i l s l e h r e n d e r i n -
d i s c h e n I n t e l l e k t u e l l e n . - Antiorgiastischer und ritualistischer Charakter der
brahmanischen Religiosität - Vergleich mit den hellenischen und konfuzianischen Intellektuellen-
schichten S. 134. - Das Dharma und das Fehlen des Naturrechtsproblems S. 141. - Wissen, Askese
und Mystik in Indien S. 146. - Der Sramana und die brahmanische Askese S. 157. - Das brahmani-
sche Schrifttum und die Wissenschaft in Indien S. 162. - Die Heilstechnik (Yoga) und die Entwick-
lung der Religionsphilosophie S. 167. - Die orthodoxen Erlösungslehren S. 170. - Die Heilslehre und
die Berufsethik des Bhagavadgita S. 189. - Die heterodoxe Soteriologie des vornehmen Berufs-
mönchtums: 1. Der Jainismus S. 202. - 2. Der alte Buddhismus S. 217.
Für den Charakter der offiziellen indischen Religiosität war entscheidend, daß ihr Trä-
ger, der brahmanische Priesteradel, eine vornehme Bildungsschicht, später geradezu
eine Schicht vornehmer Literaten, war. Dies hatte vor allem jene Folge, welche in sol-
chen Fällen immer - z. B. auch beim Konfuzianismus - eintrat: daß die orgiastischen
und emotionell - ekstatischen Elemente der alten magischen Riten nicht übernommen
wurden und r längere Zeiträume entweder ganz verkümmerten oder als geduldete
unoffizielle Volksmagie fortlebten. Reste der alten Orgiastik fanden sich im Veda wie
namentlich v. S c h r ö d e r
1
) nachgewiesen hat, in Einzelzügen. Trunkenheit und
Tanz Indras und der Schwerttanz der Maruts (Korybanten) entstammen dem Helden-
rausch und der Heldenekstase. Auch der große priesterliche Kultakt: das Soma - Op-
fer, war ursprünglieh offenbar eine kultisch temperierte Rausch - Orgie, die vielbe-
sprochenen Dialoglieder des Rigveda vermutlich verblte Reste kultischer Dramen
2
).
Aber das offizielle Ritual der Veden und alle ihre Lieder und Formeln ruhen auf Opfer-
und Gebet, und nicht auf den typischen orgiastischen Mitteln: Tanz, sexuellem oder al-
koholischem Rausch, Fleisch - Orgie, welche alle vielmehr sorgsam ausgeschieden und
abgelehnt blieben. Rituelle Begattung auf dem Acker als Mittel Fruchtbarkeit zu schaf-
fen, und der Phallos - (Lingam-) Kult mit seinen phallischen
1
) Mysterium und Mimus im Rigveda 1908 (s. auch seine Bemerkungen zu Oldenbergs Religion des
Veda in der Wiener Zeitschr. z. Kunde des Morgenl. IX).
2
) Dies nachzuweisen ist ein Hauptzweck der zitierten Arbeit v. Schröder's, welche aber zum Folgen-
den überhaupt zu vergleichen ist.
135
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [135]
Kobolden, den Gandharven, sind in Indien wie sonst uralt. Aber der Rigveda schweigt
davon. Er kennt auch das dem kultischen Drama eigene leibhaftige Auftreten der Göt-
ter und Dämonen nicht, - zweifellos weil es schon den alten vornehmen priesterlichen
Sängern der altvedischen Zeit
1
), erst recht aber der brahmanischen Erb - Priesterschaft
teils als vulgär, teils aber auch als bedenkliche Konkurrenz gegenüber ihrer eigenen auf
Ritualkenntnis ruhenden Zaubermacht erschien. Der alte Fruchtbarkeitsgott Rudra mit
seinem sexual- und fleisch - orgiastischen Kult, später als Çiva einer der drei großen
Hindugötter, einerseits Patron des späteren klassischen Sanskrit - Dramas, andererseits
durch den universell verbreiteten Lingam - Kult verehrt, ist im Veda diabolischen Cha-
rakters. Vischnu, sein Nebenbuhler in der späteren Trias und ebenfalls ein durch Pan-
tomimen verehrter großer Himmels- und Fruchtbarkeitsgott, Patron der Tanz - Dramen
und erotischen Orgien des Krischna - Kultes, ist in den Veden eine Nebenfigur: Den
Laien ist beim Opfer der Kelch entzogen”: nur der Priester trinkt Soma. Aber auch
das Fleisch: nur der Priester ißt Opferfleisch. Die im alten wie im modernen asiati-
schen Volksglauben so überaus wichtigen, weiblichen Gottheiten: - Fruchtbarkeitsdä-
monen mit meist sexualorgiastischem Kult -, schieben die Veden ganz in den Hinter-
grund. Im Atharva - Veda: - in seiner literarischen Fixierung wesentlich jünger, dem
Material nach aber wohl ebenso alt wie die anderen Veden, - tritt allerdings an Stelle
des kultischen wieder der magische Charakter der Sprüche und Lieder hervor. Dies
hängt zusammen teils mit der Provenienz des Materials: aus dem Kreise der privaten
magischen Seelsorge”, und nicht, wie in den anderen Veden, des r den politischen
Verband dargebrachten Opfers. Teils aber auch: mit der steigenden Bedeutung des
Zaubers überhaupt, seit die alte Wehrgemeinde durch die Fürstenmacht und damit auch
der alte Opferpriesteradel durch den fürstlichen Hofzauberer, den purohita, in den Hin-
tergrund gedrängt war
2
) . Der Atharva-veda ist im einzelnen nicht ganz
1
) v. Schröder a. o. O. p. 53.
2
) Diese Stellung ist in Indien alt. Oldenberg (Aus Indien und Iran, 1899, p. 67) erinnert mit Recht an
den Gegensatz des Deborah - Liedes (welches den siegreichen Kampf der hebräischen bäuerlichen
Eidgenossenschaft mit der städtischen Ritterschaft feiert), wobei Jahwe als Bundesgott voran-
zieht, gegenüber dem Siegeslied des König Sudas (Rigveda VII, 10), in welchem der Zauber des
Priesters alles macht.
136
Hinduismus und Buddhismus. [136]
so spröde gegeber den Figuren des Volksglaubens (z. B. den Gandharven) wie etwa
der Rigveda. Allein auch bei ihm ist nicht Orgiastik und Ekstase, sondern die rituelle
Formel das spezifische magische Mittel. Im Yajurveda ist der priesterliche Zauber das
absolut beherrschende Element der Religiosität geworden. Die brahmanische Literatur
schritt auf diesem Wege der formalistischen Ritualisierung des Lebens immer weiter
fort. Neben den Brahmanen stand, wie in China neben dem staatlichen Amtskult, der
Hausvater (grihastha) als Träger wichtiger ritueller Pflichten, welche die Grihya -
Sutras eingehend reglementierten und die Dharmasutras (Rechtsbücher) zogen dann
die gesamten sozialen Beziehungen des Einzelnen in ihren Bereich. Das ganze Leben
wurde so umsponnen von einem Netz ritueller und zeremonieller Vorschriften, deren
wirklich erschöpfend korrekte Ausführung zuweilen an die Grenzen des überhaupt
Möglichen streifte.
Im Gegensatz zu den Intellektuellen der althellenischen Polis - Kultur, mit denen sie in
Vergleich gestellt werden müssen
1
), waren eben die Brahmanen (und die von ihnen
beeinflußte Intellektuellenschicht) an Magie und Ritual kraft ihrer Stellung gebunden.
Den alten hellenischen gentilcharismatischen Priesteradel (etwa der Butaden) hatte die
milirische Stadtentwikklung alles realen Einflusses entkleidet und er galt nicht als
Träger irgendwelcher geistigen Werte (sondern, namentlich die “Eteobutaden”, als
Typus junkerlicher Dummheit). Die Brahmanen haben den Zusammenhang mit Opfer
und Magie im Dienst der
1
) Diese Vergleiche mit den parallelen Erscheinungen auf allen Gebieten immer wieder gezogen zu
haben ist unter den lebenden Indologen vor allem H. Oldenbergs Verdienst (auch v. Schröder ver-
schmäht es nicht). Bedenken dagegen hat namentlich E. W. Hopkins erhoben. Ob in Einzelheiten
mit Recht kann nur der Fachmann entscheiden. Für das Verständnis sind jedenfalls diese Verglei-
che ganz unentbehrlich. Der allgemeine geistige Habitus der Intellektuellen ist in China, Indien
und Hellas zunächst keineswegs grundverschieden. Wie die Mystik im alten China blühte, so die
pythagoreische Esoterik und die Orphik in Hellas. Die Entwertung der Welt als einer Stätte des
Leidens und der Vergänglichkeit ist dem hellenischen Pessimismus von Homer bis Bakchylides
geläufig, ihre “Schuldhaftigkeitbei Herakleitos konzipiert, die “Erlösung” von dem Rad” der
Wiedergeburten findet sich in der Grabschrift von Sybaris, die Sterblichkeit der tter bei Empe-
dokles, die “Erinnerung” an frühere Geburten und die Erlösung durch Erkenntnis als Privileg des
Weisen bei Flaton. Es sind dies eben Vorstellungen, die jeglicher vornehmen Intellektuellenschicht
sehr naheliegen. Die Unterschiede der Entwickelung sind durch solche der Interessenrichtung und
diese durch politische Umstände bestimmt.
137
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [137]
Fürsten stets bewahrt. In all diesen Hinsichten glich die innere Lage und daher auch
das Verhalten und die Richtung des Einflusses der Brahmanen denjenigen der Träger
der konfuzianischen Kultur. Beide Male war es ein vornehmer Literatenstand, dessen
magisches Charisma auf Wissen” ruhte. Und zwar auf einem Wissen zeremonieller
und ritualistischer Art, niedergelegt in einer heiligen Literatur, die verft war in einer
den Alltagssprachen fernstehenden heiligen Sprache. Bildungsstolz und die felsenfeste
Ueberzeugung, daß ausschließlich und allein jenes Wissen als Cardinaltugend alles
Heil, Unwissenheit als das eigentliche Laster jegliches Unheil bedinge, folgten daraus
in beiden Fällen in gleichem Me. Und ebenso Rationalismus” im Sinne der Ableh-
nung aller irrationalen Formen der Heilssuche. Die Ablehnung der Orgiastik in allen ih-
ren Arten war bei Brahmanen und Mandarinen die gleiche. Und wie den konfuziani-
schen Literaten die taoistischen Magier, so galten den Brahmanen alle nicht durch die
Schule der vedischen Bildung gegangenen Magier, Kultpriester und Heilsucher als un-
klassisch, verächtlich und im Grunde der Ausrottung wert, - die freilich in beiden Fäl-
len nicht wirklich durchhrbar war. Denn wenn es auch den Brahmanen gelang, die
Entwicklung einer einheitlichen organisierten unklassischen Priesterschaft hintanzuhal-
ten, so doch, wie wir bald sehen werden, um den Preis des Entstehens zahlreicher My-
stagogen - Hierarchien teils ganz außerhalb, teils aber auch von innerhalb ihrer eigenen
Schicht, und damit eines Zerfalls der Einheitlichkeit der Heilslehre in Sekten - Soterio-
logien. Dies und eine Reihe damit zusammenhängender andrer wichtiger Unterschiede
gegenüber der Chinesischen Entwicklung hängt aber mit der Verschiedenheit der so-
zialen Grundstruktur beider Intellektuellenstände zusammen. Beide haben Entwick-
lungsstadien durchgemacht, die zeitweise erhebliche Aehnlichkeiten aufweisen. Im
Endstadium erscheint der Gegensatz äußerlich am schärfsten: dort, bei den Mandari-
nen, eine Beamten- und Amtsanwärterschicht, hier, bei den Brahmanen, ein Literaten-
stand von teils fürstlichen Kaplänen, teils konsultierenden, respondierenden und leh-
renden Theologen und Juristen, Priestern und Seelenhirten. In beiden Fällen befand
sich freilich nur ein Bruchteil des Standes in jenen eigentlich typischen Stellungen. Wie
zahlreiche chinesische Literaten ohne Amtspfründe teils in den Büros der Mandarinen,
teils als Angestellte von Verbänden aller Art
138
Hinduismus und Buddhismus. [138]
ihr Brot fanden, so fanden Brahmanen seit jeher in den verschiedensten Stellungen,
darunter auch hohen weltlichen fürstlichen Vertrauensstellungen Verwendung. Aber
wir sahen, daß eine eigentliche Amtslaufbahnvon Brahmanen nicht nur nichts Typi-
sches, sondern geradezu etwas dem Typus Widerstreitendes war, hrend sie r den
Mandarinen als das allein Menschenwürdige galt. Die typischen Pfründen der vorneh-
men Brahmanen ren keine Staatsgehälter und patrimonialstaatlichen Amtssportel-
und Erpressungschancen, sondern feste Land- und Abgaberenten. Und diese waren
nicht, wie die Pfründen der Mandarinen, auf jederzeitigen Widerruf und im Höchstfalle
auf kurze Zeit, sondern stets dauernd, - lebenslänglich oder auf einige Generationen
oder an einzelne oder Organisationen (Klöster, Schulen) für immer - vergeben.
Aeußerlich am ähnlichsten sieht sich dagegen die Lage der chinesischen und der
indischen Intellektuellenschichten an, wenn man die Zeit der Teilstaaten in China mit
dem Zustand Indiens etwa in der Zeit der ältern Jatakas oder wieder in der Epoche der
mittelalterlichen Expansion des Brahmanentums vergleicht. Damals waren in Indien
die hinduistischen Intellektuellen in starkem Maße eine Schicht von Trägern
literarischer und philosophischer Schulung, gewidmet der Spekulation und Diskussion
über rituelle, philosophische und wissenschaftliche Fragen. Teils lebten sie in der
Zurückgezogenheit grübelnd und Schulen bildend, teils zwischen den Fürsten und
Adelshöfen wechselnd und wandernd, sich trotz aller Spaltungen doch als eine letztlich
einheitliche Gruppe von Kulturträgern fühlend. Sie waren Berater der einzelnen
Fürsten und Adligen in privaten und politischen Fragen, Organisatoren von Staaten auf
der Basis der korrekten Lehre. Also ganz ähnlich wie dies in China in der Zeit der
Teilstaaten die dortigen Literaten waren: Stets bestand aber ein gewichtiger
Unterschied. Die höchste Brahmanenstellung war. in alter Zeit die des Hofkaplans; später und bis
zur englischen Herrschaft war der rangälteste consultierende Jurist: der brahmanische
Oberpandit, meist der erste Mann des Landes. Die chinesischen Literaten aller philo-
sophischen Schulen scharten sich um ein als lebendiger Träger der heiligen Tradition
geweihtes Oberhaupt: den kaiserlichen Oberpontifex, welcher als solcher, dem von der
Literatenschaft vertretenen Anspruch nach, auch das einzige legitime weltliche Ober-
haupt, der Oberlehensherr sämt-
139
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [139]
licher weltlicher Teilfürsten des chinesischen “Kirchenstaats” war. Etwas dem Ent-
sprechendes gab es in Indien nicht. Die Literatenschicht stand hier in der Epoche der
massenhaften Teilstaaten einer Vielheit von Kleinherrschern gegenüber, die keinen le-
gitimen Oberherrn über sich hatten, von dem sie ihre Macht ableiteten. Der Begriff der
Legitimität war hier vielmehr lediglich der: daß der einzelne Fürst dann und insoweit
als ein legitimer”, d. h. rituell korrekter Herrscher galt, als er sich in seiriem Verhal-
ten, zumal gegenüber den Brahmanen, an die heilige Tradition band. Andernfalls war
er Barbar” ebenso wie ja auch die Feudalfürsten Chinas an dem Maßstab ihrer Kor-
rektheit gegenüber der Literatenlehre gemessen wurden. Kein König Indiens aber, so
gr auch - wie wir sahen - seine faktische Macht selbst in rein ritueilen Dingen sein
mochte, war je als solcher zugleich ein Priester. Und zwar geht dieser Unterschied ge-
genüber China offenbar in die ältesten auch nur hypothetisch erreichbaren Zeiten der
beiderseitigen Geschichte zurück. Schon die altvedische Ueberlieferung bezeichnet die
schwarzhäutigen Gegner der Arier im Gegensatz zu diesen als priesterlos” (abrahma-
na). Bei den Ariern steht dagegen von Anfang an neben dem Fürsten selbständig der
im Opferritual geschulte Priester. Dagegen weiß die älteste Ueberlieferung der Chine-
sen von selbständigen Priestern neben einem rein weltlichen Fürsten nichts. Bei den
Indern ist das Fürstentum ersichtlich aus der rein weltlichen Politik, aus den Kriegszü-
gen charismatischer Kriegshäuptlinge, herausgewachsen, in China dagegen, wie wir
sahen, aus dem Oberpriestertum. Welche historischen Vorgänge die Entstehung dieses
überall höchst wichtigen Gegensatzes der Einheit oder Zweiheit der politischen und
priesterlichen höchsten Gewalt in diesem Falle erklären, dafür ist es wohl ausge-
schlossen jemals auch nur bis zu hypothetischen Vermutungen zu gelangen. Es findet
sich der gleiche Unterschied ja auch bei ganz primitiven” Völkern und Reichen, und
zwar auch in unmittelbarer Nachbarschaft voneinander und bei sonst gleicher Kultur
und Rasse. Er ist offenbar oft durch ganz konkrete und in diesem Sinn historisch zu-
fällige” Umstände ursprünglich herbeigeführt und wirkte dann fort.
Die Folgen dieses Unterschiedes nun waren in jeder Hinsicht höchst bedeutende. Zu-
nächst äußerlich für die soziologische Struktur der beiderseitigen Intellektuellenschich-
ten. In der Zeit
140
Hinduismus und Buddhismus. [140]
der Teilstaaten entstammten die chinesischen Literaten faktisch noch in der Regel den
alten gentilcharismatisch qualifizierten großen” Familien, wennschon das persönliche
Charisma der Schriftbildung doch bereits so bedeutend war, daß - wie wir sahen - Par-
venus in Ministerstellen zunehmend häufig erschienen. Als nun das kaiserliche Ober-
pontifikat die Fülle der weltlichen Macht wieder in sich vereinigte, war der Monarch,
als Oberpontifex, in der Lage, seinem Machtinteresse entsprechend, die Zulassung
zum Amt an die rein persönliche Qualifikation der korrekten Schriftbildung zu binden
und dadurch den Patrimonialismus gegenüber dem Feudalsystem endgültig zu sichern:
die Literatenschicht wurde nun eine - in vieler Hinsicht, sahen wir, eigenartige - ro-
kratenschicht. In Indien war der Gegensatz zwischen Gentilcharisma und persönlichem
Charisma noch in historischer Zeit ebenfalls, wie wir sahen, nicht wirklich erledigt.
Immer aber war es die gelernte Priesterschaft selbst, deren Ansichten über die Qualifi-
kation des Novizen maßgebend waren. Mit der vollen Angleichung des Brahmanen-
tums an den vedischen Priesteradel entschied sich dann die Frage des Charisma minde-
stens r die offizielle Lehre. Als die ersten Universalmonarchien entstanden, hatte sich
die selbständige Priesterschaft als gentilcharismatische Zunft, d. h. als Kaste” mit fe-
ster Bildungsqualifikation als Voraussetzung des Amtirens, schon so in den sicheren
Besitz der geistlichen Autorität gesetzt, daß daran nicht mehr zu rütteln war.
Im Yajur - Veda ist diese erst im Atharva - Veda auftauchende Stellung der Brahma-
nen voll durchgebildet. Brahman”, im Rigveda das Gebet, ist jetzt heilige Macht”
und Heiligkeit. Die Brahmanas führten das nur weiter aus: Die Brahmanen, welche
den Veda gelernt haben und ihn lehren, sind menschliche Götter” heißt es
1
). Kein hin-
duistischer rst oder Großkönig konnte eine pontifikale Gewalt beanspruchen und die
späteren - islamischen - Fremdherrscher waren erst recht disqualifiziert und auch weit
entfernt davon es zu tun. Derjenige Punkt, in welchem dieser Gegensatz der gesell-
schaftlichen Strukturen der chinesischen und indischen Intellektuellenschicht wichtige
Folgen hatte, war “weltanschauungsmäßiger” und praktisch ethischer Natur.
Ein theokratischer Patrimonialismus und ein Literatentum
1
) Çathapatha Brahmana II, 2, 2, 6.
141
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [141]
von staatlichen Amtsanwärtern waren in China der geeignete Boden für eine rein utili-
tarische Sozialethik. Der Wohlfahrtsstaats- Gedanke mit stark materieller Wendung
dieses Wohlfahrtsbegriffs folgte zwar vor allem aus der charismatischen Verantwort-
lichkeit des Herrschers r das äußere, meteorologisch bedingte Wohlergehen der Un-
tertanen. Daneben aber aus der Stellung der sozialphilosophisch interessierten und da-
bei bildungsstolzen Literatenschicht gegeber den bildungsfremden Massen. Die Ba-
nausen können ja nichts Andres als materielle Wohlfahrt erstreben, und materielle Ver-
sorgung ist auch das beste Mittel der Erhaltung von Ruhe und Ordnung. Schlilich
folgte sie auch aus dem Pfründner - Ideal der rokratie selbst: dem gesicherten festen
Einkommen als der Grundlage der Gentleman - Existenz. Der ständische Gegensatz
der Bildung gegen die Unbildung und die Reminiszenzen leiturgischer Bedarfsdeckung
führten dabei zu einer gewissen Annäherung an organische” Gesellschafts- und Staats
- Theorien, wie sie naturgemäß jeder politischen Wohlfahrtsanstalt nahe liegen. Aber:
der nivellierende chinesische Patrimonialbürokratismus hielt dabei diese ganz unver-
kennbaren Ansätze in mäßigen Schranken. Nicht etwa die organische Ständegliede-
rung, sondern die patriarchale Familie war das Bild, unter welchem die soziale Schich-
tung vornehmlich gesehen wurde. Autonome soziale Mächte konnte die patriarchale
rokratie sich gegenüber nicht anerkennen, Die in der Wirklichkeit lebendigen Or-
ganisationen”, vor allem: die Gilden und gildenartigen Verbände und die Sippen, wa-
ren, je mächtiger und autonomer sie tatsächlich waren, desto weniger von der Theorie
als Grundlage einer organischen Gesellschaftsgliederung verwertbar. Sie blieben r
sie vielmehr in ihrer reinen Faktizität einfach abseits liegen. Die typische Berufs” -
Konzeption der organischen Gesellschaftsauffassungen war daher in China nur in An-
sätzen vorhanden und blieb vor allem der herrschenden vornehmen literarischen Intel-
lektuellenschicht - wie wir sahen - fremd.
Sehr anders in Indien. Hier hatte die selbständig neben den politischen Herrschern ste-
hende Priestermacht mit der ebenso selbstherrlich neben ihr stehenden Welt der politi-
schen Gewalten zu rechnen. Sie erkannte deren Eigengesetzlichkeit an, - einfach weil
sie es mußte. Denn das Machtverhältnis zwischen Brahmanen und Kschatriyas war,
wie wir sahen, lange Zeit hindurch
142
Hinduismus uud Buddhismus. [142]
sehr schwankend. Und auch nachdem die ständische Superiorität der Brahmanen, in
der offiziellen Theorie der letzteren wenigstens, feststand, blieb die Gewalt der inzwi-
schen entstandenen Großkönige doch eine selbständige und dem Wesen nach rein
weltliche, nicht hierokratische, Macht. Zwar war der Pflichtenkreis der Könige wie der
jedes Standes gegenüber der brahmanischen Hierokratie bestimmt durch ihr Dharma,
welches Bestandteil des brahmanisch regulierten heiligen Rechts war. Aber dies
Dharma war eben bei jedem Stand, und so auch bei den Königen, ein anderes und -
mochte es auch, der Theorie nach, nur von den Brahmanen mgebend zu interpretie-
ren sein - doch naeh deren eigenen Maßstäben ein durchaus eigenes und selbständiges,
nicht etwa mit dem Dharma der Brahmanen identisches oder aus ihm abgeleitetes
1
). Es
gab keine universell gültige, sondern durchaus nur eine ständisch besonderte private
und Sozialethik, die wenigen unbedingt allgemeinen rituellen Verbote (vor allem: der
Kuhschlachtung), von denen früher geredet wurde, ausgenommen. Die Konsequenzen
waren sehr weitreichend: Denn da nicht nur die Kastengliederung der Welt, sondern
ebenso die Abstufung göttlicher, menschlicher, tierischer Wesen aller Rangstufen von
der Karmanlehre aus dem Prinzip der Vergeltung vorgetaner Werke abgeleitet wurde,
so war r sie das Nebeneinanderbestehen von ständischen Ethiken, die untereinander
nicht nur verschieden, sondern geradezu einander schroff widerstreitend waren, gar
kein Problem. Es konnte - im Prinzip - ein Berufs - Dharma r Prostituierte, uber
und Diebe ganz ebenso geben wie für Brahmanen und Könige. Und es gab die aller-
ernsthaftesten Antze zu diesen äußersten Konsequenzen auch tatsächlich. Der
Kampf des Menschen mit dern Menschen in allen seinen Formen war prinzipiell eben-
sowenig ein Problem, wie sein Kampf mit den Tieren und auch mit den Göttern und
wie die Existenz des schlechthin Häßlichen, Dummen und des - yom Maßstab des
Dharma eines Brahmanen oder sonstigen Wiedergeborenen aus gesehen -
sch1echthin Verwerflichen: Die Menschen waren nicht - wie r den klassischen Kon-
fuzianismus prinzipiell gleich, sondern wurden zu allen Zeiten ungleich geboren,
1
) Wenn auch allerdings manche Pflichten der beiden anderen “wiedergeborenenKasten in vielen
Punktem als Abschwächung der Pflichten der Brahmanenkaste konstruiert wurden.
143
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [143]
so ungleich wie Menschen und Tiere: Allerdings hatten sie alle die gleichen Chancen
vor sich: Aber nicht in diesem Leben, sondern auf dem Wege der Wiedergeburt konn-
ten sie entweder hinauf bis in den Himmel oder hinab bis in das Tierreich oder die Höl-
le gelangen. Die Konzeption eines “radikal Bösen” war in dieser Weltordnung über-
haupt nicht möglich, denn eine Sünde schlechthinkonnte es ja nicht geben. Sondern
immer nur einen rituellen Verstoß gegen das konkrete, durch die Kastenzugehörigkeit
bedingte Dharma. Es gab in dieser in ihrer Abgestuftheit ewigen Welt keinen seligen
Urstand und kein seliges Endreich, und deshalb auch keine - im Gegensatz zur positi-
ven Sozialordnung natürliche” Ordnung der Menschen und Dinge, also auch kein
Naturrecht” irgendwelcher Art. Sondern es gab - r die Theorie zum mindesten - nur
heiliges, ständisch besondertes, aber positives Recht und innerhalb der von ihm - als
indifferent unreglementiert belassenen Gebiete positive Satzungen der rsten, Kasten,
Gilden, Sippen und Vereinbarungen der Individuen. Die Gesamtheit aller Probleme,
welche im Occident das Naturrecht” ins Leben riefen, fehlte eben vollständig und
prinzipiell. Denn es gab schlechthin. eben keinerlei “natürliche” Gleichheit der
Menschheit vor irgendeiner Instanz, am allerwenigsten vor irgendeinem überweltlichen
Gott”. Dies ist die negative Seite der Sache. Und diese ist die wichtigste: sie schl
die Entstehung sozialkritischer und im naturrechtlichen Sinn rationalistischer” Speku-
lationen und Abstraktionen vollständig und r immer aus
1
) und hinderte das Entstehen
1
) Spuren “naturrechtlicher” Gedanken finden sich oft, namentlich in der epischen Literatur, die ja un-
ter anderem auch eine fortwährende innere Auseinandersetzung mit den brahmanenfeindlichen
Stmungen der Zeit der Erlösungsreligionen enthält. So namentlich in der Klage der Draupadi im
Mahabharata: Die Quelle des ewigen Rechts”, çaçvata dharma, heißt es, ist versiegt , und dieses
daher nicht mehr erkennbar. Das positive Recht ist immer zweifelhaft, (of. I, 195, 29), jedenfalls
aber wandelbar (XII, 260, 6 ff.). Die Macht regiert die Erde und eine göttliche Gerechtigkeit gibt
es nicht. Es handelt sich freilich im gegebenen Fall um Taten schnöden Bruches aller Sitte inner-
halb des engsten Sippenkreises.
Im übrigen kommt das Bedürfnis nach einer “Urstands- Lehre innerhalb der orthodoxen Leh-
re nur in der Form auf seine Rechnung, daß nach der Lehre des Epos von den 4 Zeitaltern, welche
die Welt zwischen jeder Zerstörung und Reabsorption durch die pralaya (Götterdämmerung)
durchmacht, jedesmal das erste: das Krita - Zeitalter, am höchsten, das letzte: das Kali - Zeitalter,
am tiefsten steht. Die Kastenunterschiede zwar bestehen auch im Krita - Zeitalter, aber jede Kaste
tut ihre Pflicht gern und ohne Erwartung von Verdienst und Lohn um ihrer selbst
144
irgend-
willen. Es gibt auch weder Kauf noch Verkauf. Daher ist die Erlösung allen zugänglich und ein
Gott (eka deva) ist der gemeinsame Gott aller Kasten. Im Kali - Zeitalter umgekehrt ist die Ka-
stenordnung umgestürzt und der Eigennutz herrscht - bis die pralaya kommt und Brahma in
Schlaf verfällt. Die Lehre ist in dieser Form durch die später zu besprechende Bhagavata - Ethik
beeinflt und spät.
145
Hinduismus und Buddhismus. [144]
welcher Menschenrechte”. Schon weil ja das Tier und der Gott, wenigstens bei kon-
sequenter Durchführung der Lehre, nur andre, ebenfalls Karman -bedingte Inkarnatio-
nen von Seelen waren und es r die Gesamtheit aller dieser Wesen offenbar abstrakt
gemeinsame “Rechte” sowenig geben konnte wie gemeinsame Pflichten”. Es gab
nicht einmal den Begriff Staat” und Staatsbürger” oder auch Untertan”, - sondern
nur das ständische Dharma: die Rechte und Pflichten des “Königsund der anderen
Kasten, einer jeden in sich und jeder im Verhältnis zu den anderen. Dabei wird dem
Kschatriya, als dem Patron des Rayat (“Clienten”), das Dharma der Fürsorge für den
Schutz” der Bevölkerung - immerhin nur wesentlich: des äußeren Sicherheitsschutzes
- zugeschrieben und ihm die Pflicht der Sorge für die Rechtspflege und die Redlichkeit
des Verkehrs und was damit zusammenhängt, als ethisches Gebot auferlegt. Im übri-
gen gilt es für den Fürsten wie für andere, aber für ihn im eminenten Sinn, als allererste
Pflicht, die Brahmanen zu unterhalten und zu fördern, vor allem ihnen bei ihrer autori-
tären Regelung der sozialen Ordnung gemäß den heiligen Rechten seinen Arm
zu leihen, Angriffe auf ihre Stellung aber nicht zu dulden. Die Bekämpfung von brah-
manenfeindlichen Irrlehren ist selbstverständlich verdienstlich und wird verlangt und
geleistet. Aber das ändert daran nichts, daß der Stellung des rsten und der Politik in
eigentümlich penetranter Art ihre Eigengesetzlichkeit gewahrt bleibt. Die chinesische
Literatur kennt für die Epoche der Teilrsten wenigstens in der Theorie - wie einfluß-
los diese gerade in dieser Hinsicht auch sein mochte - den Begriff gerechter” und
ungerechter” Kriege und eines Völkerrechts”, als Ausdruck der chinesischen Kultur-
gemeinschaft. Der zum Alleinherrscher aufgestiegeme kaiserliche Pontifex vollends,
der die Weltherrschaft, auch über die Barbaren, beanspruchte, hrte nur gerechte”
Kriege. Denn jeder Widerstand gegen ihn war Rebellion. Unterlag er, so galt dies als
Symptom dafür, daß ihm das Charisma vom Himmel versagt sei oder er es verwirkt
habe. Aehnliches galt nun auch für den indischen Fürsten. Auch wenn er unter
146
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [145]
lag oder wenn es seinen Untertanen andauernd nicht gut ging, war dies ein Beweis r
magische Verfehlungen oder mangelndes Charisma. Der Erfolg des Königs entschied
also. Aber das hatte nichts mit seinem Recht” zu tun. Sondern mit seiner persönlichen
Eignung und, vor allem: der Zauberkraft seines Brahmanen. Denn diese, und nicht sein
ethisches Recht”, verschaffte dem König den Sieg, wenn eben der Brahmane sein
Handwerk verstand und charismatisch qualifiziert war. Auch in Indien hatte, wie im
Occident, die ritterliche Konvention der epischen Kschatriya - Zeit gewisse Standessit-
ten für die Fehde geschaffen, deren Verletzung als verwerflich und unritterlich galt,
wenn auch wohl niemals im indischen Ritterkampf so weitgehende Courtoisie geübt
worden ist, wie sie der berühmte Heroldsruf der französischen Ritterschaft an die Geg-
ner vor der Schlacht von Fontenoy repräsentiert: Messieurs les Anglais, tirez les pre-
miers.” Im ganzen herrschte das Gegenteil. Nicht nur die Menschen, auch die Götter
(Krischna) setzen sich im Epos um des Erfolges halber höchst unbekümmert auch über
die elementarsten Regeln ritterlichen Kampfes hinweg. Und wie in der hellenischen
Polis der klassischen Zeit
1
), so galt auch r die Fürsten schon des Epos und der Mau-
rya - Epoche, erst recht aber der späteren Zeit der nackteste Macchiavellismus” in je-
der Hinsicht als selbstverständlich und ethisch gänzlich unanstößig. Das Problem einer
politischen Ethik” hat die indische Theorie nie beschäftigt und, in Ermangelung einer
Universalethik und eines Naturrechts, auch nicht beschäftigen können. Das Dharma
des Fürsten
2
) ist, Krieg zu hren um des Kriegs und um der Macht rein als solcher
willen. Er hatte den Nachbar durch List, Betrug und alle noch so raffinierten, unritterli-
chen und heimtückischen Mittel, durch Ueberfall, wenn er in Not war, durch Anstif-
tung von Verschwörungen unter seinen Untertanen, Bestechung seiner Vertrauten zu
vernichten, die eigenen Untertanen aber durch Spionage, Lock-
1
) Der Dialog des Athener und Melier bei Thukydides ist das bekannte Beispiel.
2
) Klassische Formulierung dieses “Macchiavellismus” außer im früher zitierten Kautaliya Arthasastra
besonders im Yâtrâ des Varâhamihira (übersetzt von H. Kern in Webers Indischen Studien). Yât
oder Yogayatra heißt zunächst die Kunst der Angabe der Vorbedeutungen, die ein in den Krieg
ziehender Fürst zu beobachten hat. An diese Wissenschaft schloß sich die Staatskunde an,
nachdem (cf. a. o. O. 1, 3) infolge der Karman - Lehre feststand, daß das Horoskop durch Kar-
man determiniert werde, also keine selbständige Bedeutung habe.
147
Hinduismus und Buddhismus. [146]
spitzel und ein raffiniertes System von cke und Argwohn im Zaum zu halten und
fiskalisch nutzbar zu machen. Das Machtpragma und der für unsre Begriffe durchaus
unheilige” Egoismus des rsten war hier, gerade von der Theorie, ganz und gar sei-
nen eigenen Gesetzen überlassen, alle theoretische Politik gänzlich amoralische Kunst-
lehre von den Mitteln, politische Macht zu erlangen und zu erhalten, weit hinausge-
hend über alles, was wenigstens die Durchschnittspraxis selbst der Signoren der italie-
nischen Frührenaissance in dieser Hinsicht kannte und jeglicher Ideologie” in unse-
rem Sinn des Wortes gänzlich bar.
Die gleiche Erscheinung wiederholt sich nun r alle profanen Lebensgebiete. Sie be-
fähigte den Hinduismus, im Gegensatz zur Fachmenschenfeindschaft des Konfuzianis-
mus, allen einzelnen Lebens- und Wissensgebieten ihr gesondertes Recht zuteil werden
zu lassen und also wirkliche Fachwissenschaften” zu schaffen. So - neben bedeuten-
den mathematischen und grammatischen Leistungen - vor allem eine formale Logik als
Kunstlehre des rationalen Beweises (hetu, daher hetuvadin, der Logiker). Eine eigene
Philosophenschule: Nyaya
1
) befaßte sich mit dieser Kunstlehre des Syllogismus und
die als orthodox anerkannte Vaiçeshika - Schule
2
) gelangte unter Anwendung dieser
formalen Hilfsmittel auf dem Gebiet der Kosmologie zum Atomismus. Im hellenischen
Altertum wurde die weitere Pflege der Atomistik nach Demokritos und die Entwick-
lung zu einer modernen Naturwissenschaft trotz viel weitergehender mathematischer
Unterbauten durch den stark sozial bedingten Einbruch und Sieg des ihr feindlichen,
ausschließlich s o z i a l kritischen und sozialethischen Interesses seit Sokrates ge-
hemmt. In Indien wurde umgekehrt durch die sozial verankerte Unerschütterlichkeit
gewisser metaphysischer Voraussetzungen alle Philosophie in die Bahnen i n d i v i -
d u e l l e n Erlösungsstrebens gedrängt
3
).
1
) Gestiftet von Gotama.
2
) Gestiftet von Kanada (Uebersetzungen von Röer, Z. D. M. G. 21/ 2).
3
) Die dualistische Samkhya - Philosophie lehnte die Atomistik ab, weil durch Unausgedehntes nichts
Ausgedehntes hervorgebracht werden nne, in Wahrheit aber deshalb, weil sie - wie später zu
erörtern - auch die seelischen Vorgänge zur Materie rechneten. Für die Vedanta - Schule anderer-
seits waren die Vorgänge der empirischen Welt, als der kosmischen Illusion (Maya) zugehörig,
ganz uninteressant. Entscheidend aber war, daß die Stellungnahme der Philosophie zu allen Pro-
blemen, wie sich immer wieder zeigen wird, ausschlilich durch das Erlösungsinteresse be-
herrscht wurde.
148
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [147]
Das wirkte als Schranke sowohl r die Fachwissenschaften wie r die Fragestellun-
gen des Denkens überhaupt. Die konsequent organische” Gesellschaftslehre des Hin-
duismus konnte das Dharma jedes Berufes”, in Ermangelung anderer Mstäbe, nur
den Eigengesetzlichkeiten seiner Technik entnehmen und schuf daher überall nur tech-
nische Kunstlehren r Spezialberufe und Sondersphären des Lebens, von der Bau-
technik bis zur Logik als Kunstlehre des Beweisens und Disputierens und bis zur
Kunstlehre der Erotik
1
). Dagegen keinerlei Prinzipien einer universellen, r das Leben
in der Welt im allgemeinen Anforderungen stellenden Ethik. Diejenige Literatur der
Inder, welche man mit den philosophischen Ethiken des Abendlandes in Parallele stel-
len kann, war - oder richtiger: wurde im Verlauf der Entwicklung - vielmehr etwas
ganz anderes: eine metaphysisch und kosmologisch unterbaute K u n s t l e h r e von
den technischen Mitteln, a u s d i e s e r W e l t h e r a u s erlöst zu werden. An
diesem Punkt verankerte sich letztlich alles philosophische und theologische Interesse
in Indien überhaupt. Die Ordnungen des Lebens und sein Karman - Mechanisms waren
ewig. Eine religiöse Eschatologie der Welt war hier sowenig möglich wie im Konfu-
zianismus. Sondern nur eine (praktische) Eschatologie des Einzel - Individuums, wel-
ches jenem Mechanismus und dem Rade” der Wiedergeburten zu entrinnen trachten
wollte.
Die Tatsache dieser Ideen - Entwicklung sowohl wie ihre Art stehen viederum im Zu-
sammenhang mit der sozialen Eigenart der indischen Literatenschicht, welche ihr Trä-
ger war. Denn wenn die Brahmanen ebenso wie die Mandarinen ihr Standesgefühl aus
dem Stolz auf ihr Wissen um die Ordnungen der Welt speisten, so blieb doch der ge-
waltige Unterschied bestehen: daß die chinesischen Literaten eine politische Amtsbü-
rokratie darstellten, welche mit magischer Technik nichts zu tun hatten, diese verachte-
ten nste vielmehr den taoistischen Zauberern überließen, während die Brahmanen
der Herkunft und dem bleibenden Wesen nach Priester, und das heißt: Magier waren.
Darauf beruhte geschichtlich die sehr verschiedene Stellung beider zur Askese und
Mystik .
1
) Ueber das Raffinement dieser kann man sich leicht aus der betreffenden Literatur, mit der sich Ri-
chard Schmidt eingehend beft hat, orientieren und wird H. Oldenberg's Urteil bestätigt finden.
149
Hinduismus und Buddhismus. [148]
Der Konfuzianismus verschmähte diese je länger je energischer als eine dem Würdege-
fühl des vornehrnen Mannes widerstreitende gänzlich nutzlose und barbarische, vor al-
lem: parasitäre, Gaukelei. In der Epoche des amtsfreien Literatentums zur Zeit der
Teilfürsten blühte zwar das Anachoretentum und die Kontemplation der Philosophen,
und gänzlich sind diese Beziehungen auch später nicht abgerissen, wie wir sahen. Aber
mit der Umwandlung in eine diplomierte Amtspfründnerschicht steigerte sich die Ver-
werfung jeder solchen, innerweltlich und sozial - utilitarisch angesehen, wertlosen Le-
bensführung als unklassisch. Reminiszenzen der Mystik geleiteten den Konfuzianismus
nur als sein schattenhaftes heterodoxes Gegenbild. Die eigentliche Askese aber starb
so gut wie völlig ab. Und endlich die wenig wichtigen orgiastischen Reste in der
Volksreligiosität änderten an der prinzipiellen Ausrottung dieser irrationalen Mächte
nichts: Dagegen konnte das Brahmanentum die historischen Beziehungen zur alten
Magier - Askese, aus der es hervorgewachsen war, nie ganz abstreifen. Der Name des
Novizen (bramacharin) ist von der magischen Novizenkeuschheit abgeleitet und die
Vorschrift kontemplativen Waldlebens als - so zu sagen - Altenteils” -Existenz (heute
meist als Abmilderung der ursprünglichen Sitte, der Tötung der Alten gedeutet) ent-
stammte der gleichen Quelle
1
). Sie sind in den klassischen Quellen auf die beiden an-
dern wiedergeborenen Stände erstreckt
2
), aber wohl ursprünglich Bestandteile nur der
Magieraskese gewesen. Beide Vorschriften sind heute und wohl schon seit langer Zeit
obsolet. Aber ihre Fixierung in der klassischen Literatur blieb bestehen. Und vollends
die kontemplative Mystik vom Typus der Gnosis, die Krone klassisch - brahmanischer
Lebensführung, stand als Ziel vor jedem Brahmanen voller Bildung, mochte auch die
Zahl derer, welche sich ihr wirklich voll zuwendeten, in der mittelalterlichen Vergan-
genheit oft bereits ähnlich gering sein wie sie es heute durchweg ist. Wir müssen uns
der Stellung der brahmanischen Bildung zu Askese
1
) Nämlich der typischen Altersklassengliederung.
2
) Die praktischen Zwecke der Regel waren damals vielleicht im wesentlichen oder doch weit mehr
die: den zur Erlösung von der Welt durch Asketen leben drängenden Heilssuchern die Pflicht, erst
als Haushalter” Nachkommen zu erzeugen, einzuschärfen, als die umgekehrte, das Vanaprastha -
Leben vorzuschreiben. Denn darum: ob man unmittelbar vom Novizen zum Asketen werden dür-
fe, drehte sich damals die Diskussion (s. u.).
150
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [149]
und Mystik und, soweit dabei der Zusammenhang es unentbehrlich macht, auch gewis-
sen Vorstellungskreisen der Philosophie, welche in Verbindung damit auf dem Boden
jener Bildung gewachsen ist, etwas näher zuwenden. Denn teils auf Grundlage der
Konzeptionen, welche hier entstanden, teils im charakteristischen Gegensatz zu ihnen -
jedenfalls aber nur in enger Beziehung dazu - konnten die hinduistischen Erlösungsre-
ligionen mit Einschluß des Buddhismus entstehen.
Die indische Askese war technisch wohl die rational entwickeltste der Welt. Es gibt
fast keine asketische Methodik, welche nicht in Indien virtuosenhaft geübt und sehr oft
auch zu einer theoretischen Kunstlehre rationalisiert worden wäre, und manche Formen
sind nur hier bis in ihre letzten, oft r uns schlechthin grotesken Konsequenzen hin-
eingesteigert worden. Das Kopfabwärtshängen des Urdhamukti - Sadhus und das Le-
bendig - Begraben (Samadh) sind noch bis ins 19. Jahrhundert geübt worden, die Al-
chemie bis in die Gegenwart
1
). Der Ursprung der klassischen Askese war hier wie
überall die alte Praxis der Magier - Ekstase in deren verschiedenen Funktionen und ihr
Zweck dem entsprechend ursprünglich durchweg: die Erlangung magischer Kräfte. Der
Asket weiß sich im Besitz von Macht über die Götter. Er kann sie zwingen, sie rch-
ten ihn und müssen seinen Willen tun. Will ein Gott Ausnahmsleistungen vollbringen,
so mauch er Askese üben. So hat das höchste Wesen der älteren Philosophie, um
die Welt zu gebären, mächtige asketische Anstrengungen machen müssen: Daß die
magische Kraft der Askese (Tapas) als durch eine Art von (hysterischer) Bruthitze be-
dingt galt (wie der Name zeigt) kam dieser Vorstellung entgegen. Durch hinlängliche
Grade außeralltäglicher asketischer Leistungen kann man schlechthin jede Wirkung er-
zielen. Mit dieser Voraussetzung wird bekanntlich noch in der klassischen Sanskrit -
Dramatik als mit einer Selbstverständlichkeit gearbeitet. Da das Charisma, in eine der
magisch relevanten Zuständlichkeiten zu geraten, höchst persönlich und an keinen
Stand gebunden war, so rekrutierten sich diese Magier sicherlich auch (und gerade) in
den fhesten uns zugänglichen Epochen nicht nur aus einer offiziellen Priester- oder
Magier -Kaste, wie die Brahmanen es waren. Vollends des-
1
) Auch sie in strengem Zusammenhang mit asketischem Leben; der Schüler eines Alchemisten, der
eine Geschlechtssünde begeht, wird alsbald verstoßen, denn das magische Charisma haftet am
korrekten Leben.
151
Hinduismus und Buddhismus. [150]
halb war dies schwer möglich oder wurde immer schwerer möglich, weil und je mehr
das Brahmanentum zunehmend ein vornehmer Stand von Ritualkundigen wurde, des-
sen soziale Ansprüche auf Wissen und vornehmer Bildung beruhten. Je mehr dies der
Fall war, desto weniger konnte das Brahmanentum alle Arten magischer Askese um-
spannen. Der immanente Rationalismus desWissens” und der “Bildung” sträubte sich
wie überall gegen irrationale, orgiastisch-ekstatische Rausch - Askese und der Stolz
eines vornehmen Bildungsstandes gegen die rdelose Zumutung, ekstatische thera-
peutische Praktiken vollziehen und neuropathische Zustände zur Schau stellen zu sol-
len. Es mußte also hier unvermeidlich jene schon eingangs erwähnte Entwicklung ein-
setzen, welche in teilweise ähnliche Bahnen hrte, wie wir sie bei der chinesischen
Magie fanden. Ein Teil der magischen Praktiken, und zwar die akut - pathologisch-
und emotionell - ekstatischen, in diesem Sinn irrationalemunter ihnen, wurde als
unklassisch und barbarisch entweder ausdrücklich abgelehnt oder doch tatsächlich in-
nerhalb des Standes nicht geübt und durch die Art seiner Lebenspraxis ausgeschlossen.
Dies ist, wie wir sahen, tatsächlich weitgehend geschehen, und insoweit besteht die
Parallele zur Entwicklung der chinesischen Literaten. Wesentlich anders aber konnte
eine vornehme Intellektuellenschicht den apathischen Formen der Ekstase (den Ent-
wicklunsgkeimen der Kontemplation”) und ebenso allen rationalisierbaren Praktiken
der Askese gegenüberstehen. Sie waren zwar für ein staatliches Mandarinentum un-
verwertbar, nicht aber r eine Priesterschaft. Diese konnte sich ihnen gar nicht entzie-
hen. Derjenige Teil der Magier - Askese und -Ekstase nun, den die Brahmanen rezi-
pierten oder, richtiger, beibehielten und beibehalten mußten, weil sie im Unterschied
zu den Mandarinen keine politische Amtsanwärterschicht, sondern eine Magierkaste
waren, wurde in ihrer Pflege, je mehr sie eine vornehme Literatenschicht wurden, de-
sto systematischer rationalisiert. Dies war eine Leistung, welche die chinesischen Lite-
raten, die nach ihren Traditionen jeder Askese fremd gegeberstanden, nicht vollbrin-
gen konnten, sondern in den Händen der von ihnen geduldeten und verachteten Be-
rufsmagier und der Taoisten verkümmern lassen mußten. Der entscheidende Gegensatz
des Ausgangspunktes der beiderseitigen politischen Entwicklung schlug auch hier
durch. Die brahmanische Philosophie bewegt sich, in höchst auffallendem Gegensatz
gegen
152
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [151]
die chinesische, durchweg um Probleme, welche in der Art der Fragestellung sowohl
wie in der Art der Beantwortung oft unerklärlich wären ohne Berücksichtigung der
Tatsache, daß rationalisierte Askese und Ekstase einen grundlegenden Bestandteil je-
der korrekt brahmanischen Lebensführung bildeten.
Denn nicht nur das Leben des bramacharin (Novizen) war, mit seiner strengen persön-
lichen Unterordnung unter die Autorität und häusliche Disziplin des Lehrers
1
), dem
Keuschheits- und Bettelgebot, durchaus asketisch geregelt. Und nicht nur galt als Ideal
der Lebensführung des alternden Brahmanen die ckkehr in den Wald (als Vana-
prastha) und schließlich die Einkehr in ein ewiges Schweigen als Einsiedler (die vierte
Asrama) und die Erreichung der Qualifikation als Yati (von der Welt innerlich befreiter
Asket
2
). Sondern in starkem Me asketisch reglementiert war auch die innerweltliche
Lebensführung des klassischen Brahmanen selbst als Grihastha (Haushalter). Neben
der Fernhaltung von den plebejischen Formen des Erwerbs, vor allem von Handel und
Wucher und der persönlichen Ackerarbeit, stehen zahlreiche Vorschriften, welche sich
später bei den weltablehnenden hinduistischen Erlösungsreligionen wiederfinden. Die
Einschärfung des Vegetarismus und der Alkoholabstinenz ist offenbar aus der Gegner-
schaft gegen die Fleischorgien erwachsen; die sehr strenge Verpönung des Ehebruchs
und die Mahnung zur Zähmung des Sexualtriebs überhaupt hatte ähnliche, antiorgiasti-
sche Wurzeln. Zorn und Leidenschaft war hier wie in China durch den Glauben an die
dämonische und diabolische Herkunft aller Emotionen verpönt. Das Gebot strenger
Reinlichkeit, namentlich beim Essen, entstammte magischen
1
) Der Gehorsam fand nur eine Grenze, wenn der Lehrer eine Todsünde verlangte oder etwas lehrte,
was nicht im Veda stand. Im übrigen ist er fußfällig zu verehren. In seiner Gegenwart darf ein an-
derer Lehrer nicht verehrt werden. Verboten waren dem Bramacharin: Fleisch, Honig, Wohlgerü-
che, Spirituosen, Wagenfahren, Untertreten bei Regen, Kämmen, Zähneputzen; geboten: regel-
mäßiges Baden, das periodische Atem -Anhalten (entsprechend der späteren Yoga - Technik) und
die Andacht für die Silbe Om. Der alte Ausdruck für “Studieren” heißt “Keuschheit üben”. Der
Upanayana - Zeremonie bei der Aufnahme als Novize entsprach, als Abschl, das Samavartana -
Sakrament. Vgl. K. G l a s e r Z. D. M. Ges. 66, 1912. S. 16 f.
2
) Zunehmend wird angenommen, daß diese Stufe erst in konkurrierender Nachahmung des buddhi-
stischen Mönchtums eingefügt wurde. Dies dürfte für die offizielle Anordnung unbedingt gelten.
Daß die Praxis erst durch den Buddhismus geschaffen sei, m nach der Ursprungslegende des
Buddhismus und an sich unwahrscheinlich erscheinen.
153
Hinduismus und Buddhismus. [152]
Reinheitsregeln. Die Gebote der Wahrhaftigkeit und der Freigebigkeit und das Verbot,
sich an fremdem Eigentum zu vergreifen, waren letztlich nur Einschärfungen der uni-
versell für die Besitzenden geltenden Grundzüge der alten Nachbarschaftsethik. Man
darf natürlich die asketischen Einschläge der Lebensführung der innerweltlich leben-
den Brahmanen in historischer Zeit nicht übertreiben. Während die Russen im 17.
Jahrhundert bei Einhrung der occidentalen Kunstformen protestierten: ein Heiliger
dürfe nicht dick sein wie ein Deutscher”, verlangte die indische Kunstübung umge-
kehrt: ein Mahapuruscha müsse dick sein
1
), - weil sichtbar guter Nahrungsstand als
Zeichen von Reichtum und Vornehmheit galt. - Vor allem durfte überhaupt nie die
Schicklichkeit und Eleganz des vornehmen Kavaliers verletzt werden. Die praktische
Alltagsethik der Brahmanen ähnelt darin gelegentlich der konfuzianischen. Man soll
sagen, was wahr und angenehm ist, nicht was unwahr und angenehm ist, aber mög-
lichst auch nicht, was wahr und unangenehm ist, wird wiederholt in der klassischen Li-
teratur ebenso wie in den Puranas
2
) empfohlen. Wie die Brahmanen, so legten alle
vornehmen Intellektuellen - auch die Buddhisten sehr ausdrücklich - Gewicht darauf,
Arya” zu sein. Der Ausdruck Arya” wird bis heut, auch in seinen Zusammensetzun-
gen, etwa im Sinne der Kalokagathie des Gentleman” gebraucht. Denn schon die epi-
sche Zeit kannte den Grundsatz, daß man “Arya” nicht durch Hautfarbe, sondern
durch Bildung und nur durch sie sei
3
). Sehr ausgeprägt war bei den Brahmanen die
maskuline Ablehnung der Frau, in ähnlichem Sinn wie bei den Konfuzianern, jedoch
mit einem Einschlag asketischer Motive, der dort gänzlich fehlte. Das Weib war Trä-
gerin der als würdelos und irrational abgelehnten alten Sexualorgiastik und seine Exi-
stenz eine ernstliche Störung in der heilbringenden Meditation. Gäbe es noch einen
Trieb von solcher Stärke, wie den Sexualtrieb, so wäre Erlösung unmöglich, soll auch
der Buddha geäußert haben. Aber die Irrationalität der Frauen wird auch später von
brahmanischen Schriftstellern scharf betont, - weit stärker sogar als vermutlich in der
Zeit der höfischen Salonkultur der Kschatryia. Ein Mann solle seine Frau
1
) Grünwedel, Die buddhist. Kunst in Indien, 2. Aufl. 1900, p. 138. (Mahapuruscha ist der Gott
Vischnu).
2
) Vischnu Purana III, 12 a. E.
3
) Ebenso die Rechtsbücher (Gautama X, 67).
154
II. Die orthodoxen u. heterodoxen HeilsIehren der indischen Intellektuellen. [153]
nicht respektlos behandeln und nicht ungeduldig sein, sagt z. B. das Vischnu - Pura-
na
1
): Aber er solle ihr keine wichtigen Geschäfte anvertrauen und ihr nie ganz trauen.
Denn - darüber sind alle indischen Autoren einig - aus ethischenGründen sei keine
Frau ihrem Mann treu. Im Stillen beneide jede Matrone die geistreiche Hetäre, - was
man den Matronen bei der im Salon privilegierten Lage der Hetären und bei dem
Schimmer von Poesie, den die im Gegensatz zu China raffinierte indische Erotik, die
Lyrik und auch die Dramatik um sie legten, kaum verdenken konnte
2
).
Neben jenen relativ asketischen Zügen der geregelten Alltagslebensführung des
Brahmanen steht nun die rationale Methodik zur Erringung der außeralltäglichen heili-
gen Zuständlichkeiten. Zwar gab es eine als orthodox geltende Schule (die von Jaimini
gestiftete Mimamsa - Philosophie), welche den zeremoniösen Werkdienst rein als sol-
chen als Heilsweg anerkannte. Allein die klassische brahmanische Lehre ist dies nicht.
Für diese kann vielmehr in der klassischen Zeit wohl als grundle-
1
) III, 12.
2
) Die indischen Tänzerinnen, Deva - Dasa (portugiesisch balladeiras, darnach fransisch bayadéres)
der mittelalterlichen Zeit sind aus den Hierodulen, der hieratischen - homöopathischen, mimischen
oder apotropäischen - Sakti- und Tempelprostitution durch den Priester (und der überall daran
anknüpfenden Prostitution durch die Wanderkaufleute) hervorgegangen und noch heute vornehm-
lich mit dem Çiva - Kult verknüpft. Sie hatten Tempeldienst durch Gesang und Tanz zu leisten
und mten, um das zu können, schriftkundig sein - bis in die neueste Zeit als einzige Frauen In-
diens. Bei zahlreichen Tempelfesten, ebenso aber wie in klassisch-hellenischer Zeit - bei aller vor-
nehmen Geselligkeit, sind sie noch jetzt unentbehrlich, - bildeten urid bilden Sonderkasten mit ei-
genem Dharma und besonderem Erb- und Adoptionsrecht und sind zur Tischgemeinschaft mit
Männern aller Kasten zugelassen, im Gegensatz zu den, nach universell antiker Art, davon ausge-
schlossenen ehrbaren Frauen, für welche auch die Schrift- und Literaturkunde, weil sie zum
Dharma der Tempeldirnen gehörte, als schändend galt und teilweise noch gilt. Die Dedikation der
Mädchen an den Tempel erfolgte kraft eines Gelübbdes oder kraft universeller Sektenpflicht (so
bei manchen Çiva - Sekten), auch als Kastenpflicht kommt sie (bei einer Weberkaste eines Orts
der Provinz Madras) vereinzelt vor, während im ganzen in Südindien heut wenigstens diese Praxis
als unehrenhaft gilt. Engagement und auch Mädchenraub kamen daneben vor. Die gewöhnlichen
Dasi im Gegensetz zu den Deva - Dasi waren wandernde Prostituierte niederer Kasten ohne Be-
ziehung zum Tempeldienst. Der Uebergang von hier bis zur feingebildeten, dem Typus der Aspa-
sia entsprechenden Hetäre der klassischen Dramatik (Vasautasena) war natürlich wie überall
durchaus flüssig. Der letztgenannte Typ gehört ebenso wie die ganz innerhalb der Gesellschaft
stehenden feingebildeten Schülerinnen und Propagandistinnen der Philosophen und noch Buddhas
(nach Art der Pythagoreerinnen) der alten vornehmen Intellektuellenkultur der vorbuddhistischen
und frühbuddhistischen Zeit an und verschwand mit der Herrschaft der Mönchs - Gurus.
155
Hinduismus und Buddhismus. [154]
gende Anschauung gelten : daß rüuelle und andere tugendhafte Werke allein lediglich
zur Verbesserung der Wiedergeburtschancen, nicht aber zur “Erlösung” führen kön-
nen. Diese ist stets durch ein außeralltägliches, über die Pflichten in der Welt der Ka-
sten qualitativ hinausgehendes Verhalten bedingt: durch die weltfchtige Askese oder
Kontemplation.
Ihre Entwicklung bedeutete im wesentlichen, wie bei einer Intellektuellenschicht zu
ertwarten, eine Rationalisierung und Sublimierung der magischen Heilszuständlichkei-
ten. In drei Richtungen verlief diese: Einmal wurde, statt magischer Geheimkräfte zur
Verwendung im Zaubererberuf, zunehmend ein persönlicher Heilszustand: die Selig-
keit” in diesem Sinn des Wortes, erstrebt. Zweitens gewann diese Zuständlichkeit ei-
nen bestimmten formalen Charakter, und zwar, wie zu erwarten, denjenigen einer
Gnosis, eines heiligen Wissens, wesentlich, wenn auch nicht ganz ausschließlich, auf
Grundlage der apathischen Ekstase, welche ja eben am besten dem Standescharakter
der Literatenschicht adäquat war. Alle religiöse Heilssuche auf solcher Grundlage
mußte in die Form mystischer Gottsuche, mystischen Gottesbesitzes oder endlich my-
stischer Gemeinschaft mit dem göttlichen ausmünden. Alle drei Formen, vornehmlich
aber doch die letztgenannten, sind tatsächlich aufgetreten. Die Vereinigung mit dem
Göttlichen trat in den Vordergrund, weil die Entwicklung der brahmanischen Gnosis
zunehmend in die Bahnen einer Verunpersönlichung des höchsten göttlichen Wesens
einlenkte. Dies geschah teils entsprechend der in aller kontemplativen Mystik liegen-
den Tendenz zu dieser Konzeption, teils weil das brahmanische Denken am Ritual und
dessen Unverbrüchlichkeit verankert war und daher in der ewigen, unabänderlichen,
unpersönlichen gesetzlichen Ordnung der Welt, nicht aber in den Peripetien ihrer
Schicksale, das Walten des Göttlichen fand. Der ältere Vorläufer Brahmas ist ur-
sprünglich der Gebetsherr”, der Funktionsgott der magischen Förmeln. Mit deren
steigender Bedeutung stieg er zum höchsten göttlichen Wesen auf, ebenso wie die irdi-
schen Gebetsherrn, die Brahmanen, zur höchsten ständischen Rangstufe. - Die rationa-
le Ausdeutung der Welt an der Hand ihrer naturgesetzmäßigen, sozialen und rituellen
Ordnungen war dann die dritte Seite des Rationalisierurigs- prozesses, den die brah-
manische Intellektuellenschicht an dem religiös-magischen Material vollzog. Eine sol-
che Art von Aus-
156
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [155]
deutung aber mußte zur Entstehung einer in China, wie wir sahen, zwar nicht fehlen-
den, aber an Bedeutung weit zurücktretenden ontologischen und kosinologischen Spe-
kulation: zur rationalen Begndung der Heilsziele und Heilswege, hren. Tatsächlich
hat sie denn auch der indischen Religiosität den Stempel aufgeprägt.
Gerade auf diesem spekulativen Gebiete aber standen die Brahmanen vielleicht nie, je-
denfalls nicht dauernd, konkurrenzlos da. Sondern wie neben dem brahmanischen Op-
fer- und Gebetsformel - Kult die später und bis in die Gegenwart scheinbar neu als
Massenerscheinung auftretende, volkstümliche, individuelle ekstatische Magie und die
Orgiastik : - die spezifisch unklassischen emotional - irrationalen Formen heiliger Zu-
ständlichkeiten - sicher nie geschwunden waren, so stand neben der vornehmen brah-
manischen Heilssuche diejenige der vornehmen Laien. r die heterodoxen Erlösungs-
religionen, vor allem für den Buddhismus, ist es sicher, daß sie ihren Halt gerade in ih-
rer Frühzeit in den Kreisen der vornehmen Laien hatten. Inwieweit das gleiche für die
Entwicklung der klassischen indischen Philosophie gilt, ist unter den Indologen bestrit-
ten und schwerlich einwandfrei auszumachen. Man hat Gewicht darauf gelegt, daß die
klassische Literatur zweifellos, und keineswegs nur vereinzelt, Fälle zeigt, wo Brah-
manen über philosophische Grundfragen von einem weisen König belehrt werden. Und
die Beteiligung der alten literarisch feingebildeten Ritterschaft, der klassischen Kscha-
triya in der Zeit vor dem Aufkommen der Grkönigtümer, an der philosophischen
Gedankenarbeit steht außer allem Zweifel. In der Zeit, als die Diskussion der Probleme
der indischen Natur- und Religionsphilosophie ihren Höhepunkt erreichte - etwa seit
dem 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung
1
) - gehörte die vornehme Laienbildung
sicherlich mit zu ihren wichtigsten Trägern. Nur kann aus allgemeinen Gründen keine
Rede davon sein, daß die Brahmanen jemals eine untergeordnete Rolle dabei gespielt
hätten.
Die Priestermacht war schon in der vedischen Zeit außerordentlich groß
2
) und ist seit-
dem nicht gesunken, sondern ge-
1
) Mithin fast gleichzeitig mit dem Beginn der ersten Blüte auch der hellenischen und chinesischen
Philosophien und der israelitischen Prophetie. An eigentliche “Entlehnungenist nicht zu denken,
(ganz zu geschweigen der gelegentlichen seltsamen Andeutungen Ed. Meyer's über gemeinsame
kosmisch - biologische Bedingtheit der zeitlichen Koinzidenz dieses Entwicklungsstadiums). Ue-
ber mögliche babylonische Einflüsse s. später.
2
) vgl. O l d e n b e r g , Aus Indien und Iran a. a. O.
157
Hinduismus und Buddhismus. [156]
stiegen. Sie mochte örtlich und periodisch weit zurückgedrängt und zeitweise auf be-
stimmte Gebiete in Nordindien,während der Herrschaft der Erlösungskonfessionen
vielleicht auf Kaschmir, eingeschränkt sein: ihre Tradition ist nie abgerissen. Und vor
allem: sie, nicht die wechselnden politischen Bildungen, trug Indiens Kultur. Wie einst
- ganz entsprechend dem althellenischen homerischenZeitalter - die Rischi und hei-
ligen Sänger durch die Herrschaftsgebiete der arischen Burgenkönige hindurch die
E i n h e i t der religiösen und dichterischen Kultur der Arier getragen hatten, so in
der Zeit der stadt- und burgensässigen Ritterschaft, der Kschatriya, die Brahmanen die-
jenige des damaligen, örtlich teils verschobenen, teils erweiterten Kulturkreises Nord-
indiens. Ganz wie im China der Teilrstenzeit die Literaten.
Den (vermutlich) anfänglichen streng esoterischen Charakter ihres Wissens haben die
Brahmanen nicht zu behaupten vermocht , - im Gegenteil haben sie offenbar später die
Erziehung der ritterlichen Jugend durch einen Einschlag vedischen Wissens ergänzt
und gerade dadurch ihren unverkennbar starken Einfluß auf das Laiendenken gewon-
nen. Und trotz aller schroffen Gegentze der Philosophenschulen, welche damals zu-
erst entstanden, hielten sie die ständische Einheit durch die indischen Einzelstaaten
hindurch aufrecht. Wie die hellenische gymnastisch - musische Bildung - und nur sie -
den Hellenen, im Gegensatz zum Barbaren, so machte die vedisch - brahmanische Bil-
dung, den Kulturmenschen” im Sinn der Voraussetzungen der klassischen indischen
Literatur. Ein kaiserlicher Oberpontifex, wie er in China als Symbol der KuItureinheit
und ebenso im Islam und im christlichen Mittelalter existierte, fehlte in Indien wie bei
den Hellenen. Beides waren Kulturgemeinschaften nur kraft sozialer Organisation (der
Kaste hier, der Polis dort) und kraft der Erziehung ihrer Intellektuellenschichten, deren
Einheit aber in Indien, anders als bei den Hellenen, vornehmlich durch die Brahmanen
garantiert wurde. Im übrigen aber standen sicherlich Brahmanen und Laien als Träger
der Philosophie nebeneinander, ähnlich wie Mönchs- und Weltgeistlichkeit und, mit
Beginn des Humanismus”, zunehmend auch vornehme Laienkreise im Occident.
Daß jedenfalls nicht nur, vielleicht nicht einmal vornehmlich, Laienkreise die Zerset-
zung der alten ungebrochenen brahmani-
158
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [157]
schen Religionsphilosophie förderten, tritt noch im Epos deutlich zutage. Die Skeptiker
(tarkavadins), mit welchen sich das Mahabharata als mit gottlosen Schwätzern und
gewinnsüchtigen Sophisten beft, die ihre brahmanenfeindliche Weisheit im Lande
umherziehend verkaufen, - sie entsprechen tatsächlich den hellenischen Sophisten der
klassischen Zeit, - waren im wesentlichen asketische Wanderlehrer, die namentlich je-
ner, an sich als orthodox anerkannten, brahmanischen Schule (Nyaya) entstammten,
die den Syllogismus und die rationale Logik und dialektische Kunst als Fachlehre
pflegte.
So wenig wie das Monopol der Philosophie und Wissenschaft behaupteten die Brah-
manen das Monopol der persönlichen mystischen Heilssuche. Daß sie es in Anspruch
nahmen, steht fest. Sie taten dies schon deshalb, weil der mystische Heilssucher, zumal
der Anachoret, in Indien wie überall als Träger heiligen Charismas selbst Verehrung
als Heiliger und Wundertäter gen und sie diese Machtstellung r sich zu monopoli-
sieren trachten mußten. Bis in die Gegenwart möchte die offizielle Theorie von allen
Sadhu(Mönchen)
1
) nur die Sannyasi, im älteren Wortsinn
2
): die aus der brahmani-
schen Kaste zum Mönchsleben Uebergetretenen, als vollwertige Sramana” oder Sa-
mana” (Eremiten) anerkennen. Mit größter Schroffheit hielt die orthodoxe Lehre stets
erneut dies Monopol der Brahmanen aufrecht. Am schroffsten natürlich gegenüber den
unteren Schichten. Im Ramayana findet sich, daß einem Asketen von großer Wunder-
kraft vom Helden der Kopf abgeschlagen wird, weil er ein Çudra ist und es dennoch
gewagt hat, sich diese übermenschlichen Fähigzeiten zuzueignen. Allein gerade diese
Stelle zeigt, daß selbst nach der orthodoxen Lehre zur Zeit des Epos der Çudra eben
doch als an sich fähig galt, die magische Wunderkraft durch Askese zu erringen. Und
jener offiziell nie aufgegebene Monopol - Anspruch
3
) ist niemals wirklich durchgesetzt
worden. Ja, es ist nicht einmal sicher erweislich, ob die Organisation der späteren ei-
gentlichen Klöster (Math) zuerst von brahmanischen Sramana
1
) Wie sehr viele generelle Namen für Heilige und Asketen ist auch dieser Name heut zur Bezeich-
nung einer am ehesten den Quäkern vergleichbaren kleinen Sekte Nordindiens geworden.
2
) Denn heute wird dieser Name oft ganz unterschiedslos von allen oder doch von allen çivaitischen
indischen Mendikanten gebraucht.
3
) Noch heut lehrt der Brahmane höchster Kaste nur “wiedergeborene” Schüler oder gar nur Brah-
manen.
159
Hinduismus und Buddhismus. [158]
erfolgt ist oder erst in Nachahmung heterodoxer Institutionen eingeführt wurde. Im-
merhin darf das Erstere als nicht ausgeschlossen gelten, da der brahmanische Einsied-
ler, wenn er die Qualität als Yati (Voll - Asket) erreicht hatte, sicher von jeher 1. als
Lehrer und 2. als magischer Nothelfer auftrat, Schüler und Laienverehrer um sich
sammelte. Nur ist es fraglich, inwieweit man in der vorbuddhistischen Zeit schon von
Mönchen” und “Klöstern” zu sprechen berechtigt ist. Neben dem Altersasketen kennt
die ältere Tradition zwar den Einsiedler und den isolierten Berufsasketen. Ebenso
kennt sie sicherlich - denn sonst re die Entstehung gewisser Lehren nicht möglich -
die Schule” als eine Gemeinschaft, später “parishad” genannt, welche nach den im
Spät - Hinduismus geltenden Regeln 21 geschulte Brahmanen umfassen sollte, in älte-
rer Zeit aber oft auch nur 3 - 5 umfte. Die Gurus noch der epischen Zeit, welche die
Knaben der vornehmen Geschlechter unterrichteten, nahmen nach der Tradition nur 5
Schüler
1
). Das dürfte schon damals nicht mehr die Regel gewesen sein; es zeigt aber,
wie fern dem Brahmanentum der vorbuddhistischen Zeit noch Massenpropaganda lag.
Teils die Einsiedler und Weltgeistlichen mit ihren persönlichen Schülern, teils jene
förmlich organisierten Schulen waren Träger der Entwicklung der Spekulation und
Wissenschaft Das spätere Kloster” (Math) ist als systematisch verbreitete Massener-
scheinung erst eine Erscheinung der Zeit der Sektenkonkurrenz und des Berufsmönch-
tums. Immerhin war der Uebergang von der Philosophenschule zum Kloster angesichts
der alten Askese der Novizen (Bramacharin) fssig, wenigstens wenn überhaupt eine
cönobitische Form der Lehrtradition gewählt wurde, die wohl sicher alt sein dürfte.
Die durch Stiftung gesicherte Schule oder klosterartige Organisation diente vor allem
dazu, den Brahmanen die Möglichkeit zu sichern, ohne Sorge für den Unterhalt ihr
Vedawissen sich zu erhalten. Auch wo die Pfründen später, wie oft, appropriiert wur-
den, blieb daher die (erbliche) Zugehörigkeit zur alten Schule oder Klosterpfründner-
schicht oft Voraussetzung der Kasten- oder Unterkastenzugehörigkeit zum Vollbrah-
manentum: das heißt zu derjeniger Brahmanenschicht, welche zur V o l l z i e h u n g
d e r R i t e n einerseits und -
1
) Im Epos streiken Schüler eines Brahmanen, der mehr annehmen will (XII, 328, 41).
160
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [159]
dem entsprechend - z u r A n n a h m e v o n D a k s h i n a ( G e s c h e n -
k e n u n d S t i f t u n g e n ) a n d r e r s e i t s q u a l i f i z i e r t waren. Die
anderen galten als Laien und hatten diese wichtigsten Privilegien der Vollkastengenos-
sen nicht
1
).
Die Art der späteren normalen Klosterorganisation sowohl wie des Mönchtums
2
) über-
haupt scheint ebenfalls dafür zu sprechen, daß jene formal ganz freien Schulgemein-
schaften von Lehrern mit ihren Schülern nebst demjenigen Laienanhang, welcher durch
Unterhaltsgewährung und Geschenke an die Gemeinschaft r sich diesseitige und jen-
seitigeVorteile zu erwerben suchte, den historischen Ausgangspunkt bildeten. Es fehlte
offenbar noch die systematische Organisation in Gemeinschaften mit festen Regeln”.
Die rein persönliche Beziehung bildete die Grundlage des Zusammenhalts, soweit ein
solcher bestand. Selbst der alte Buddhismus zeigt ja die Spuren dieser patriarchalen
Struktur, wie wir sehen werden. Das Pietätsband, welches einen solchen heiligen Leh-
rer und Seelsorger, den Guru oder Gosain
3
), mit seinem Schüler und Seelsorge -
Klienten verband, war in der hinduistischen Ethik so außerordentlich streng, daß diese
Beziehung fast allen religiösen Organisationen zugrunde gelegt werden konnte und
mußte. Jeder Guru gen gegenüber dem Schüler eine Autorität, welche der väterli-
chen voranging
4
). Er war, wenn er als Sramana lebte, Objekt der Hagiolatrie der Laien.
Denn nach unbezweifelter Lehre gab das richtige Wissen magische Macht: der Fluch
des Brahmanen ging in Erfüllung, wenn er die richtige Veda - Kenntnis hatte und ob er
sie hatte, dazu war er gegebenenfalls zum Gottesurteil (Feuer - Ordal) bereit. Die hei-
lige Gnosis machte ihn wunderkräftig. Berühmte wundertätige Gurus haben wohl si-
cher von jeher kraft des Prinzips des Gentilcharisma ihre rde als Lehrer vererbt
oder sie haben ihren Nachfolger designiert, und nur aushilfsweise trat die “Wahl, d. h.
die Feststellung und Akklamation des charismatisch Qualifizierten durch die Jünger-
schaft ein. Daß man ausschließlich von einem Guru die rechte Weisheit
1
) Einige solcher Unterkasten, namentlich die, welche unreine Kasten bedienten, galten geradezu als
unrein.
2
) Der spätere und bis heute typische Name des Mönchs (auch des brahmanischen) ist bhikshu.
3
) “Gosainbedeutet den, der “seine Sinne beherrscht”. Die erblichen Gurus mancher Sekten führen
diesen Titel. Daher ist er heute in gewissen großen Brahmanenfamilien erblich. S. später.
4
) So ausdrücklich Manu II, 233.
161
Hinduismus und Buddhismus. [160]
erfahren könne, stand wenigstens in der Zeit der Upanischaden als ganz
selbstverständlich fest. Ein sehr grer Teil aller mit Namen bekannten Stifter
philosophischer Schulen und Sekten hat demgemäß hierokratische Dynastien
hinterlassen, welche ihre Lehre und Technik der Gnosis oft durch Jahrhunderte weiter
pflegten. Soweit die bis heute in Indien überaus zahlreichen, meist kleinen, Klöster und
klosterartigen Gemeinschaften in einer organisatorischen Beziehung zueinander
standen, war diese meist - charismatischen Prinzipien entsprechend - nach dem
Filiationssystem
1
) hergestellt, wie bei den Klöstern unseres Mittelalters bis zur
Cisterzienserzeit. Das hinduistische Mönchtum hat sich aus wandernden Magiern und
Sophisten entwickelt
2
). Es blieb stets der Masse nach wanderndes Bettelmönchtum.
Formal stand auch der gänzliche Austritt aus dem Kloster dem Mönch fast immer
grundsätzlich jederzeit frei
3
). Die Disziplin der Superioren (Mathenats) und die
Klosterordnungen waren demgemäß oft - aber nicht immer - lax und relativ formlos
4
).
1
) Das zeigen schon die Inschriften z. B. Ep. Ind. III, 263 (10. Jahrh.).
2
) Man kann ihm rein äußerlich am ehesten die Kyniker vergleichen.
3
) So noch heut die Sannyasi - Cönobiten in Bengalen, aber auch sonst meist.
4
) Auf der anderen Seite finden sich im Mittelalter auch Klöster mit rücksichtsloser Strenge der Dis-
ziplin. So hatte z. B. in einer südindischen Inschrift der dortige Superior das Recht über Leben
und Tod der Kloster - Insassen. Im allgemeinen aber waren die älteren hinduistischen Mönche:
Wandermönche, die nur zur Regenzeit zeitweilig, dauernd erst im Alter in ihrem Math residieren.
Der Mathanat wird aus den ältesten residierenden Chelas (“Schülern”) gewählt oder ist erblich
oder die Würde geht einfach im Turnus um. Der Mathanat des in der Filiation ältesten Klosters
war Oberhaupt der Filiationsklöster. - Die Urkunden der Stifter von Klöstern lassen zwar zuwei-
len das Streben nach möglichst straffer Disziplin erkennen, zeigen aber zugleich, daß die Kloster-
gründung hier ebenso wie in Byzanz und die Vakufsim islamischen Orient in typischer Art ei-
nem charakteristischen durchaus außerhalb der Sphäre des Religiösen liegenden Zwecke diente.
Nämlich: durch die einem Zugriff der politischen Gewalt entzogenen Rechtsstellung des dem Klo-
ster gestifteten Landes - dessen Konfiskation oder Steuerüberlastung Sacrileg gewesen wäre -
auch die Rente, welche der Stifter sich und seiner Familie bei der Stiftung vorzubehalten pflegte,
für alle Zeit zu sichern: der Fideikommißstiftung also. (Solche lle namentlich bei Champbell
O m a n , The Mystics, Ascetics and Saints of India 1903: es werden zwar die Vermögensüber-
schüsse der “Verwaltungen”, vor allem also der eventuellen Grundbesitz - Renten und der Erträge
der täglichen Bettel - Expeditionen, - im Geheimen auch Haudelserträge - in Klöster- oder Tem-
pelgründungen angelegt, aber der Gründer hat Anteil am Gewinn; das Recht der Bewirtschaftung
ist erblich, aber unteilbar, das Recht der Erbfolge durch Statut bestimmt.) Das Mittel ist für patri-
monialbürokratische, zumal theokratische, Staatsordnungen mit ungenügenden formalen Privat-
rechtsgarantien typisch; das Klosterland (meist nicht sehr ausgedehnt; einige hundert Rupien im
Jahr waren schon eine gute Rente) war steuerfrei. - Im weiteren Verlauf der Entwicklung trat bei
zahlreichen hinduistischen (orthodoxen und heterodoxen) Klöstern (auch den buddhi-
162
M ax W e b e r, Religionssoziologie II.
II, Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [161]
Irgendwelche Arbeitspflichten der Mönche konnte es nach der Natur der hinduisti-
schen - orthodoxen und heterodoxen - Heilswege nicht geben. Kein Mönch arbeite-
te”. Die inhaltlichen Gebote
1
) r die Lebensführung der Mönche waren - soweit sie
nicht, wie das Verbot, zur Regenzeit zu wandern und die Vorschriften über Tonsur und
andere Aeußerlichkeiten reine Ordnungsvorschriften darstellten - Steigerungen der
brahmanischen Alltagsaskese, und zwar teils einfach dem Grade, teils aber auch der
Art und dem Sinn nach. Das letztere ist bedingt durch den Zusammenhang mit der
brahmanischen Heilslehre, wie sie die Brahmanas und Upanischaden entwickelten.
Das Gebot der Keuschheit, der Enthaltung von süßer Nahrung, der Beschränkung auf
Essen schon abgetrennter Früchte, der völligen Eigentumslosigkeit, also: Verbot, Gü-
tervorräte zu halten und Leben vom Bettel, - später meist unter Beschränkung auf die
Ueberbleibsel des Essens des Angebettelten, - das Gebot des Wanderns, - später oft
mit der Verschärfung: daß man in einem Dorf nur eine Nacht oder auch gar nicht
schlafen durfte -, die Beschränkung der Kleidung auf das Notwendigste, dies Alles wa-
ren nur Steigerungen der Alltagsaskese. Das bei einigen der späteren Erlösungsreligio-
nen bis ins Extrem gesteigerte, aber anscheinend schon vorher bei den klassischen
brahmanischen Asketen, nur in verschieden großer Strenge, auftauchende Gebot des
ahimsa”: der unbedingten Schonung des Lebens jeder Kreatur, war dagegen mehr als
nur eine quantitative Verschärfung des antiorgiastischen Vegetarismus und nicht nur
eine Konsequenz der Beschränkung des Opferfleischgenusses auf die Priester
2
). Viel-
mehr spielte hier offenbar die religionsphilosophische Ueberzeugung von der Einheit
alles Lebenden eine mgebende Rolle, verbunden mit der universellen Ausbreitung
der Verehrung und damit der Immunität gerade eines der als unbedingt reingelten-
den Tiere: des Rindes. Auch die Tiere standen im Bereich von
tischen) der typische Verpfründungsprozeß ein: die Mönche verheirateten sich und behielten ihre
Stellen erblich bei, so daß sich z. B. bei den (vornehmen) Deschaschth -Brahmanen heute vielfach
eine Bhikkschu- (Mönchs-) und eine Laien - Kaste findet, welche sich vor allem dadurch unter-
scheiden, daß nur die eigentlichen Mönche die Qualifikation zum Priestertum besitzen.
1
) S. dieselben in den Rechtsbüchern, z. B. besonders übersichtlich bei Baudhayana II, 6, 11 ff.
2
) Denn den Kostenpunkt als dafür als maßgebend anzusehen, wie dies E. W. Hopkins seinerzeit tat,
erscheint schon deshalb unhaltbar, weil gerade die niederen Schichten auch später die Fleischorgi-
en beibehalten haben.
163
Hinduismus und Buddhismus. [162]
Samsara und Karman. Auch sie hatten je nach ihrer Gattung ihr Dharma und könnten
also - in der ihnen eigenen Art - “Frömmigkeit üben”
1
). Und wenn die Art, wie die
Selbstbeherrschung: - Imzaumhalten von Augen und Mund - empfohlen wurde, zu-
nächst wesentlich nur disziplinären Charakter hatte, so waren Gebote wie: nichts r
die eigene leibliche oder seelische Wohlfahrt zu tun, doch darüber hinaus wieder durch
den allgemeinen philosophischen Sinn der Askese als Heilsweg mitbestimmt.
Diese Wendung der klassisch - brahmanischen Askese vom magischen zum soteriolo-
gischen Zweck vollzog sich innerhalb der religiösen, an die Vedasammlungen an-
schließenden Literatur: der Brahmana, welche das Opfer und Ritual interpretierend be-
handeln und insbesondre der an sie sich anschlienden Aranyaka, der im Wald ge-
schaffenen Werke”. Sie sind Produkte der auf dem Altenteil” in der Waldeinsamkeit
lebenden Brahmanen-Kontemplation und ihre spekulativen Teile, die Upanischaden,
Geheimlehren”, enthalten die soteriologisch entscheidenden Teile des brahmanischen
Wissens
2
). Dagegen enthält die Sutra - Literatur die Ritualvorschriften r den prakti-
schen Gebrauch: die Srautaçastra das heilige Ritual, die Smartaçastra das Ritual des
Alltagslebens (Grihyasutra) und der sozialen Ordnung (Dharmastra)
3
).
Diese ganze Literatur steht nun der konfuzianischen überaus heterogen gegenüber.
Zunächst in einigen Aeußerlichkeiten. Auch die Brahmanen waren in einem spezifi-
schen Sinne “Schriftgelehrte”. Denn auch die hinduistische heilige Literatur, wenig-
stens die orthodox - brahmanische, ist in einer dem Laien fremden
4
) Sakralsprache,
1
) Diese Grundüberzeugung kam in einer für uns grotesken Art besonders im alten Buddhismus -
aber nicht nur bei ihm - zum Ausdruck. Eine Inschrift erzählt, daß der König nach einem Siege
seine Elefanten freigegeben habe, die dann “mit Tränen in den Angen” sich beeilten, ihre Genos-
sen im Walde wieder aufzusuchen. Der Bericht des chinesischen Pilgers Hiuen Tsang (aus dem 7.
Jahrhundert nach Chr.) erwähnt in Kaschmir Elefanten, “qui pratiquent la loi(in St. Juliens Ue-
bersetzung).
2
) Sie sind Iñanakanda: “Gnosis”, im Gegensatz zur Karmakanda, der Ritualkunde.
3
) Es kann irreführend wirken, wenn man die Smarta - Literatur als “profan” bezeichnet. Auch ihre
Regeln sind heilig und unverbrüchlich, nur wenden sie sich nicht an die Fachgeschultheit der Prie-
ster als solche, sondern an die Haushalter und Juristen.
4
) Aber nicht - wie angenommen wurde - in einer künstlich geschaffenen “Skaldensprache”, sondern
in dem Idiom der alten Priestergeschlechter des Ursprungsgebiets der Literatur. In der vedischen
Zeit galt Sanskrit als
164
II. Die orthodoxen u. heterodoxon HeiIslehren der indischen Intellektuellen. [163]
dem Sanskrit” abgefaßt, wie die chinesische. Aber die hinduistische geistige Kultur
war wesentlich weniger reine Schriftkultur als die chinesische. Die Brahmanen (und
meist auch ihre Konkurrenten) haben außerordentlich lange an dem Grundsatz fest-
gehalten: daß die heilige Lehre nur von Mund zu Mund überliefert werden dürfe. Die
spezifische Schriftgebundenheit der chinesischen Geistigkeit erklärt sich, wie wir sa-
hen, aus dem frühen Eindringen der offiziellen höfischen Annalistik und Kalendertätig-
keit, schon zu einer Zeit, als die Technik der Schriftzeichen sich noch im Hierogly-
phenzustand befand. Ferner aus dem Schriftlichkeitsprinzip der Verwaltung. Dies fehl-
te in Indien. Das Gerichtsverfahren war mündlich und kontradiktorisch. Die Rede
spielte von jeher eine bedeutende Rolle als Interessenvertretungs- und Machtmittel.
Durch Zauberei suchte man sich den Sieg im Fedekampf zu sichern
1
) und alle hindui-
stische oder unter hinduistischem Einflstehende Kultur kennt die Religionsgesprä-
che, Preisredekämpfe und Redekampf -Uebungen der Schüler als eine ihrer charakteri-
stischen Einrichtungen. Während das chinesische Schrifttum sich, als hieroglyphisch -
kalligraphisches Kunstwerk, an Auge und Ohr zugleich wendet, wendet sich daher die
indische sprachliche Komposition vor allem an das (akustische, nicht: visuelle) Ge-
dächtnis. Die alten Rhapsoden waren durch die Vyasas (Kompilatoren) einerseits, die
spekulativen Brahmanen andererseits abgelöst worden. Beide wurden später durch
Dichter und Rezitatoren, welche die Kavya”- Formen: Erzählung mit Belehrung ver-
bunden, pflegten, ersetzt: teils Pauranikas und Aithiasikas: Erzähler erbaulich ausge-
statteter Mythen für ein wesentlich intellektualistisches bürgerliches Publikum, teils
Dharmapatakas, die Rezitatoren der Rechtsbücher, welche wohl an die Stelle der alten
Gesetzessprecher traten (und bei Manu und im Epos an der Kommission zur Abgabe
von Gutachten für Zweifelsfälle beteiligt sind). Aus diesen Rezitatoren entwickelten
sich etwa im 2. nachchristlichen Jahrhundert die zünftigen brahmanischen Pandits,
schon wesentlich eine Schriftgelehrtenklasse. In jedem Falle hat bis tief in das indische
Mittelalter die mündliche Ueberlieferung und Rezitation die Hauptrolle gespielt. Dies
hat formal gegenüber der chinesischen heiligen Literatur einige
Sprache der Gebildeten; im Rigveda motiviert ein Prinz seine Sanskritrede damit, daß er “gebil-
det” sei. Rayson J. R. A. S. 1904, p. 435. Thomas ebenda, pag. 747.
1
) Atharva Veda II, 27 (gemeint ist offenbar ein Prozeßgegner).
165
Hinduismus und Buddhismus. [164]
wichtige Folgen gehabt. Alle indische heilige Literatur (einschließlich der buddhisti-
schen) war auf die Möglichkeit leichter Einprägung und jederzeitiger Reproduktion
zugeschnitten. Sie diente sich dafür teils der epigrammatischen Formel, - so in der älte-
sten philosophischen
1
) und Sutra - Literatur -, welche auswendig gelernt und vom Leh-
rer mit dem Kommentar, dessen sie dringend bedurfte, versehen wurde. Teils der Vers-
form, welche einen großen Teil der nichtphilosophischen Literatur beherrschte. Ferner
der Refrains: - endloser wörtlicher Wiederholungen einer Gedanken- oder Vorschriften
- Kette mit Modifikation jeweils oft nur eines einzelnen Satzes oder Wortes entspre-
chend dem Fortgang der Erörterung. Sodann in außerordentlichem Umfang des Zah-
lenschematismus, oft der Zahlenspielerei: denn anders wird ein europäischer Lehrer
diese Art der Verwendung von Zahlen kaum empfinden können. Endlich der, sozusa-
gen: gedankenrhythmischen, auf den europäischen Leser als äußerst pedantisch wir-
kenden Systematik der Darstellung. Diese, in ihren Anfängen wohl rein mnemotech-
nisch bedingte, Art der brahmanischen Schriftstellerei hat sich nun im Zusammenhang
mit der organizistischen Besonderheit des indischen Rationalismus zu einer die gan-
ze Eigenart ihrer für uns wichtigsten Teile bestimmenden Manier gesteigert. Gegen-
über dem Zusammenwirken von knapper sachlicher “Rationalität” der Sprachmittel
und anschaulichem ästhetischem Duktus der Bilderschrift in der Art der stets auf die
Anmut der epigrammatischen Prägung bedachten, dabei sprachlich chtern wirkenden
chinesischen Formulierung entstand in Indien in der religiösen und ethischen Literatur
ein Wuchern unermlichen Schwulsts, das nur dem Interesse systematisch erschöp-
fender Vollständigkeit diente. Endlose Häufungen von schmückenden Beiwörtern,
Vergleichen, Symbolen, Streben nach Steigerang des Eindrucks des Großen und Gött-
lichen durch Riesenzahlen und wuchernde Phantasmen ermüden den europäischen Le-
ser. Wenn er aus der Welt des Rigveda und dann der volksmlichen Fabeln, die, im
Panchatantra gesammelt, die Quelle fast des gesamten Fabelschatzes der Welt sind,
oder selbst aus der weltlichen Kunst - Dramatik und -Lyrik in die Gebiete der religiö-
sen Dichtung und der philosophischen Literatur tritt, wartet seiner ein mühsamer Weg.
Die meisten Upanascha-
1
) Nachklänge der Methode besonders in den Sankhya - Aphorismen, die Kapila zugeschrieben wur-
den.
166
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [165]
den nicht ausgenommen, stößt er in diesem Wuste von ganz unanschaulichem, weil ra-
tional gewolltem, symbolistischem Uebersehwang der Bilder und innerlich dürren
Schematismen nur in langen Zwischenräumen auf den frischen Quell einer wirklich -
und nicht nur, wie sehr oft, scheinbar - tiefen Einsicht. Während die Hymnen und Ge-
betsformeln der Veden um ihrer magischen Erprobtheit willen nicht verändert werden
konnten und daher ihre Ursprünglichkeit in der Ueberlieferung bewahrt haben, ist die
alte epische Ritterdichtung, nachdem sich die Brahmanen ihrer angenommen hatten, zu
einer unförmlichen ethischen Paradigmatik angeschwollen. Das Mahabharatha ist nach
Form und Inhalt ein Lehrbuch der Ethik an Beispielen, keine Dichtung mehr. - Diese
Eigenart der spezifischen brah, manischen, aber auch der gleichartigen heterodoxen in-
dischen religiösen und philosophischen Literatur hat nun, obwohl sie als Ganzes an
solchen Erkenntnissen, welche auch der europäische Denker als unbedingt tiefwer-
ten wird, sicherlich überreich ist, doch an ihrem Teil auch dazu beigetragen, ihrer Ent-
wicklung innerliche Schranken zu ziehen. Das hellenische Bedürfnis nach absoluter
begrifflicher Klarheit ist in der Erkenntnistheorie über die sehr beachtenswerten Ansät-
ze der Logik der Nyaya - Schule nicht hinausgekommen. Und zwar zum Teil eben in-
folge dieser Ablenkung des rationalen Bemühens in die Bahn des Pseudo - Systemati-
schen, welche durch die alte Traditionstechnik mitbedingt war. Der Sinn für die empi-
rische Tatsache rein und schlicht als solche wurde durch die wesentlich rhetorische
Gewöhnung, das Bedeutsame im Uebertatsächlichen, Phantastischen zu suchen, unter-
bunden. Ausgezeichnetes hat dennoch die indische wissenschaftliche Literatur auf dem
Gebiet der Algebra und der Grammatik (einschließlich der Deklamationslehre, Drama-
turgie und - weniger - der Metrik und Rhetorik) geleistet, Beachtenswertes auf dem
Gebiet der Anatomie, der Medizin (mit Ausnahme der Chirurgie, aber mit Einschl
der Tierheilkunde) und Musikwissenschaft (Solfeggieren!). Die Geschichtswissen-
schaft dagegen fehlt aus den schon früher erwähnten Gründen ganz
1
). Und die indische
naturwissenschaftliche Arbeit steht auf vielen Gebieten auf der Höhe etwa unseres 14.
Jahrhunderts: sie ist nicht, wie schon die hellenische, auch
1
) Die ersten Historiker Indiens waren die Buddhisten, weil Buddhas Erscheinen eine “historische”
Tatsache war.
167
Hinduismus und Buddhismus. [166]
nur bis in die Vorhöfe des rationalen Experiments gelangt. Sie hat in allen Disziplinen,
auch der für Ritualzwecke gepflegten Astronomie und in der Mathematik außer auf
dem Gebiet der Algebra etwas, mit den Mstäben occidentaler Wissenschaftlichkeit
gemessen, Wesentliches aus Eigenem nur geleistet, wo sie Vorzüge genoß durch das
Fehlen gewisser Vorurteile der occidentalen Religiosität (z. B. des Auferstehungsglau-
bens gegen die Leichensektion
1
). Oder wo die Interessen der auf raffinierter Kontrolle
des psychophysischen Apparats ruhenden Contemplationstechnik sie zu Studien anreg-
ten, welche dem Occident, der diese Interessen nicht kannte, fernlagen. Alle Wissen-
schaft vom menschlichem Zusammenleben blieb bei ihr polizeiliche und kameralisti-
sche Kunstlehre. Diese kann sich mit den Leistungen der Kameralistik unseres 17. und
der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus messen. Auf naturwissenschaftlichem
und eigentlich fachphilosophischem Gebiet hat man dagegen den Eindruck, daß die
beachtenswerten Entwicklungsansätze irgendwie gehemmt worden sind
2
). Abgesehen
davon, daß auch
1
) Ueber die indische Medizin am bequemsten Jolly in Bühlers Grundriß (1901).
2
) Einen ungefähren Eindruck erlangt der Nicht - Indologe am ehesten aus dem von Sudhindranatha Va-
su in den Sacred Books of the Hindu, Band XIII, übersetzten und Band XVI, 1. unter dem Titel: The
positive background of Hindu Sociology (bis jetzt Book I) kommentierten, mit Appendix von Bra-
jendra Nath Seal versehenen Sukraniti. “Sukranitiwird, ganz charakteristisch, als “organische Sozi-
alwissenschaftso, wie Comte sich den bekannten Stufenbau der Wissenschaften dachte, aufgefaßt.
Und in der Tat mußte diese freilich völlig unwissenschaftliche organische” Systematik des soge-
nannten Positivismus” dem indischen Denken die kongenialste sein. Notiert sei Folgendes: In der
Mechanik blieb alles auf dem vorgalileischen Standpunkt. In der Mineralogie blieb die indische Wis-
senschaft wesentlich der Sieben - Metall - Lehre treu, die auch der Occident kannte. In der Chemie
sind drei praktische Erfindungen: 1. die Schaffung stetiger Pflanzenfarben durch Behandlung mit
Alaun, - 2. die Indigotin - Extrakte, - 3. die Stahlmischung, auf welcher die Damaszener - Klingen
beruhen, ihr gutzuschreiben (Seal, The Chemical Theories of the ancient Hindu). Im übrigen hat die
Tantra - Literatur hier alchemistische, auf dem Gebiet der Medizin aber vor allem anatomische, spe-
ziell nervenanatomische Kenntnisse von ganz erheblichem Umfang gezeitigt: Stoffwechsel- (nicht:
Blutumlaufs-, nicht: Lungenstoffwechsel-) Theorien, die Kenntnis der Lage der Nervenbahnen: Me-
ditation über diese Bahnen sollte nach der Tantristik magische Kräfte geben; das Gehirn (wie bei Ga-
len), nicht mehr (wie bei Aristoteles und ebenso bei den bedeutenden indischen Naturforschern Cha-
raka und Susrutu) das Herz, als Zentralorgan traten den schon vorher bedeutenden osteologischen
Kenntnissen zur Seite. Befruchtung und Vererbung (anschliend an die sehr bedeutende kameralisti-
sche Pferde- und Elefantenkunde) wurden auch theoretisch (palingenetisch, nicht epigenetisch) erör-
tert. Das Leben, welches die Materialisten (Charvaka) durch Urzeugung, die Sankhya - Lehre durch
Reflex - Aktivität und Resultante der Einzelenergien, das Vedanta aber aus einer besonderen “Le-
benskrafterklärten, gab ebenso Anl zur Annahme von “adrista”, “ungesehenenund das heißt:
unbekannten” Ursachen wie z. B. der Magnetismus. Und während die Fachwissenschaft der Züch-
tungspraktiker sich mit der Feststellung der “Unbekanntheitder Ursachen begnügte, hat die spätere
Nyaya- undVaiçeshika-Schule naturgemäß in diese Erkenntnislücken den ethischen Karman - Deter-
minismus der indischen Theodizee eingeschoben, genau wie bei uns die “Grenzen” der Wissenschaft
Raum geben für theologische Konstruktionen. Ueber die Medizin noch: Thakore Sahib of Gondal,
168
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [167]
alle diese naturwissenschaftlichen Studien zum erheblichen Teil nur im Dienst rein
praktischer: therapeutischer, alchemistischer, kontemplationstechnischer, politischer
Zwecke betrieben wurden, und daß der Naturwissenschaft hier wie in China und sonst
das m a t h e m a t i s c h e Denken der Hellenen, ihr unergängliches Erbe an die mo-
derne Wissenschaft, fehlte, ist auch die Gepflogenheit jener rhetorischen und symboli-
schen Pseudosystematik offenbar eine der Komponenten dieser Gehemmtheit gewesen.
Die andere, wichtigere freilich ging von der Interessenrichtung des indischen Denkens
aus, welches den Tatsächlichkeiten der Welt als solchen im letzten Grunde indifferent
gegenüberstand und jenseits ihrer, in der Erlösung von ihr, durch Gnosis, das suchte,
was allein not tat. Diese Denkrichtung ist formal bestimmt durch die Techniken der
Kontemplation der Intellektuellenschichten: Damit haben wir es nun zu tun.
Wie alle Methodiken der apathischen Ekstase fußten diese mtlich irgendwie auf je-
nem theoretischen Grundsatz, den noch die Quäker so formulierten: daß Gott in der
Seele nur spricht, wenn die Kreatur schweigt”. Praktisch lagen ihnen zweifellos alte
Erfahrungen der Magier über die Wirkungen autohypnoti-
History of Aryan Medical Science, London 1896 und jetzt Hoernle, Studies in the Medicine of an-
cient India, Oxford 1907 (mir beide nicht zugänglich gewesen). Die Botanik war wesentlich Pharma-
kologie. - Ueber die bedeutenden grammatischen Leistungen der Inder, vor allem vgl. Liebich's Pani-
ni (Leipzig 1891).
Ueber die Mathematik und Astronomie s. die Darstellung im Bühler'schen Grundriß (Thibaut,
1899): alles Entscheidende (außer in der Arithmetik und im Algebra) Fortbildung griechischer Ein-
wirkungen (Grad und Zeit freilich sehr bestritten). Auf rein indischem Boden wuchs nur Empirie oh-
ne r a t i o n a l e n “B e w e i s (dies das Entscheidende). Der “Beweis” wurde durch Appell an
die Anschauung geführt, etwa so wie manche extreme moderne Anhänger des “Anschauungsunter-
richtes” die formale logische Schulung des Denkens ausschalten würden, wenn sie siegten.
Ueber die kameralistisch - politischen Schriften (vor allem Kautalya Arthasas'ra): Narendranath
Law, Studies in ancient Hindu polity, London 1914 (mir ebenfalls unzugänglich). Der “Rationalis-
mus” der Verwaltungstechnik konnte an Raffinement nicht überboten werden. Aber damit wird sie
selbst noch nicht: rational. Das lehren diese Schriften.
169
Hinduismus und Buddhismus. [168]
scher und diesen verwandter psychologischer Techniken und physiologische Erpro-
bungen über die Wirkung der regulierenden Verlangsamung und temporären Stillestel-
lung der Atmung auf die Gehirnfunktionen zugrunde. Jene Gefühlszuständlichkeiten,
welche sich bei derartigen Praktiken ergaben, wurden als selige Entrücktheit der Seele
und also als heilig gewertet. Sie bildeten die psychologische Grundlage der philosophi-
schen Heilslehren, welche nun die Bedeutung jener Zustände im Rahmen der metaphy-
sischen Spekulationen rational zu begründen unternahmen. Unter den mannigfachen
Spielarten der apathisch - ekstatischen Techniken ragt eine schon dadurch hervor, daß
sie von einer als orthodox anerkannten Philosophenschule getragen wurde: das Yoga (
= Anspannung, Askese). Sie war die Rationalisierung der alten ekstatischen Zauberer-
praxis. Es ist hier nicht die Aufgabe, diese vielbesprochene Erscheinung eingehender
zu erörtern
1
). Sie galt ursprünglich als spezifische Laienaskese: der Heros Krischna
sollte sie dem Vivasvat, dem Stammesgott der Kschatriya - Kaste, dieser sie den alten
Weisen des Kriegerstandes mitgeteilt haben. Sie bedarf hier der Erwähnung, weil sie,
in verschiedenartig abgewandelter Form, sowohl in den orthodoxen wie in den hetero-
doxen Heilslehren mehr als irgendeine andere zu Einflgelangte und die typischste
Form der Intellektuellen - Heilstechnik war. Ob sie wirklich mehr innerhalb oder au-
ßerhalb des Brahmanentums ihren Hauptsitz hatte, kann schwerlich entschieden wer-
den. In historischer Zeit war sie jedenfalls weit über dessen Kreise hinaus verbreitet.
Sie wurde, wie später zu besprechen, durch die klassische brahmanische Heilstechnik
überholt, und heute werden als Yogins” eine nicht sehr große, aber ziemlich verbrei-
tete Schicht von Magiern ohne vedische Bildung bezeichnet, welche von den Brahma-
nen nicht als ihresgleichen anerkannt werden und daher - dem früher erörterten Ent-
wicklungstypus entsprechend - eine eigene Kaste bilden
2
). Die Yoga - Technik stellt in
den Mittelpunkt die Atmungsregulierung und die ihr verwandten
1
) Die literarische Fixierung als “Schuldoktrin” durch Patjali ist relativ jung. Die Sache selbst ist
zum mindesten älter als die Entstehung des Buddhismus. Sie ist dem Namen nach in den alten,
den Lehren nach in späteren Upanischaden erwähnt. Vgl. für alles Nähere: G a r b e , Sankhya
und Yoga, in Bühlers Grundriß 1896.
2
) In Bengalen nehmen die Oberkasten ihr Wasser nicht, sie tragen aber den heiligen Gürtel. Zum
Teil sind sie magische Aerzte, zum Teil aber auch hausierende Instrumentenmacher.
170
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [169]
Mittel apathischer Ekstase, in Verbindung mit Konzentration der bewußt ablaufenden
seelischen und geistigen Funktionen auf teils sinnhafte, teils sinnfremde oder mit einem
unbestimmten Gefühls- und Andachtscharakter ausgestattete, aber stets durch Selbst-
beobachtung kontrollierte Erlebnis -Abläufe bis zur völligen Entleerung des Bewußt-
seins von allem in rationalen Worten Greifbaren, zur bewußten Herrschaft über die In-
nervations - Vor- gänge von Herz und Lunge und schließlich zur Autohypnose. Die
Yoga - Technik ruhte gedanklich auf der Voraussetzung: daß das Erfassen des Göttli-
chen ein i r r a t i o n a l e s , durch irrationale Mittel herbeizuführendes seelisches Er-
lebnis sei, welches mit rational demonstrabler “Erkenntnis” nichts zu tun habe. Der
klassische brahmanische Intellektualismus hat diese Auffassung nie ganz geteilt. r
ihn stand Wissen” als solches im Mittelpunkt aller Heilswege. Zunächst das zünftige
Wissen um das Ritual. Für die Erlösungsuchenden Brahmanen aber darüber hinaus die
metaphysisch - r a t i o n a l e gnostische Deutung seines kosmologischen Sinns. Die
Entwicklung dieser Anffassung ist allmählich aus der Ritualisierung und Sublimierung
der heiligen Handlungen heraus eingetreten. Wie in anderen Religionen die richtige
(ethische) Gesinnungan Stelle des nur äußerlich korrekten Handelns trat, so hier -
dem spezifisch brahmanischen Prestige des Wissens und Denkens entsprechend - der
richtige Gedanke”. Es wurden dem amtierenden Brahmanen nun (worauf Oldenberg
aufmerksam gemacht hat) bei gewissen Ritualhandlungen geradezu bestimmte Gedan-
ken als Bedingung der magischen Wirksamkeit vorgeschrieben. Richtiges Denken und
richtige Erkenntnis galten nun als Quelle magischer Macht. Hier wie sonst behielt da-
bei diese Erkenntnis nicht den Charakter eines gewöhnlichen verstandesmäßigen Wis-
sens. Das höchste Heil konnte nur eine höhere Erkenntnis: eine Gnosis, wirken.
Das erstrebte Ergebnis der Yoga - Methodik waren in erster Linie magische Zuständ-
lichkeiten und Wunderkräfte. So z. B. die Aufhebung der Schwerkraft: die Fähigkeit zu
schweben, Fernerhin: “Allmacht” in dem Sinn, daß vorgestellte Ereignisse unmittelbar,
ohne äußeres Handeln, kraft der bloßen magischen Macht des Wollens des Yogin, sich
realisieren sollten. Endlich: Allwissenheit”, d. h. Hellsehen, vor allem über die Ge-
danken anderer. Die klassisch brahmanische Kontemplation erstrebte dagegen die Se-
ligkeiten des gnostischen Erfassens des Göttlichen.
171
Hinduismus und Buddhismus. [170]
Alle intellektualistischen Heilstechniken verfolgten eben einen der beiden Zwecke;
Entweder 1. durch Entleerung” des Bewußtseins, Raum r das Heilige zu schaffen,
welches dann mehr oder minder unklar, weil unaussagbar, g e f ü h l t wurde. Oder 2.
durch eine Verbindung von innerlich isolierenden Techniken mit konzentrierter Medi-
tation zu einem Zustand zu gelangen, der n i c h t als Fühlen, sondern als gnostisches
W i s s e n empfunden wurde. Der Gegensatz ist kein scharfer. Aber es ist unver-
kennbar, daß die klassisch - brahmanische Kontemplation, entsprechend dem Nimbus
des Wissens, dem zweiten Typus zuneigt. So sehr, daß die Nyaya - Schule geradezu
die von ihr gepflegte rationale empirische Erkenntnis als Heilsweg ansehen konnte,
was freilich dem klassisch - brahmanischen Typus keineswegs entsprach. Für diesen
stand der metaphysische Charakter der Gnosis und daher der Wert mechanischer Me-
ditationstechnik zur Herbeihrung des auf dem Wege empirischer Beweise nie zu ge-
winnenden Schauens” als eines seelischen Ereignisses fest. Sie hat daher Yoga -
Praktiken nie ganz abgelehnt. In der Tat war ja auch das Yoga in seiner Art eine höch-
ste Form spezifisch intellektualistischer Eroberung des Göttlichen. Denn das von ihm
in stufenweiser Steigerung der Konzentration (samadhi) erstrebte hlen mußte zu-
nächst eben möglichst b e w u ß t erlebt werden und zu diesem Zweck wurden die
Gefühle der Freundschaft” (zu Gott), des Mitleids” (mit der Kreatur), der Seligkeit
und schließlich der Indifferenz (gegeber der Welt) planmäßig und rational durch
Meditations - Exerzitien innerlich erzeugt. Erst die höchste Stufe ist dann die Kata-
lepsie. Das klassische Yoga lehnte die irrationale Kasteiung: atha Yoga, der reinen
Magier - Askese ab. Es war seinerseits eine rationalsystematisierte Form der methodi-
schen Gefühls - Askese, darin etwa den Exerzitien des Ignatius vergleichbar. Es war in
dieser Systematik der klassisch - brahmanischen Kontemplation an Rationalisierung
wesentlich überlegen, welche ihrerseits wieder hinsichtlich des erstrebten Habitus
(“Wissen”, nicht “Gefühl”) rationaler war.
Aber die klassisch - brahmanische Lehre konnte schließlich auch die virtuosenhaften
Kasteiungen der weltflüchtigen Anachoreten nie gänzlich als heterodox verwerfen,
weil der magische Charakter der Gnosis auch r sie feststand und weil überdies das
populäre Prestige des Tapas” als Mittel des Götterzwanges unerschütterlich war. Nur
für den brahmanischen Normal-
172
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [171]
mensehen, sozusagen: den Weltgeistlichen”, hat sie die temperierten Mittel der Kon-
templationstechnik bevorzugt. Wie weit historisch die andächtige Konzentration auf
die alte heilige Gebets - Silbe Om
1
) und die Meditation” darüber - in Wahrheit: die
Entleerung des Bewußtseins durch die mechanische Wiederholung dieses magisch
wirksamen Wortes - zurückgeht, ist nicht feststellbar. Sie herrschte in orthodoxen wie
heterodoxen Soteriologien Indiens. Und neben diesen Techniken andere mit ähnlichen
Zielen. Immer handelte es sich darum, von der Welt der Sinne, der seelischen Erregun-
gen, Leidenschaften, der Triebe und Strebungen, der nach Mitteln und Zwecken ge-
ordneten Erwägungen des Alltagslebens loszukommen, um dadurch die Vorbedingun-
gen zu schaffenr einen Endzustand, der ewige Ruhe bedeutet: die Erlösung (moksha,
mukti) von diesem Getriebe, die Vereinigung mit dem Göttlichen. Eine ewige himmli-
sche Existenz nach Art der christlichen paradiesischen Seligkeit konnte für die klassi-
sche Soteriologie der Inder nicht als Ziel in Betracht kommen. Zunächst und vor allem
wäre ihrem Denken naturgemäß der Gedanke zeitlich ewiger” Belohnungen und Stra-
fen r Handlungen oder Unterlassungen einer Kreatur in diesem vergänglichen Leben
als ein blöder Unsinn, als jeder ethischen Proportionalität und gerechten Vergeltung
widersprechend, erschienen: Auch im Himmel konnte man für endliche Verdienste nur
endliche Zeit sein
2
). Außerdem aber waren die vedischen und auch die späteren hin-
duistischen Götter so wenig tugendhaft wie die Menschen, und nur mächtiger als der
Alltagsmensch. Das konnte unmöglich der Endzustand für das brahmanische Erlö-
sungsstreben sein. Wirklich gelöst von der Welt war innerhalb des Bereiches des Er-
lebten die Seele nur im Zustand traumlosen Tiefschlafes. Wo sie dann weilte, - wer
konnte das wissen ? Jedenfalls war sie dann nicht verflochten in das innerweltliche Ge-
triebe. Also wohl in ihrer außerweltlichen Heimat.
Alle, sei es orthodoxe oder heterodoxe, den Intellektuellenschichten entstammende,
Heilstechnik Indiens hat diesen
1
) Ursprünglich wohl Gemeinde - Responsion, etwa entsprechend, unserem “Amen” später mystisch
interpretiert.
2
) Um dogmatisch diesen Punkt sicherzustellen, griff das Mahabharatha zu dem Mittel, für die Zeit
des Aufenthalts im Himmel die Erwerbung von Karman auszuschlien: für die neue Wiederge-
burt war nur das frühere Verhalten auf der Erde mgebend.
173
Hinduismus und Buddhismus. [172]
Sinn einer Abwendung vom Alltagsleben, darüber hinaus vom Leben und der Welt
überhaupt, mit Einschlauch des Paradieses und der Götterwelt. Im Paradiese m
man ja, da auch das Leben dort endlich ist, vor dem Augenblick zittern, wo der Ueber-
schuß der Verdienste aufgebraucht ist und nun unfehlbar wieder eine irdische Wieder-
geburt eintritt
1
). Die Götter sind der magischen Gewalt des richtig angewandten Ritu-
als unterworfen. Sie stehen in diesem Sinn unter, nicht über dem Wissenden, der sie zu
zwingen weiß. Sie sind so wenig ewig wie die Menschen, sind leidenschaftlich begeh-
rend und handelnd wie sie, und können also nicht identisch mit jenem Göttlichen sein,
zu dem die Exerzitien der Heilstechniker hinstreben. Die brahmanische Erlösung ist in
ihren klassischen Formen stets Erlösung von der Welt als solcher schlechthin und un-
bedingt. Sie unterscheidet sich dadurch von aller chinesischen Haltung zur Welt, ein-
schließlich derjenigen Laotses und der anderen dortigen Mystiker. Dieser äußerste Ra-
dikalismus der Weltablehnung ist durch das Weltbild der indischen Religionspklilo-
sophie bestimmt, welches der Sehnsucht nach Erlösung, konsequenterweise, eine an-
dere Wahl als diese gar nicht li.
Denn was durch das Erlösungsstreben abgelehnt wurde, war nicht das Leiden oder die
nde oder die Lieblosigkeit oder Unvollkommenbeit der Welt, sondern ihre V e r -
g ä n g l i c h k e i t . Sie haftet an allen wie immer gearteten, sinnlich wahrnehmbaren
oder von der Phantasie vorstellbaren irdischen, himmlischen und höllischen Gestalten
und Dingen: an der gesamten Welt des Geformten. Die Welt ist ein ewiges, sinnloses
Rad” von Wiedergeburt und Wiedertod, gleichmäßig abrollend in alle Ewigkeiten der
Zeiten hinein. Und nur zwei unvergängliche Wesenheiten sind in ihr auffindbar: die
ewige Ordnung selbst, und diejenigen Wesen, welche durch die Flucht der Wiederge-
burten hindurch als Träger der Wiedergeburt gedacht werden müssen: die Seelen. Um
die Struktur und die Beziehung dieser Wesen zur Welt und zum göttlichen Wesen
dreht sich die Gesamtheit der hinduistischen Philosophie
2
) mit der ausschließlichen
Frage:
1
) Atmapurana XIV, 91 - 95 bei Gough, The Phil. of the Upanishads.
2
) Wer sich mit der indischen Philosophie vertraut machen will, m zu dem etwas unförmlichen,
aber mit großer Hingabe geschriebenen Werk von Deussen greifen, dessen große Verdienste un-
bestritten sind. Die für unsern Zweck wichtigen Zusammenhänge freilich wird man besser in den
zitierten Schriften von Garbe und Oldenberg finden. Auch die (Missionars-) Schrift von Dilger
(Die Erlösung nach Christentum und Hinduismus) ist nicht unbrauchbar.
174
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [173]
wie die Seelen der Verstrickung in die Karman - Kausalität und dadurch in das Rad der
Welt entzogen werden können ? Denn daß dies die einzig denkbare Aufgabe einer “Er-
lösung” sein könne, stand seit der Vollentwicklung der Karman- und Samsara - Lehre
schlechthin fest.
Dieser Entwicklungszustand voller innerer Konsequenz ist freilich erst allmählich und
keineswegs überall erreicht worden. Wenn Karman und Samsara gemeinsamer Hindu-
glaube geworden sind, so doch nicht die Unpersönlichkeit des höchsten Göttlichen und
die Unerschaffenheit der Welt. Diese letztere würde freilich selbst da, wo persönliche
Weltgötter geglaubt wurden, die Regel. Die späteren Kosmologien - wie sie die Pura-
nas enthalten - lassen meist eine Reihe von Zeitaltern, im Vischnu Purana: Krita, Treta,
Dvapara, Kali, unaufhörlich aufeinander folgen. Im Kali - Zeitalter verfallen die Ka-
sten, die Çudra und die Häresien kommen hoch, weil Brahma schläft. Vischnu nimmt
dann die Form Rudra's (Çiva's) an und zerstört alle, Existenzformen: die Götterdämme-
rung bricht an. Dann aber erwacht Brahma in der Form Vischnus, des gnädigen Gottes,
und entsteht die Welt aufs neue. Die älteren Kosmologien kennen solche höchsten
Götter nicht oder unter anderen Namen und sind mannigfacher, hier nicht interessie-
render Art. Sehr allmählich hat das unpersönliche Brahman, ursprünglich: die magische
Gebetsformel, dann: eine magische Weltpotenz entsprechend der magischen Kraft des
Gebets, den älteren persönlichen Vatergott und Weltschöpfer (Prajapati) verdrängt.
Dabei aber neigte es immer wieder dazu, selbst die Züge eines persönlichen überwelt-
lichen Gottes - Brahma - anzunehmen, der allerdings nach der klassischen Lehre die
Welt nicht mehr aus nichts geschaffen hat, sondern aus dem sie durch Individuationen
emaniert ist. Seine Uebergöttlichkeit wurde r die Theorie vielleicht dadurch fixiert,
daß er als Funktionsgott des Gebets nicht selbst Gegenstand des magischen Zwanges
im Gebet sein konnte. Unterhalb der Kreise der philosophisch geschulten brahmani-
schen Intellektuellenschicht und selbst in ihrer eigenen Mitte erstand aber, wie sich
später zeigen wird, stets in irgendeiner Form neu der eigentlich unklassische Glaube an
einen höchsten persönlichen gütigen Schöpfergott oberhalb des Gewimmels der Lokal-
und Funktions - Gottheiten: - das Ekantika Dharma” (der “Monotheismus” rden
wir sagen) - und vor allem der Glaube an Heilande und
175
Hinduismus und Buddhismus. [174]
paradiesische Erlösung. Speziell die Yoga - Praxis mit ihrer irrationalistischen Askese
und dem gefühlsmäßigen Erlebnischarakter ihres Heilsbesitzes hat daher, wenigstens
in der Form, welche Patanjali ihr gab, den persönlichen höchsten Gott (Isvara, Herr-
scher”) nicht ausgeschaltet. Freilich: streng logisch konnte seine Existenz mit Karman
und Samsara kaum vereinbar erscheinen. Es entstand ja nun sofort die Frage nach dem
Sinn” der Schöpfung und Regierung dieser mit Leiden, Qual und Vergänglichkeit be-
lasteten Welt durch einen höchsten Gott. Neben minder konsequenten Lösungen ist
diese Frage einmal (in der Maitrayana Upanischad) auch dahin beantwortet worden:
daß der höchste Gott sie zum Zeitvertreib für sich: um “die Dinge zu genien” ins
Leben gerufen habe. Der gelegentlich von Nietzsche, aber mit jenem negativ moralisti-
schen Pathos, welches so oft einen peinlichen Rest von bürgerlicher Philistrosität auch
in manchen seiner größten Konzeptionen verrät, hingeworfene Gedanke von dem Ar-
tistengott” trat hier als sehr ernsthafte metaphysische Hypothese auf. Er bedeutete den
ausdrücklichen Verzicht auf einen “Sinn” der empirischen Welt. Ein mächtiger und
zugleich tiger Gott könne eine solche Welt nicht geschaffen haben: dessen wäre nur
ein Schurke fähig, lehrte in harter Klarheit die Samkhya - Philosophie
1
). Andererseits
hätte die von der Orthodoxie angenommene Möglichkeit einer Erlösung von Seelen
aus dem Rad der Wiedergeburten hinaus die zeitliche Endlichkeit der Welt, wenigstens
des Ablaufs der Wiedergeburten, nach sich ziehen müssen, wenn die Zahl der über-
haupt vorhandenen Seelen als endlich angenommen wurde. Tatsächlich wurde denn
auch, um dem zu entgehen, von der konsequentesten Lehre
2
), die Zahl der Seelen als
unendlich angenommen, so daß die Zahl derjenigen, welche zur Seligkeit der Erlösten
gelangten, nicht nur, wie auch im Christentum, klein, sondern schlechthin: unendlich
klein wurde. Das Pathos dieser Vorstellung mußte jenen religiös -individualisti-
schenZug, der jeder mystischen Heilssuche ihrer Natur nach anhaftet: daß der Ein-
zelne letztlich nur sich selbst helfen kann und will, aufs höchste steigern: welchen Sinn
konnte irgendeine Erlösungs - Mission gegenüber einer zahlenmäßigen Unendlichkeit
von Seelen haben? Die religiöse Einsamkeit der Einzelseele ist, außer im Prädestinati-
ons-
1
) S. die bei Garbe, Samkhya-Philosophie S. 192/ 3 übersetzten Stellen.
2
) In diesem Fall: der Samkhya - Philosophie.
176
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [175]
glauben, niemals auf einen solchen Resonanzboden gestellt worden, wie in dieser Kon-
sequenz der brahmanischen Lehre, die dabei gerade umgekehrt wie der Gnadenwahl-
glaube das Schicksal jeder einzelnen Seele gänzlich deren eigenes Werk sein ließ.
Die für die ganze Erlösungstheorie grundlegenden Lehren: (Seelenwanderung und ethi-
sche Vergeltungskausalität) sind - wie schon erwähnt - gleichfalls erst allmählich ent-
wickelt worden. Die erste findet sich in den Brahmanas noch in sehr unentwickelter
Verfassung
1
), die letztere überhaupt erst in den Upanischaden. Einmal unter dem
Druck des rationalen Bedürfnisses der Theodizee konzipiert, mußten freilich diese
Lehren sofort auf den Sinn alles asketischen und kontemplativen Heilsstrebens ent-
scheidend hiberwirken. Durch sie wurde nicht nur die Vergänglichkeit als der ent-
scheidende Grund der Weltentwertung konstituiert, sondern auch der Gedanke festge-
legt: daß die Vielheit der Welt, ihre Formung und Individuation, das entscheidende
Merkmal des Abfalls oder der Ferne vom Brahman (und nicht mehr wie einst: dessen
Schöpfung) sei. Dadurch gewann das Brahman, bei konsequentem Denken, die Quali-
tät als das unpersönliche Alleine und - da es hinter der Vielheit der Erscheinungen ver-
schwand - doch zugleich Verborgene, der Welt gegeber Negative. Und auch ethisch
entschied sich dadurch endgültig die Qualit und der Sinn der Weltentwertung. Im
fundamentalen Gegensatz gegen das Christentum konnten nicht nde” und Gewis-
sen” die Quellen der Heilssuche sein. Die Sündewar im Volksdenken eine Art ma-
gisch - dämonischer Stoff, wie Tapas (Askese) auch. Im Rigveda war sie die Uebertre-
tung der vom Gott des Rechts geschützten Gebote, über welche namentlich Varuna
wachte
2
). In der späteren Literatur tritt der
1
) Ueber die ganze Frage neuerdings: Schrader in der Z. D. Morg. G. 64, p. 333 f. Er sucht darzu-
legen, daß Yajnavalkya noch nicht, wie meist angenommen wird, Samsara, dagegen schon
Karman und Erlösung gelehrt habe: er stehe zwischen den Brahmanas und Upanischaden in der
Mitte. Die Seelenwanderung lt er für einen “antiklerikalen” Begriff gegenüber der Brahmana
- Lehre, wonach das Ritual das Jenseits zweifelhaft ob dauernd oder zeitweise) gewährt habe.
Es m aber doch wohl angenommen werden, daß die Lehren der Upanischaden, dem
Schwergewicht nach, die Ergebnisse der Kontemplation der Vanaprastha - Asketen, als welche
sie sich geben, wirklich darstellen. Diese waren dem Ritualdienst entrückt und konnten sehr
wohl Träger einer (relativ) ritualfeindIichen Lehre sein.
2
) Seine Späher wachen über den Menschen und seine Satzungen sind unverbrüchlich. Er weiß al-
les (Atharva - Veda IV, 16, 2) und straft die Sünde. Vgl. v. Schröder, Reden und Auftze S.
17.
177
Hinduismus und Buddhismus. [176]
Begriff ganz hinter dem des Uebels” zurück. Nicht das Böse entwertet die Kreatur,
sondern die metaphysische Wertlosigkeit der vergänglichen todgeweihten Welt und
der Ueberdruß des Wissenden an ihrem sinnlosen Getriebe.
Je mehr sich die brahmanische Philosophie diesem Standpunkt näherte, desto mehr
wurde die zentrale theoretische Frage r sie die nach dem Wesen und Wege der Indi-
viduation und ihrer Wiederaufhebung. Die indische Philosophie ist daher dem Schwer-
gewicht nach eine Theorie von der metaphysischen Struktur der Seele, als der Trägerin
der Individuation. Sehr verbreiteten Vorstellungen entsprechend galt ursprünglich der
Atem als Stoff des - sozusagen - Immateriellen,Seelischen” und “Geistigen” im Men-
schen, und der ursprünglich daran anknüpfende. Begriff Atman wurde daher zur ver-
borgenen, immateriellen, magischen Einheit des Selbst” sublimiert: In der Mudeka -
Upanischad
1
) besteht das innere Selbst noch aus Atem”, welcher auch in der Khan-
dogya - Upanischad noch allen anderen Organen gegenüber als etwas Besonderes, zum
Leben spezifisch Unentbehrliches, dabei aber schon Körperloses gilt. Daneben findet
sich in der letzteren schon der Astralkörper eines geistigen Selbst
2
). Und in der Mai-
trayana - Upanischad
3
) heißt es schlechthin: was ein Mann denkt, das ist er”. Die Ge-
danken allein verursachen den Umtrieb der Geburten, wenn sie auf die Welt statt auf
das Brahman gerichtet sind. Der Gedanke hat eben magische Kraft: Mit Kenntnis,
Glaube und Upanischad vollbringt man das Opfer wirksamer”, sagen die Upanischa-
den. Der einfache, aber wichtige Schritt zur Identifikation dieses magischen Trägers
des selbstbewußten Einzellebens mit der magischen Weltpotenz, dem Brahman, wurde
schon von der Esoterik der älteren Upanischaden vollzogen. Die berühmte Stelle in der
Khandogya Upanischad (I, 1, 10), in welcher der Lehrer den Schüler durch das Reich
des Lebendigen, vom Samenkorn bis zum Menschen, hindurchführt, ihm immer wieder
die innerlich gewendete feine Essenz” des Lebens, “kraft welcher alles da ist, was ein
Selbst hat” (die indische Fassung der Entelechie”) aufweist, mit dem steten Refrain:
Das ist das Wesen, das ist das Selbst, - und du, o Svetakatu, das bist du” (“tat tvam
asi”), - gehört in der Tat zu den eindrucksvollsten Formulierungen der altbrahmani-
1
) II, 2.
2
) I, 1, 10.
3
) VI, 34, 3.
178
M a x W e b e r , Religionssoziologie II.
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [177]
schen Weisheit. Die enge Beziehung des klassischen brahmanischen Denkens zur Ma-
gie hinderte dabei jene sehr naheliegende und in der genannten Stelle nahezu vollzoge-
ne Materialisierung - der höchsten Weltpotenz zur Substanz”, welche der helleni-
schen Philosophie eignete. Das durfte nicht sein: das Prestige der magischen Kraft
stand r das brahmanische Denken fest. Von hier aus wird die schroffe Ablehnung al-
ler materialistischen Spekulationen - welche ja in ähnliche Bahnen geführt hätten - als
heterodox leicht verständlich. Andererseits hatte die Rationalisierung der apathischen
Ekstase zur Meditation und Kontemplation, wie sie die Selbstkonzentrations- (Yoga-)
Technik zuerst konsequent durchführte, jene Fähigkeiten im Indertum geweckt, in wel-
chen es nahezu unerreicht dasteht
1
) : das Virtuosenhafte intellektualistisch bewußte Er-
leben eigener seelischer Vorgänge, vor allem: Gefühlslagen. Die Gewöhnung, sich bei
dem Getriebe und Gedränge des eigenen inneren seelischen Geschehens als
interessierten, aber selbst unbeteiligten Zuschauer zu hlen, welche durch die Yoga -
Technik
2
) gepflegt wurde, mußte ganz natürlich zu Konzeptionen hren, welche das
Ich” als eine jenseits aller, auch der “geistigen” Vorgänge innerhalb des Bewußtseins,
ja auch jenseits desjenigen Organs, welches das Bewußtsein und dessen Enge”
trägt
3
), stehende Einheit auffte. Aehnlich dem Chinesischen Dualismus des Yang
und Ying taucht daher in den jüngern Upanischaden als Quelle der Individuation die
Zweiheit der Weltpotenzen auf: das männliche, geistige Prinzip, der “purusha”, ist
verstrickt in die Gemeinschaft mit dem weiblichen Prinzip, der Urmaterie, der
prakriti”, in welcher unentfaltet die materiellen und die als materiell gedachten
seelischen und geistigen Kräfte der empirischen Welt schlummern, mit Einschlvor
allem auch der drei Grundkräfte der Seele, der drei “Gunas”: satva”, die göttliche
Helle und Güte,
1
) Im Occident waren die christlichen Mystiker und später gewisse Spielarten des Pietismus Träger
einer ähnlichen intellektuellen Raffinierung des Seelischen ins bewußt “Erlebte” hinein.
2
) Oder, wenn man deren Entstehung in den ihr eigentümlichen Zusammenhängen später ansetzen
will, durch ihre Vorläufer, was praktisch auf das gleiche hinauskommt.
3
) ln der Samkhya - Philosophie mte die Endlichkeit des zwischen der materiellen Welt und dem
Geist vermittelnden Organs die Enge des Bewußtseins begründen, die auch noch in der Theorie
des Buddhismus eine Rolle spielt (als Erklärung dafür, weshalb der allwissende Buddha dennoch
noch habe meditieren müssen).
179
Hinduismus und Buddhismus. [178]
rajas”, menschliches Streben und Leidenschaft, und tamas”, die bestialische Finster-
nis
1
) und Dummheit. Wie auf deren Wirken dann in fast der ganzen, auch späteren,
hinduistischen Literatur in der üblichen schematischen und pedantisch - phantastischen
Manier alle denkbaren Arten des inneren Sichverhaltens, als auf Mischungen jener drei
Kräfte, zurückgeführt wurden, soll uns hier nicht näher interessieren. Wichtiger war,
daß der purusha schon in den Upanischaden als der am Getriebe der Welt und der See-
le, welches die prakriti heraufbeschwört, durch keinerlei eigene Aktionen beteiligte
Zuschauer erscheint. Aber freilich als ein Zuschauer, der das Leben “erleidet”. So lan-
ge wenigstens, als er den Zusammenhang nicht durchschaut und sich in dem irrigen
Glauben befindet: er selbst sei es, der handle und um seine Interessen drehe sich dieses
ganze seelische Getriebe. Freilich: sobald er einmal zum Wissen gelangt und die pra-
kriti und ihr Treiben als das sieht, was sie ist, - so wird sie sich so verhalten, wie ein
Weib aus guter Familie, welches man nackt erblickt”: sie wird sich zurückziehen und
ihn frei geben für jene ewige unbewegte Ruhe, die seinem Wesen eignet.
Die brahmanische Spekulation fand sich mit diesen Konsequenzen mehreren wichtigen
Schwierigkeiten gegenübergestellt, die jeder Mystik überhaupt, namentlich aber jeder
gnostischen Mystik anhaften. Aus einer solchen war - das ist die eine Seite - keinerlei
Ethik r das Leben innerhalb der Welt abzuleiten. Die Upanischaden enthalten nichts
oder fast nichts von dem, was wir Ethik nennen. Und außerdem - das ist die zweite -
trat diese Erlösung allein durch gnostisches Wissen in die schärfste Spannung gegen
den überlieferten Inhalt der heiligen Schriften. Sie entwertete nicht nur die Götterwelt,
sondern vor allem auch das Ritual. Wie sich die Orthodoxie half - und auch allein hel-
fen konnte - ist aus dem bisher Gesagten im wesentlichen schon zu entnehmen: durch
organische” Relativierung. Es gibt keine Ethik” schlechthin, sondern nur ein stän-
disch und beruflich, nach Kasten also, differenziertes Dharma”. Zwar hat man nicht
auf alle und jede Formulierung allgemeiner Tugendlehren für den Gentleman (Arya)
verzichten können und wollen. Namentlich die Rechtsbücher (weniger die Hausritual-
bücher, die grihyasutras) konnten diese nicht gut entbehren. Aber die Tugenden sind,
bald
1
) Es war allgemein indische Vorstellung, daß die Finsternis etwas im gleichen Sinn Materiales sei,
wie das Licht.
180
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [179]
in 8, bald in 10 Nummern vorgetragen, ungemein farblos: Barmherzigkeit, Geduld,
Freiheit von Neid, Reinheit, Ruhe, korrektes Leben, Freiheit von Begierde und von
Habsucht sind die 8 guten Qualitäten der Seele in Gautamas Rechtsbuch (dem ältesten,
vielleicht vorbuddhistischen), und etwas positiver gewendet bei Manu: Zufriedenheit,
Geduld, Selbstbeherrschung, nicht stehlen, Reinheit, Herrschaft über Begierde, Fröm-
migkeit, Wissen, Wahrhaftigkeit und Freiheit von Jähzorn. Oder ganz konkret zusam-
mengefaßt in nf Geboten r alle Kasten: kein lebendes Wesen verletzen, die Wahr-
heit sagen, nicht stehlen, rein leben, die Leidenschaften beherrschen. Ganz ähnliche
Gebote gab es als erste Stufe des Yoga. Indessen beseitigt war die Spannung mit sol-
chen Geboten nicht. Die Frage des Werts des vedischen Rituals r den Erlösung su-
chenden und die Frage der Erlösungs- chancen des zur Einübung des gnostischen Wis-
sens nicht fähigen Laien bestanden. Es ist namentlich von E. W. Hopkins in verdienst-
voller Art gezeigt worden, wie sie sich durch die klassische Literatur hinzog. Die
Brahmanen durften zum mindesten dem Laien gegenüber das vedische Ritual, dessen
Träger sie selbst waren, nicht entwerten lassen. Für die Hausritualbücher (grihyasutras)
ist das Ritual begreiflicherweise das Ein und Alles geblieben. Aber auch für die
Rechtsbücher sind die vedischen Gottheiten und die Opfer, die Himmel und Höllen als
Belohnungs- und Strafmittel die entscheidenden und meist die letzten Realitäten und
der Ahnenkult eine zentrale Angelegenheit. Während in den Upanischaden das Ritual -
es handelte sich für sie vor allem um das alte politische Soma - Ritual des ritterlichen
Kults - allegorisch umgedeutet wurde, ist davon in den Hausritual- und Rechtsbüchern
- r welche alle das Feuer - Ritual am häuslichen Herd im Mittelpunkt stand - keine
Rede. Der altbrahmanische Rationalismus hatte über dem Gewimmel der Funktions-
götter einen Vatergott”, den Prajapati, als Weltregenten postuliert. Nun war in der
Esoterik das unpersönliche “Brahman” als Weltpotenz in den Mittelpunkt getreten. Die
Schaffung der Figur des Brahma” als persönlichen höchsten Gottes war dann wohl
wesentlich eine Konzession an die Laienbedürfnisse. Aber in den Rechtsbüchern ist
die dadurch geschaffene Lage keineswegs einheitlich. Zwar ist Brahma, als höchster
Gott und - meist - identisch mit Prajapati, rezipiert. Aber er war schon damals und
wurde
181
Hinduismus und Buddhismus. [180]
zunehmend ein roi fainéant”, wie man mit Recht gesagt hat. Das Atman” ist, und
zwar als Kultobjekt, in den Rechtsbüchern im Sinn der Philosophie rezipiert, während
die Hausrituale sich um diese Konzeption begreiflicherweise wenig bekümmern. Sam-
sara und Karman sind wenigstens in den Rechtsbüchern selbstverständliche Vorausset-
zung, in den jüngeren übrigens stärker als in den älteren in den Vordergrund tretend..
Aber die religiösen Zuchtmittel sind doch: längerer oder kürzerer Aufenthalt in Hölle
und Himmel, die Freude und das jenseitige Glück der Ahnen im Fall der Tugend, da-
gegen ihr jenseitiges Elend im Fall der Uebeltaten des Nachkommen
1
), - und, wie sich
von selbst versteht: im Fall eines durch den Nachkommen verschuldeten Uebelerge-
hens die Rache des Ahnengeistes gegen ihn.
Entsprechend der Bedeutung des Ahnenkults und also der Nachkommenschaft r die
Grabesruhe und Seligkeit der Vorfahren mußte nun eine besonders heikle Frage sein:
ob man ohne Nachkommen gezeugt zu haben, ein Sramana werden dürfe. Denn, wenn
man auch selbst der Ahnenopfer für sich nicht mehr zu bedürfen glaubte, so durfte man
doch nicht die Vorfahren ohne Versorgung durch Nachkommen lassen. Die Rechtsbü-
cher setzen denn auch im Allgemeinen als selbstverständlich voraus, daß der Einzelne
alle Stadien, einschließlich des Haushalter-, also: des Ehe - Stadiums, durchmachen
müsse, um jenseitiges Verdienst zu erlangen. Selbst die Vorstellung, daß das jenseiti-
ge” Fortleben oder die Unsterblichkeit” in gar nichts anderem bestehe, als in dem
Fortleben in den eigenen Nachkommen, taucht auf
2
). Es wird bemerkt, daß es Brah-
manen gebe, welche lehren: daß ein Asket nicht nötig habe, zuerst Haushalter zu sein,
ehe er zum Mönchsleben übergehe. Es wird gelegentlich dagegen und gegen die Be-
deutung des Wissens” überhaupt als höchsten Heilswegs protestiert
3
) und der sophi-
stische Wortklauber des Heils r verlustig erklärt
4
), ebenso wie der der Weltlust Er-
gebene. Aber im ganzen wird die Erscheinung eben doch als bestehend ak-
1
) Vasischtha 16, 36.
2
) Apastamba 23 v. 8 ff. Auf diese wie die andern hier zitierten Stellen hat Hopkins a. a. O. S. 252 ff.
hingewiesen. Die Rechtsbücher s. jetzt in den Uebersetzungen in den Sacred Books of the East.
3
) Apastamba 10, v. 14 - 15. Dies Rechtsbuch, welches die meisten Widersprüche dieser Art gegen
die Kontemplationstechnik enthält, ist freilich, wie Bühler (S. B. of the East, Einleitung zur Aus-
gabe) nachweist, südindischen, also der Heimat der alten Upanischaden - Philosophie fremden Ur-
sprungs.
4
) Vasischtha 10, 4.
182
II. Die orthodoxen u. heterodoxem Heilslehren der indischen Intellektuellen. [181]
zeptiert, Regeln für die Mönche gegeben, welche denen der heterodoxen (janistischen)
Mönche ziemlich ähnlich sind
1
), und wenn überhaupt eine Stellungnahme hervortritt,
so ist es ungefähr die: daß eben mehrere Wege und auch mehrere Ziele der Heilssuche
gegeben seien: der Mönch strebe nach jenseitigem persönlichen Heil, der in der Welt
bleibende ritualistisch korrekte Laie nach diesseitigem Heil r sich, jetzt und in der
Wiedergeburt, für seine Vorfahren und für seine Nachkommen.
Daß es der Heilssuche der Sramana dergestalt gelang, die magische Sippengebunden-
heit durch den Ahnenkult zu durchbrechen, gehört zu den wichtigsten und außerordent-
lichsten Erscheinungen und erklärt sich nur aus einem Umstand: aus den von niemand
bezweifelten magischen Kräften, welche der Asket besaß. Dies Prestige des sramani-
stischen magischen Charisma hat in Indien - und dies ist der wichtigste Gegensatz ge-
gen China - die Pietätspflichten gegen die Familie überwogen.
Wie früh diese Entwicklung eingetreten ist und wie stark die Widerstände waren, ver-
mag heute niemand mehr zu sagen. Die Dinge waren wohl durchweg stark im Fluß,
und das hrend der ganzen Brahmana - Periode vermutlich noch andauernde koloni-
sierende Vordringen in Nordindien, welches die Familienbande lockern mußte, hat
vielleicht dazu beigetragen, jene Entwicklung zu ermöglichen. Mit ihr erst war aber die
ungehemmte Bildung von brahmanischen Schulen, Asketengemeinschaften, Klöstern
überhaupt möglich gemacht und die mystische Heilssuche der Philosophen wirklich
ganz freigegeben.
Die philosophische Heilslehre ihrerseits, die sich als Çruti: Offenbarung, von Smriti:
dem traditionellen Ritual, geschieden wußte, hat jene Relativierung der Heilswege je
nach der Absicht und dem persönlichen Charisma der Heilssucher akzeptiert: Die Göt-
ter sind da und sind mächtig. Aber ihre Himmelswelt ist vergänglich. Durch korrektes
Ritual kommt der Laie zu ihnen. Ebenso derjenige, der korrekt die Veden studiert, weil
seine Geisteskraft zu mehr nicht reicht. Aber wer das Charisma der Gnosis hat, der
kann heraus aus dieser Welt der Vergänglichkeiten. Ist Gnosis das höchste soteriologi-
sche Mittel, so kann diese doch inhaltlich zweierlei verschiedene Wege gehen. Entwe-
der sie ist Erkennt-
1
) Namentlich bei Baudhayana, ein Umstand, auf den wiederum schon Hopkins hingewiesen hat.
183
Hinduismus und Buddhismus. [182]
nis der materiell - seelisch - geistigen Vorgänge der Wirklichkeit als einer, dem ewig
unveränderlichen und qualitätslosen Selbst gegenüber, heterogenen, aber wirklich exi-
stierenden Welt des qualitativ Besonderten, Individuellen, ewig Werdenden und Ver-
gehenden, von der das Selbst sich abwendet. Dann ist der Dualismus von erkennendem
Selbst und erkannter Materie (einschließlich der sog. “geistigen” Vorgänge) der grund-
legende metaphysische Tatbestand. Oder die Erkenntnis ist “Gnosis” in einem weit
spezifischeren Sinn: Die Welt der Wirklichkeit, des ewigen Werdens und Vergehens,
kann gar nicht “wahr” sein. Sie ist Schein (Maya), ein Trugbild, welches von einem
dämonischen Scheinwesen, dem Demiurg (Tsvara), der Erkenntnis vorgezaubert wird.
Maya also schafft” recht eigentlich die Welt. Realität hat nicht dies scheinbare Wer-
den und Vergehen, sondern das in allem scheinbaren Wandel beharrende Sein, natür-
lich: ein überwirkliches, göttliches Sein: das Brahman. Seine durch die (zur Scheinwelt
gehörenden) Erkenntnisorgane entstandene Individuation ist der Einzelgeist. Wird
durch Erkenntnis diese kosmische Illusion zerstört, so ist die Befreiung vom Leiden an
ihr vollzogen. Der einmal zur Gnosis gelangte Geist bedarf nichts weiter. Und es be-
darf nur der geeigneten Hilfsmittel, ihn in jenen Zustand zu bringen: Die Gnosis ist
nicht ein gewöhnliches Wissen, sondern ein Haben”. Also, - und darin liegt der ei-
gentliche religiöse Unterschied beider Auffassungen, der praktisch wichtiger ist als die
formalen erkenntnistheoretischen Gegensätze -: bei dieser Auffassung von der Trugna-
tur der Realität kann befreiende Erkenntnis nur durch eine m y s t i s c h e Wieder-
vereinigung des nur durch seine kosmische Illusion individualisierten Geistes mit dem
göttlichen Alleinen, dem Brahman, erfolgen. Während bei der dualistischen Anerken-
nung der Wahrheit des Wirklichen ein Brahman für den erstrebten Heilserfolg letztlich
überfssig ist und dieser durch systematische S c h u l u n g des Erkennens im Sinne
der Yoga - Praxis erreicht wird. Die dualistische Lehre befaßt sich daher nicht mit dem
Brahman und ist in diesem Sinn atheistisch”: die befreite Seele versinkt in ewigen
traumlosen Schlaf, aber sie verschwindet nicht. Die monistische Brahman - Lehre
könnte pantheistisch” genannt werden, wenn man die ganz spezifische metaphysische
Ueberweltlichkeitdes Brahman als des einzig Realen gegenüber dem kosmischen
Schein als durch jenen eigentlich dafür recht un-
184
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [183]
geeigneten Ausdruck mit gedeckt gelten lassen wollte. Die dualistische Lehre von der
Realität der Wirklichkeit hat die von Kapila zuerst systematisch begründete Samkhya -
Schule gepflegt, die monistische Lehre vom kosmischen Schein ist unter dem Namen
des Vedanta” bekannt. Die Samkhya Lehre ist vorgeformt schon in den Upanischa-
den und war ohne Zweifel dereinst und vor der Vedanta - Lehre die klassische Philo-
sophie der indischen Intellektuellenschicht. Das beweisen schon ihre Beziehungen zum
Yoga, dessen Technik für ihre Konstruktionen die Vorbedingungen schuf, und daneben
der Einfluß, den sie gerade auf die älteren Sektenbildungen und Heterodoxien, darunter
auch den Buddhismus, geübt hat. Ferner die Tatsache, daß wichtige Teile des Mahab-
harata ganz offensichtlich zuerst unter dem Einflder Samkhya - Lehre und erst spä-
ter des Vedanta gearbeitet sind. Endlich auch äußerliche Umstände, wie die Zeit der
ältesten systematischen Redaktionen
1
) der Lehre, und noch mehr: daß in der täglichen
Wasserspende des Brahmanen noch jetzt Kapila und die alten Samkhya - Heiligen es
sind, welche angerufen werden. Dagegen ist das Vedanta niedergelegt
2
) in den Brah-
masutras des Bâdarayâna, später kommentiert von dem bedeutendsten Philosophen der
Schule: Çankara, das klassische System des späteren orthodox - brahmanischen Hindu-
ismus geworden. Dies hat gewiß nichts Erstaunliches. Die stolze Ablehnung jeder
Form des Gottesglaubens und die Anerkennung der Realität der Wirklichkeit in der
Samkhya - Lehre mußte einer aus Brahmanen und ritterlichen Laien zusammengesetz-
ten vornehmen Intellektuellenschicht, wie sie die Zeit vor der Großkönigstumsent-
wicklung kannte, leichter zusagen als einer reinen Priesterkaste, zumal wenn diese un-
ter dem Schutz patrimonialer Großkönige stand. r sie war die Existenz und der my-
stische Zutritt zur göttlichen Macht von zentralem Interesse. Und sie vermochte ihre
Lehre auch leichter in Einklang mit den Voraussetzungen der vedischen Literatur zu
bringen, - wie dies ja der Name (Vedanta = Ende, Ab-
1
) Das älteste erhaltene Werk der Schule, das Samkhya - Karika des Isvarakrishna, hat Bechanarama
Tripathi in den Benares Sanskrit Series (Nr. 9), Benares 1883) übersetzt deutsch bei Deussen,
Gesch. d. Philos. I, 3. Die Aphorismen (angeblich) des Kapila sind ins Englische übersetzt von
Beal.
2
) Offiziell wird als Gründer der Schule “Vyasa(= der Schaffer der Disposition) genannt, ein Sam-
melname, der auch für den Redakteur der Mahabharata und den Sammler der Veden angegeben
wird.
185
Hinduismus und Buddhismus. [184]
schldes Veda) auch als Ziel erkennen läßt. Der Versuchung, die in ihrer Art sehr
grartigen Konzeptionen des Vedanta hier näher zu analysieren, mwiderstanden
werden, da r unsern Zusammenhang nur die allgemeinsten Grundlagen von Bedeu-
tung sind. Gewarnt werden mvor der Vorstellung: daß diese Lehren nur nationale
Umschreibungen einer pessimistischen”, weltverachtenden” Gefühlslage seien. Der-
artiges findet sich, wie bei den Hellenen, so auch in der altbrahmanischen und schon
der altvedischen Literatur. Aber als wirkliche grundlegende Gefühlslage erst in späten
Upanischaden
1
). Die großen indischen Lehrsysteme waren vielmehr rationale Konzep-
tionen stolzer und in ihrer Art konsequenter Denker. Und der mystische Charakter des
Heilsguts, welcher ihre Lehren allerdings stark bestimmte, war die Folge der inneren
Lage einer dem Leben als D e n k e r über seinen Sinn, nicht als praktisch h a n -
d e l n d an seinen Aufgaben beteiligt, gegebergestellten Intellektuellenschicht. Die
Gefühls- und Empfindungslage und das Weltgefühlwar mindestens zum Teil erst
Folge, teils des rational erschlossenen Weltbildes, teils aber der durch Kontemplation
erstrebten Heilszuständlichkeit. Wenn in einer der Upanischaden
2
) als die drei Kardi-
naltugenden der Inder: Selbstbezähmung, Freigebigkeit und Mitleid” bezeichnet wer-
den, so ist die an zweiter Stelle genannte ritterlichen, die erste brahmanisch - ständi-
schen Ursprungs, das Mitleid” aber offenbar das Produkt der bei der apathischen my-
stischen Ekstase typisch sich einstellenden liebesakosmistischen Euphorie, welche spä-
ter im Buddhismus zu universeller ethischer Bedeutung gelangte. Unter den offiziellen
sechs orthodoxen Veda - Schulen
3
) waren Samkhya und Vedanta so sehr die vornehm-
sten, daß die Metaphysik der übrigen hier ganz beiseite bleiben kann. Auch die Lehre
der beiden großen Schulen geht uns ja nur insoweit
1
) Maitrayana Upan. I, 2 - 4 ff. pflegt dafür angeführt zu werden.
2
) Brihadaranyaka Up., V, 2, eine Stelle, auf welche Winternitz. Gesch. der indischen Literatur, auf-
merksam macht, der sich dabei auch über den Mangel ethischen Gehaltes der Upanischaden und
ihren Grund ausspricht.
3
) In der üblichen Aufzählung: Jaiminis Mimamsa, Kapilas Samkhya, “Vyasas” Vedanta, Gotamas
Nyaya, Kanadas Vaiçeshika, Patañjalis Yoga. Das Vedanta wird dem alten Mimamsa, dem die
Veden ritualistisch auslegenden “Purva (frühen) Mimamsa” auch gegenübergestellt als “Uttara
(späteres) Mimamsa” (Mimamsa bedeutet schulmäßige Forschung schlechthin). Denn als
schlechthin im höchsten Sinn klassisch galten nur die beiden Mimamsa (Purva Mimamsa und Ve-
danta).
186
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [185]
etwas an, als sie die praktische Ethik in einer r unsern Zusammenhang wichtigen Art
bestimmte.
Die Orthodoxie” aller sechs Schulen äußerte sich darin, daß sie die Autorität der Ve-
den, das heißt - wie früher dargelegt - insbesondere die Verbindlichkeit der in der
brahmanischen Literatur entwickelten Ritualpflichten nicht bestritten und die Stellung
der Brahmanen nicht anfochten.
Die orthodoxen Philosophenschulen
1
) haben stets die Pluralität der Heilswege (marga)
anerkannt. Rituelle Werke, Askese, Wissen waren die drei von Anfang an als klassisch
anerkannten von ihnen. Nur die beiden letzten aber führten über die Karman - Verket-
tung hinaus. Und zwar vor allem: das Wissen. Dies Wissen war Gnosis, Erleuch-
tung”, für welche die Ausdrücke Bodhi und Buddha gelegentlich vorkommen. Seine
magische Bedeutung (namentlich bei den Yogins) lernten wir schon kennen. Seine so-
teriologische Bedeutung lag darin, daß es die unheilvolle Verknüpfung des Geistes mit
der Materie, die Materialisation(Upadhi) des Ich, aufzuheben vermochte. Den Zu-
stand völliger Beseitigung aller materialen Unterlage” (Upadhi) bezeichnete man spä-
ter als Nirvana
2
): ein Habitus, der dann eintritt, wenn alle Verknüpfung mit der Welt
gebrochen ist. In der außerbuddhistischen Vorstellung wird es nicht, wie im alten
Buddhismus, mit völligem Verwehen” der Individuälität gleichgesetzt, sondern mit
dem Ende des Leidens durch Unrast: es ist nicht ein Verlöschen der Flamme, sondern
ein stetiges, rauchloses und nicht flackerndes Brennen, wie es eintritt, wenn aller Wind
sich gelegt hat
3
).
Das Nirvana und die ähnlichen durch andere Worte bezeichneten Seligkeitszustände
sind nicht notwendig jenseitige in dem Sinn, daß sie erst nach dem Tode des Erlösten
eintreten
4
).
1
) Im Gegensatz zum Loka Yata, der als heterodox angesehenen Schule der “Materialisten”, welche
Charvaka (etwa im 3. Jahrh. v. Chr.) begründete. Sie lehnte alle Metaphysik und deshalb die Au-
torität der Veden ab. Vgl. über sie Hertel, Das Peñchatantra (1914) und Hilltbrandt, Zur Kenntnis
der indischen Materialisten (Festschrift für Kühn, 1916).
2
) Dazu Oldenberg a. a. O.
3
) So z. B. im Mahabharata (VI, 30, 49). Das Bhagavadgita kennt den Zustand in diesem Sinn.
4
) Ganz naturgemäß mte eine Metaphysik, welche das Nichthandeln und Nichtfühlen als Haupt-
merkmal der Befreiung vom Irdischen ansah, an den traumlosen Schlaf als die diesem Zustand
chststehende Verfassung anknüpfen. Aller Animismus behandelt den Schlaf als ein Fortwandem
der Seele und die Upanischaden behandeln denn auch mehrfach den traumlosen Schlaf und Eksta-
se
187
Hinduismus und Buddhismus. [186]
Ganz im Gegenteil werden sie gerade r das Diesseits, als Resultate der Gnosis, er-
strebt. Dem klassischen Sramana verlieh die vollendete Erreichung der Gnosis vor al-
lem e i n e überaus wichtige Qualität: die hinduistische certitudo salutis”. Der hin-
duistischen Metaphysik entsprechend bedeutete dies zweierlei: Einmal den schon ge-
genwärtigen Genuß der Seligkeit. Vor allem das Vedanta legte auf diese überirdische
Wonne des mit dem Brahman Vereinigten das entscheidende Gewicht
1
). Dann aber:
die schon diesseitige Befreiung von der Karman - Verkettung. Der durch vollkomme-
nes Wissen erlöste “jivanmukti
2
) war dem ethischen Vergeltungsmechanismus ent-
ronnen: an ihm haftet keine Tat”. Das bedeutete, daß er im hinduistischen Sinn sünd-
loswar. Ihn quält die Frage nicht mehr: was habe ich r Gutes, was für Uebles ge-
tan ?” Es ist daraus geradezu die r die Mystik charakteristische anomistische Konse-
quenz gezogen worden: daß das Ritual ihn nicht mehr binde, er über ihm stehe und daß
er tun könne was immer
3
), ohne seine Seligkeit zu gefährden. Namentlich den meta-
physischen Gedankengängen der Samkhya - Schule mußte diese Konsequenz nahelie-
gen, die aber auch von den Vedantisten (z. B. im Taittireya - Upanischad) gezogen
wurde
4
). Diese Folgerungen scheinen nun freilich keineswegs restlos anerkannt wor-
den zu sein. Und ganz begreiflicherweise: die Entwertung, welche das Ritual dadurch
erfuhr, war eine zu grundstürzende. Aber jene Vorstellungen rften bei der Entste-
hung der heterodoxen, ritualfeindlichen, Erlösungsreligionen eine überaus wichtige
Rolle gespielt haben, wie ja jede Mystik, als Selbsterlösung, wegen eben dieser ano-
mistischen Konsequenzen, den Priesterschaften unvermeidlich gefährlich
in dieser Hinsicht als gleichwertig (Stellen bei Gough, Philosophy of the Upanishades p. 36).
1
) Vgl. z. B. Maitr. Brahm. Up. VI, 34, 9. Das Glück der Seele, welche in dieser Meditation reinge-
waschen ist von aller Unreinheit und in dem Selbst aufgegangen ist, ist unbeschreibbar. Das. 10:
Wasser ist Wasser, Feuer ist Feuer, Aether ist Aether, - man kann nichts Einzelnes darin unter-
scheiden; so auch bei dem, der im Selbst aufgegangen ist.” Im Epos wiegt nicht in gleichem Maß
die Schilderung des Brahman als eines seligen Gefühlshabitus vor, sondern es erscheint mehr als
ein intellektuelles Leuchten, etwa wie die Quelle von Platons Gnosis in der Politeia. Sonst wird es
auch einfach dem Tiefschlaf verglichen.
2
) Der Ausdruck selbst gehört erst der neueren Sprache an, die Sache ist alt.
3
) Selbst Vater- und Muttermord. Nur werde er, heißt es, dergleichen zu begehen eben ganz außer-
stande sein.
4
) Vgl. dazu G o u g h , Philosophy of the Upanishades, p. 66 ff.
188
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [187]
zu werden pflegt. Tatsächlich hlten sich die Sramana als die Wissenden” den
Brahmanen als bloßen Ritualtechnikern überlegen, zumal das Prestige ihrer persönli-
chen, sichtbaren Heiligkeit bei den Laien das weitaus größere war. Dies Spannungs-
verhältnis innerhalb des brahmanischen und brahmanisch beeinflußten Intellektuellen-
tums lag eben ganz ebenso in der Natur der Sache, wie die Spannung zwischen Welt-
priestern, ordinierten Mönchen der anerkannten Orden und Laien - Asketen im Occi-
dent.
Dagegen war die Stellung des religiösen Virtuosentums innerhalb des Hinduismus trotz
mancher Aehnlichkeit eine etwas andere als sie innerhalb des katholischen Christen-
tums es war, nachdem das Christentum endgültig den Charakter der kirchlichen Gna-
denanstalt angenommen hatte. Zwar findet sich der logisch gewertet, gegeber dem
Karman - Determinismus unkonsequente Gedanke der opera supererogatoria auch im
Hinduismus. Aber zum mindesten fehlt das Anstaltsorgan, welches aus dem Thesaurus
dieser Leistungen hätte Gnaden spenden können. Und in aller Regel blieb daher an
Stelle jener Konzeption vielmehr die alte einfache unmittelbare Hagiolatrie bestehen:
Die Verehrung und Beschenkung des Sramana war ein rituell gutes Werk, welches
Verdienst erwarb. Der große Asket wurde Directeur de 1'âme (Guru, Gosain). Eine fe-
ste Beziehung zu einem Kirchenoberhaupt aber fehlte. Und wenigstens als Grundsatz
blieb bestehen: daß der Einzelne ausschließlich durch eigene Leistungen, nicht durch
Anstaltsgnade ex opere operato, das Heil erwerben könne, so daß der Sramana für
Dritte nur entweder magisch oder exemplarisch heilsbedeutsam wurde. Entsprechend
den organisch abgestuften Heilsständen: der Erlösten (jivanmukta), der die Erlösung
durch Askese oder Kontemplation außerweltlich Erstrebenden, der rituell korrekten
vedisch gebildeten Brahmanen und weiterhin der einfachen Laienstände, wurde natur-
gemäß versucht, auch die Stufen der außerweltlichen soteriologischen karmanfreien
Heilssuche und die innerweltliche Karman - Ethik zueinander in ein organisches Stu-
fenverhältnis zu bringen. In der Samkhya - Soteriologie beispielsweise galten stufen-
weise, von unten nach oben, als Mittel der Vollkommenheit: 1. Freigebigkeit - entspre-
chend der alten vedischen Tugend, - 2. Verkehr mit weisen Freunden, - 3. eigenes Stu-
dium, 4. Unterweisung anderer, - endlich 5. Meditation (ûha, Vernunft-
189
Hinduismus und Buddhismus. [188]
überlegung). Wer wirklich nach dem höchsten Ziel strebt, soll unbedingt Ataraxie
(virâga) erstreben. Denn Begierde und Kummer machen der Belehrung unzugänglich.
Er soll daher den Besitz aufgeben, vor allem aber sich der Gesellschaft mit Menschen
entziehen, außer mit solchen, die im Besitz der Erkenntnis sind. Die Erfahrung aller
Virtuosenreligiosität über die ungleiche religiöse Qualifikation der Menschen fehlte na-
rlich schon dem alten Hinduismus nicht. Nach der Samkhya - Lehre ist sie in den
Dispositionen des Denkorgans (welches zur prakriti gehört) begründet: aviveka, die
Nicht - Unterscheidung”, i s t das nach Veranlagung verschieden starke Hemmnis
der All - Erkenntnis. Indessen durch Konzentration, r welche später die Mittel des
Yoga rezipiert wurden, kann man seiner Herr werden. Soziale Leistungen irgend wel-
cher Art waren dagegen nach reiner Samkhya - Lehre für das Heil wertlos. Sogar die
Anerkennung: daß die Erfüllung ritueller Pflichten positiven Heilswert auch für das Er-
lösungsstreben habe, scheint von dieser Lehre - ihrer Beeinflussung durch das Laien-
denken entsprechend - erst spät rezipiert zu sein.
Die Vedanta - Lehre hat dagegen Riten und Werke”, d. h. die traditionellen sozialen
Pflichten stets als wertvoll auch für das Streben nach Erlösung geschätzt. An Stelle des
alten der Unverbrüchlichkeit des Rituals entnommenen Begriffs des Rita”, der kosmi-
schen Ordnung, welche zugleich Realgrund alles Seins war und also dem chinesischen
Tao - Begriff nahe stand, trat in der klassischen und späteren Literatur der Begriff des
Dharma”, des für den Einzelnen verbindlichen Pfades” des sozial - ethischen
Verhaltens, der Pflicht”, in den Vordergrund, der aber nun seinerseits Neigung zeigte,
zugleich kosmische Ordnungzu bedeuten. Die Wendung war durch die zunehmende
Notwendigkeit, die innerweltlichen, vor allem rituellen, Pflichten der Lajen priesterlich
zu reglementieren, gegeben. Auch im Vedanta war aber die Anerkennung der Bedeu-
tung der äußern Pflichten nur so gemeint: daß die korrekte Erfüllung der rituellen, vor
allem der Opferpflichten auch die Erlangung des rechten Wissens indirekt ermögliche,
nicht: daß sie selbst ein Weg zur Erlösung sei. Nach dem klassischen Vedanta sind sie
in jenem indirekten Sinn freilich auch dafür ganz unentbehrlich. Nur wer das Wissen
und damit die Seligkeit bereits voll erlangt hatte, dem nutzten nunmehr, auch nach dem
Vedanta, die Riten nichts mehr.
190
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [189]
Wenn so Alltagspflichten und Heilsweg in ein für die brahmanische Auffassung leid-
lich befriedigendes organisches Stufenverhältnis zueinander gebracht waren, so konnte
doch diese Lösung den Bedürfnissen der gebildeten Laienschaft keineswegs genügen.
Vor allem nicht: der Ritterschaft. Wenn der Brahmane die Meditation neben seinem ri-
tuellen Alltagsberuf, als dessen sinnvolle Steigerung ins Außeralltägliche oder als eso-
terische Ergänzung betreiben und, vor allem, damit innerlich vereinbar finden konnte,
so doch nicht der Krieger. Dessen ständisches Dharma war mit jeder Art von Welt-
flucht unvereinbar. Er konnte aber nicht gesonnen sein, sich um deswillen als schlecht-
hin religiös minderwertig behandeln zu lassen. Dieses Spannungsverhältnis zwischen
Alltags - Dharma und religiösem Heilsstreben hat teils zur Entstehung jener heterodo-
xen Erlösungsreligionen beigetragen, von welchen später zu reden sein wird, teils aber
zu einer weiteren Entwicklung der Soteriologie innerhalb der Orthodoxie. Von dieser
ist schon jetzt zu sprechen. Einerseits deshalb, weil ihre Anfänge sicherlich bis in die
Zeit vor der Entstehung jener Heterodoxien hinaufreichen
1
) oder neben ihnen herge-
hen. Andererseits aber weil sie noch charakteristische Züge der alten Intellektuellenso-
teriologie an sich trägt, freilich - in der uns allein überlieferten Form - schon mit An-
sätzen der späteren Heilandsreligiosität verbunden. Ihr klassischer literarischer Ort ist
freilich erst das (in endgültiger Redaktion etwa aus dem 6. Jahrhundert nach Christus
stammende) Mahabharatha und insbesondere eine jener dialogischen philosophischen
Einschiebungen, an welchen dieses von Priesterhänden zu einem Kompendium der
Ethik umgestaltete Werk so überaus reich ist. Sie sind aber offenbar, wenigstens zum
Teil, priesterlich umgearbeitete und angepaßte Reminiszenzen und Niederschläge jener
Diskussionen, welche in der hochgebildeten Kschatriya - Gesellschaft der Kleinr-
stenzeit über das Problem der Theodizee stattgefunden haben
2
). Wir finden in ihnen
einerseits Reste des jedem Kriegsheldentum naheliegenden Glaubens an ein Ver-
hängnis” und an ein wahlloses Spiel des Schicksals mit dem Menschen
3
), welches nur
schwer
1
) Buddhistische Einflüsse finden sich im Epos erst in ganz späten Partien.
2
) Gerade ein Teil der entscheidenden Züge des Bhagavadgita m der alten Ritterzeit entstammen,
vor allem die “Schicksals-Ethik” des Rittertums.
3
) Namentlich kämpft mit der Vorstellung, daß die Sünde doch letztlich im Menschen selbst liege, die
andre, daß die Sünde, eine unvermeidliche Frucht der Taten abgelebter Zeiten, wie ein Fatum über
dem Menschen schwebe, der
191
Hinduismus und Buddhismus. [190]
mit der Karman - Lehre vereinbar ist. Ferner, namentlich in den Unterredungen König
Yudhischthiras mit seinen Helden und mit der Draupadi, Erörterungen über die Ge-
rechtigkeit” des individuellen Heldenschicksals und über das Recht” des Krieges.
Viele von ihnen zeigen, daß die rein eigengesetzliche (“macchiavellistische”) Auffas-
sung des rsten - Dharma erst eine Folgeerscheinung teils der politischen Verhältnis-
se der späteren Signorie -Epoche, teils der konsequenten brahmanischen Rationalisie-
rung war. Aushrlich und etwa in der Art des Buchs Hiob erörtert im Epos in seinem
unverschuldeten Ungcke König Yudhischthira
1
) mit seiner Gemahlin das göttliche
Weltregiment. Die Frau kommt zu dem Ergebnis: daß der große Gott mit den Men-
schen nur spiele nach seiner Laune. Und eine wirkliche Lösung wird hier so wenig wie
bei Hiob gefunden: man solle derartiges nicht sagen, denn durch die göttliche Gnade
erhalten die Guten Unsterblichkeit und - vor allem - ohne diesen Glauben würde sich
das Volk nicht tugendhaft verhalten. Das klingt wesentlich anders, als die Philosophie
der Upanischaden, die von einem solchen Weltregiment eines persönlichen Gottes
nichts weiß. Es ist Uebernahme des alten Göttervaters der Brahmanas, der über den
unethischen, vedischen Göttern steht, und diese Uebernahme ist teilsweise bedingt
durch die in der Zeit der Endredaktion des Epos schon wieder aufgelebte Sektenreli-
giosität mit ihren persönlichen Göttern. Der persönlich gedachte Brahma ist dabei mit
Prajapati identifiziert. Die vedischen Götter sind alle da. Aber sie sind machtlos. Der
Held fürchtet sie nicht. Sie können ihm nicht einmal helfen, nur die Stirn kühlen und
ihn bewundern. Er selbst ist - z. B. Arjuna - Göttersohn. Aber ihn kümmert auch der
Vatergott wenig. Er ist von der Bedeutung des Verhängnisses” überzeugt, auch wo er
äußerlich sich zu der Philosophie der Brahmanen bekennt
2
). Das alte Walhall, der
Kriegerhimmel des Indra, ist, scheint es, sein eigentliches Ziel und daher der Tod auf
dem Felde der Ehre, der es ihm - hier wie überall - verschafft. Das ist, wird wenigstens
an einer Stelle gesagt, besser als Askese und das Land, welches durch sie erreichbar
ist. Tugend, Gewinn und Genuß sucht der Mann, und Handeln ist
Mensch nur das Werkzeug sei, durch welches entweder ein dunkles Verhängnis oder - korrekt -
die Verkettung von Karman sich vollstrecke. (Mahabh. XII, 22, 11 ff. zu vgl. mit 59, 13 ff., ferner
IV, 5 und andere Stellen.)
1
) III, 29, 38 ff. Gerade dies ist ein als alt geltender Bestandteil des Epos.
2
) So E. W. Hopkins, Rel. of India p. 417.
192
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [191]
besser als Nichtstun. Da nun aber dennoch auch der Held Askese übt und da die Macht
des Asketen und die Bedeutung des heiligen Wissens auch ihm völlig feststeht, so kann
diese reine Heldenethik offenbar nur eine Seite der Sache sein. So ist es in der Tat.
Ausführlich wird die Frage des ethischen Sinns des Heldendharma, also des Krieges,
abgehandelt in jener hochberühmten in Indien bis in die Gegenwart zum Repertoire je-
des Rezitators gehörigen Episode, die unter dem Namen Bhagavadgita bekannt ist
1
).
Aeußerlich ist sie ein unmittelbar vor dem blutigen Kampf der miteinander blutsver-
wandten Gegner stattfindendes Gespräch zwischen dem Helden Arjuna, dem Beden-
ken über die Rechtmäßigkeit des Tötens so nahestehender Verwandter in der Schlacht
kommen, und seinem Wagenlenker Krischna, der sie ihm mit Erfolg ausredet. Krischna
gilt aber dabei dem Dichter bereits als menschliche Inkarnation (avatar) des höchsten
göttlichen Wesens, des Bhagavat (“Erhabenen”) und wir befinden uns also schon auf
dem Boden jener Epiphanien, welche die unklassische volkstümliche Heilandsreligiosi-
tät des späteren Hinduismus beherrschen. Immerhin stecken die weiter unten zu be-
sprechenden charakteristischen Gefühlszüge dieser wichtigsten Religiosität des indi-
schen Mittelalters noch in den Anfängen
2
) und handelt es sich in den wesentlichsten
Punkten doch um ein Erzeugnis der vornehmen Intellektuellenschicht der älteren Zeit.
Es wird wohl mit Recht angenommen, daß eine alte Gemeinschaft der Bhagavata -
Verehrer Träger der Soteriologie war, welche das Bhagavadgita wiedergibt
3
). Die
Samkhya - Lehre liegt, wie Garbe schön nachgewiesen hat, der ursprünglichen Fas-
sung zugrunde. Erst nachträglich hat eine klassizistisch - brahmanische Redaktionstä-
tigkeit korrekt vedantistische ge hinzugefügt: Nun galt das Gedicht als Ausdruck re-
zipierter orthodoxer Lehre. Wie die Gestalt Krischnas historisch aufzufassen sei, ist
bestritten. Nachdem er gelegentlich (ebenso wie Buddha vor der urkundlichen Feststel-
lung seiner historischen Persönlichkeit) r einen alten Sonnengott gehalten worden
war, traten hervorragende Forscher
1
) In fast alle Sprachen der Erde übersetzt. Deutsch mit vorzüglicher Einleitung von Garbe (Leipzig
1904).
2
) Denn nicht die Gefühlsandacht des bhakti (wovon später), sondern der Gedanke der ttlichen
Gnade (prasada) ist offenbar das alte und vorbuddhistische am Bhagavadgita. (So auch E. W.
Hopkins.)
3
) Darüber jetzt R. G. Bhandakar, Vaisnavism, Saivism and minor religious systems (Bühler's Grund-
riß, Straßburg 1913).
193
Hinduismus und Buddhismus. [192]
dafür ein, daß er vielmehr der vergottete Stifter der Bhagavata - Religion gewesen
sei
1
). Der Nichtfachmann kann das nicht entscheiden. Zwingende Gnde aber gegen
die einfachste Annahme: daß die Gestalt der alten epischen Ueberlieferung entnommen
und von einem Teil der Kschatriya als Standesheros verehrt worden sei, scheinen nicht
eigentlich vorzuliegen. - Die Heilslehre des Bhagavadgita nun ist in ihren r uns we-
sentlichen Zügen die folgende :
Auf Arjunas Bedenken dagegen, nahe Verwandte in der Schlacht zu bekämpfen, ant-
wortet Krischna, genau angesehen, mit mehreren, untereinander heterogenen Argumen-
ten. Einmal
2
): der Tod dieser Feinde sei ohnedies beschlossen und würde auch ohne
Arjunas Zutun erfolgen, also: mit dem Verhängnis. Dann
3
): Arjunas Kschatriya - Natur
würde ihn auch ohne sein Wollen in den Kampf treiben; er habe darüber gar keine
Gewalt. Hier wird die ethische Determiniertheit des Kasten - Dharma zur Kausalität
umgedeutet, - eine Konsequenz, welche sonst auch im Samkhya, dem sie als Folgerung
aus der rein materiell mechanischen Natur aller Komponenten des Handelns nahe lag,
nicht gezogen zu werden pflegt. Ferner - und dies ist das theoretische Hauptargument:
- was nicht da sei, könne man auch nicht wirklich bekämpfen. Das klingt nach der Ve-
danta - Illusion. Allein es wird, dem Samkhya gemäß, dahin interpretiert: daß nur der
erkennende Geist sei”, alles Handeln und Kämpfen aber nur an der Materie hafte. Da
der Geist zum Zweck der Erlösung ja aus der Verstricktheit in die Händel der Materie
befreit werden soll, scheint das Argument schwächer, als es vom Standpunkt der
Samkhya - Lehre aus war. Denn darnach ist eben das unterscheidende Wissen” das,
worauf es ankommt. Ist der passiv das Leben erleidende Geist einmal darüber zur end-
ltigen
1
) Kennedy, J. R. A. S. 1908 p. 506 vertritt diese Ansicht noch jetzt. Ebenso Grierson, Ind. Ant. 37,
1908, der ihn Krischna Vasudeva nennt, und annimmt, daß der alte Bhagavata - Gott Vasudeva
erst später mit Vischnu identifiziert worden sei. - Macnicol, J. R. A. S. 1913 p. 145, nimmt an,
daß Krischna ein alter (gelegentlich in Tiergestalt inkarnierter) Vegetationsgott gewesen sei und
daher Pflanzen- statt Tieropfer erhalten habe (Ursprung des Ahimsa?). Er verweist auf die späte-
ren Krischna - Pantomimen, bei welchen Krischna und Gefolge, rot angestrichen (Sommer) gegen
den weißen Dämon (den Winter) kämpften (entsprechend dem Kampf von “Xanthos” und “Ma-
lanthos” in Griechenland). Die Sekte der Bhagavata - Verehrer gilt als im 4. vorchristl. Jahrhun-
dert bezeugt, ihre Entstehung verlegt Garbe a. a. O. einige Jahrhunderte vor Buddha.
2
) XI, 32, 33.
3
) XVIII, 59.
194
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [193]
Klarheit gekommen, daß nicht er handelt, sondern daß er nur das Handeln der Materie
erleidet, so ist er in dessen Verdienst und Schuld, in den Karman - Mechanismus, nicht
mehr verstrickt. Er wird, wie der klassische Yogin, zum Zuschauer seines eigenen
Handelns und aller seelischen Vorgänge in seinem eigenen Bewußtsein und dadurch
frei von der Welt
1
). Es bleibt aber die Frage: warum denn Arjuna unter diesem Um-
ständen überhaupt mpfen solle. Das folgt zwar, korrekt hinduistisch, rein positiv aus
dem Kasten - Dharma des Kriegers, auf welches ihn Krischna verweist
2
). Dem Krieger
ist Kampf - in einer r die epische Zeit noch charakteristischen Wendung sagt
Krischna: gerechter” Krieg - gut: ihn zu meiden bringt Schande; wer im Kampfe fällt,
kommt in den Himmel, wer darin siegt, beherrscht die Erde; beides müsse, meint
Krischna, dem Krieger gleich gelten. Allein das konnte nicht die letzte Meinung sein.
Denn es fragte sich ja gerade, ob und in welchem Sinn das Handeln nach dem Ka-
stenDharma, also: eine Tat der Materie, nicht des Erlösung suchenden Geistes, Heils-
wert haben konnte. In der Antwort d a r a u f erst liegt die religiöse Originalität der
Konzeption, welche das Bhagavadgita wiedergibt. Uns ist das Minimisieren der Ver-
flechtung in die Welt, das religiöse Incognito” des Mystikers bereits begegnet, wel-
ches die Folge der ihm eigenen Art von Heilsbesitz ist. Der alte Christ hat seine Güter
und Frauen, als hätte er sie nicht”. Im Bhagavadgita nimmt dies die besondere Fär-
bung an: daß sich der wissende Mensch gerade im Handeln, richtiger: gegen sein eige-
nes Handeln in der Welt, bewährt, indem er das Gebotene - das ist immer: das durch
die Kastenpflichten Gebotene - zwar vollzieht, aber innerlich gänzlich unbeteiligt daran
bleibt: handelt, als handelte er nicht. Das ist beim Handeln vor allem dadurch bedingt,
daß man es ohne alles und jedes Schielen nach dem Erfolge, ohne Begierde nach sei-
nen Fchten, vollzieht. Denn diese Begierde würde ja Verstrickung in die Welt und
also Entstehung von Karman bewirken. Wie der alte Christ recht tut und den Erfolg
Gott anheimstellt”, so tut der Bhagavata - Verehrer das notwendige Werk”,
3
) - wir
würden sagen: “die For-
1
) XIII, 23: Wer den Geist und die Materie kennt, der wird nicht wieder geboren, w i e a u c h
i m m e r e r g e l e b t h a b e .
2
) II, 31 ff.
3
) Gemeint ist mit diesem Ausdruck Krischnas, wie XVIII, 48 zeigt, die angeborene”, also die durch
Kasten - Dharma zugewiesene Obliegenheit, welche mit der vom göttlichen Schicksal bestimmten
identisch ist. (Vgl. III, 8. XVIII, 7, 9, 23.)
195
Hinduismus und Buddhismus. [194]
derung des Tages” -, die von der Natur bestimmte Obliegenheit”. Und zwar, - ent-
sprechend der Exklusivität der Kastenpflichten
1
), - nur diese und keine andere
2
), ohne
alle Bekümmertheit um die Folgen und vor allem: um den Erfolg r ihn selbst. Den
Werken kann man nicht entsagen, solange man einen Körper (mit Einschlder von
der Samkhya - Lehre materiell geften geistigen” Funktionen) hat, wohl aber ihren
Früchten
3
). Auch Askese und Opfer sind nur bei innerem Verzicht auf ihre Früchte, al-
so nur dann, wenn man sie um ihrer selbst willen” (wie wir sagen würden) vollzieht,
tzlich für die Erlösung
4
). Wer beim Handeln den Hang zu den Früchten der Welt
fahren läßt, läd durch sein Handeln keine Schuld auf sich, weil er seine Handlung nur
um des Körpers willen tut und zufrieden ist mit dem, was sich von selbst bietet”
5
). Ein
solches Handeln bleibt Karman -frei. - Es ist verständlich, daß auch das Vedanta diese
Lehren der Sache nach zu legitimieren in der Lage war. Von seinem Standpunkt aus ist
das Handeln in der Welt des scheinbar Wirklichen ein Weben an den Truggeweben
des Maya - Schleiers, hinter welchem sich das göttliche All - Eine verbirgt. Wer den
Schleier gelüftet hat und sich mit dem All - Einen eins weiß, der kann an diesem illu-
sionären Handeln ohne allen Schaden an seinem Heil weiter illusionär teilnehmen; das
Wissen macht ihn dagegen gefeit, dadurch in Karman verstrickt zu werden, und die Ri-
tualpflichten ergeben die Regeln, durch deren Innehaltung man sich gegen die Gefahr
gottwidrigen Handelns schützen kann.
Wenn so diese Weltindifferenz gerade des innerweltlichen Handelns in gewissem Sinn
die Krönung der klassischen indischen Intellektuellenethik bietet, so zeigt sich in dem
Gedichte selbst der Kampf, unter welchem sie allmählich ihre endgültige Gestalt an-
nahm. Zunächst gegen das altritualistische Brahmanentum:
1
) Die Kastenpflichten bestehen in vollem Umfange. Kastenmischung z. B. führt (nach I, 41) zur Höl-
le, und zwar auch für alle Ahnen, da kein ebenbürtiger, also zur Verrichtung des Totenopfers qua-
lifizierter, Nachkomme da ist.
2
) XVIII, 47 steht eine jener klassischen, schon früher angezogenen Stellen: “Besser ist selbst die
mangelhafte Erfühung der eigenen Pflicht, als die rechte Ausübung der Pflicht eines anderen. Wer
die ihm von der Natur bestimmte Obliegenheit erfüllt, gerät nicht in Verschuldung.” Der zweite
Satz ist die bhagavatistische Wendung jenes ethischen Grunddogmas des Hinduismus.
3
) XVIII, II.
4
) XVIII, 5, 6. Andernfalls wirken sie Karman.
5
) IV, 20, 2I.
196
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [195]
Die Veda - Lehre ist getragen von Begierde nach Glück, sie betrifft die Gunas, die ma-
terielle Welt, nach deren Früchten sie strebt
1
). Weiterhin aber blieb Problem die relati-
ve Bedeutung des der Heilslehre entsprechenden, das heißt vom Erfolg absehenden
und deshalb Karman - freien Handelns in der Welt gegenüber dem klassischen Erlö-
sungsmittel der Kontemplation: die Stellung der innerweltlichen zur weltfchtigen
Mystik also. Ausübung der Werke sei vorzüglicher als das Aufgeben der Werke, heißt
es einmal
2
). Und die Herkunft der Bhagavata - Religiosität aus der Kschatriya - Ethik
macht es wahrscheinlich, daß diese Rangordnung die ältere ist gegenüber dem definiti-
ven Standpunkt, der gelegentlich umgekehrt die Meditation als Angelegenheit der
durch das entsprechende Charisma bevorzugten Heiligen höher stellt, im allgemeinen
aber beide Heilswege: das jñanayoga (richtiges Erkennen) und das karmayoya (richti-
ges Handeln), jedes als dem betreffenden Kasten - Dharma entsprechend, einander
gleichordnet. Auch in der vornehmen Laienbildung war eben die Stellung der methodi-
schen Kontemplation als des klassischen Wegs zur Gnosis nicht mehr zu erschüttern.
Und die Herkunft aus der vornehmen Intellektuellenschicht verleugnet sich nirgends.
So in der absoluten Ablehnung der orgiastischen Ekstase und aller aktiven Askese. Die
sinnlose Askese, voll Begier, Leidenschaft und Trotz, ist dem Bhagavadgita dämoni-
schen Charakters
3
) und führt ins Verderben. Dagegen ist die intime Beziehung der
Bhagavata - Frömmigkeit zum klassischen Yoga ganz offensichtlich, auch dem Samk-
hya - Dualismus von erkennendem Geist und erkanntem Bewußtseinsinhalt durchaus
entsprechend und an zahlreichen Stellen des Gedichts bezeugt. Der Yogin ist mehr als
ein Asket und - charakteristisch r die ursprüngliche Stellung zur klassischen brahma-
nischen Heilslehre - auch mehr als ein Erkennender
4
). Die Yoga - Technik der Atem-
und Vorstellungs - Regulierung wird gepriesen
5
). Allgemein hinduistischen Grundsät-
zen entsprechen die Gebote der Weltindifferenz: der Ablegung von Begierde, Zorn und
Habsucht als von den drei Toren zur Hölle
6
), die innere Befreiung von der
1
) II, 42.
2
) V, 2.
3
) XVII, 5. Vgl. VI, 16, 17.
4
) VI, 46.
5
) V, 27, 28.
6
) XVI, 21.
197
Hinduismus und Buddhismus. [196]
Zuneigung zu Haus, Gattin und Kindern
1
), die absolute Ataraxie
2
) als sicheres Merk-
mal des Erlösten. Im Gegensatz mindestens zu den klassischen Grundsätzen des Yoga
und auch unvedantistisch, vielmehr eine schroffe Samkhya - Formel ist der Satz, daß,
wer Geist und Materie kenne, nicht wieder geboren werde, wie immer er auch gelebt
habe”
3
). Diese anomistische Konsequenz, welche wir als letzte Folge der Stellung des
Erlösten (jivanmukti) im klassischen Hinduismus schon kennen, wurde nun aber in der
Bhagavata - Religiosität zu einem Motiv in Beziehung gesetzt, welches uns bisher
noch nicht begegnet ist und auch tatsächlich in der klassischen Lehre einen Fremdkör-
per bildet.
Gib alle heiligen Werke auf und nimm bei mir allein deine Zuflucht” sagt Krischna
gelegentlich
4
). Selbst ein Bösewicht, der ihn, Krischna, richtig liebt, wird selig
5
). Das
Sterben mit der Silbe Omund in Gedanken an Krischna gibt Sicheiheit gegen jensei-
tiges Verderben
6
). Endlich und namentlich: jene Lehre, daß das innerweltliche Handeln
dann nicht heilschädlich, ja positiv heilwirkend sei, wenn es vollzogen werde mit abso-
luter Weltindifferenz, also mit Bewährung des mystischen Gnadenstandes des geisti-
gen Ich gerade auch gegenüber dem (scheinbar) eigenen, durch Verflechtung in die
materielle Welt bedingten äußeren und inneren Tun und Sichverhalten, - diese mit den
allgemeinen Voraussetzungen der althinduistischen Erlösungslehre leicht vereinbare
Lehre findet sich positiv dahin gewendet: das Handeln in der Welt ist dann und nur
dann heilfördernd, wenn es ohne allen Hang am Erfolg und den Früchten ausschließ-
lich auf Krischna bezogen wird; nur um seinetwillen und nur in Gedanken an ihn ge-
schieht. Es ist ein Typus der G l a u b e n s - Religiosität, der da vor uns auftaucht.
Denn Glauben” im typischen religiösem Sinn ist nicht ein rwahrhalten von Tatsa-
chen und Lehren: - dieses rwahrhalten von Dogmen kann nur Frucht und Symptom
des eigentlich religiösen Sinns sein -, sondern die religiöse Hingabe, der unbedingte
vertrauensvolle Gehorsam an und die Beziehung des ganzen Lebens auf einen Gott
1
) XIII, 9.
2
) XIV, 22.
3
) XIII, 23.
4
) XVIII, 66.
5
) IX, 30.
6
) XIII, 13.
198
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [197]
oder Heiland. Als ein solcher Heiland zeigt sich hier Krischna. Er übt durch Erlösung
derer, welche zu ihm allein ihre Zuflucht nehmen, Gnade” (prasada). Das ist ein Be-
griff, der dem altklassischen Hinduismus, bis auf vielleicht schwache Spuren in einigen
Upanischads, fehlt, schon weil er den überweltlichen persönlichen Gott voraussetzt
und, im Grunde, auch eine Durchbrechung der Karman - Kausalität oder doch minde-
stens des alten Grundsatzes: daß die Seele ihres eigenen Schicksals alleiniger Schmied
ist, bedeutet. Nicht der Gedanke der Gnadenspendung an sich ist der hinduistischen
Religiosität ursprünglich fremd: der hagiolatrisch angebetete Magier spendete ja Gna-
den kraft seines Charisma und die Gnade des überweltlichen persönlichen Gottes oder
vergötterten Heros lag mithin als die Transponierung vom Menschlichen ins Göttliche
an sich nahe. Wohl aber ist der Gedanke, daß die Erlösung aus der Welt auf diesem
Wege zu erlangen sei, eine neue Erscheinung. Dennoch scheint es nicht wohl möglich,
die Entstehung dieser Heilands- und Glaubensreligiosität der späteren Zeit, nach
Buddha, zuzuschreiben, in welcher sie freilich, wie sich zeigen wird, üppig emporwu-
cherte. Die erste inschriftliche Erwähnung der Bhagavat - Religion scheint
1
) sich aller-
dings erst im 2. vorchristlichen Jahrhundert zu finden
2
). Das Bhagavadgita ist aber bei
näherem Zusehen so einheitlich durchtränkt von diesem Glauben und offenbar nur
durch die Ueberzeugung von der Bedeutsamkeit gerade dieses Elements schon in sei-
ner ersten Entstehung verständlich, es gibt sich ferner so sehr als eine esoterische Leh-
re einer religiösen Virtuosengemeinschaft hoher intellektueller Kultur, daß doch wohl
angenommen werden muß: geräde dieses Moment sei der Bhagavata - Religiosität von
Anfang an eigentümlich gewesen. Nun ist ja die Unpersönlichkeit des Göttlichen zwar
die eigentlich klassische, aber vermutlich selbst in den Intellek-
1
) Nach Bhandakar, Ind. Ant. 41 (1912), S. 13. S. jetzt auch denselben in Bühlers Grundriß Vaishna-
vism Saivism and minor religious, 1913.
2
) Es ist da von dem Kult des Bhagavat Samkarshana auch Vasudeva (der typische Name für den
Krischna - Gott) die Rede. Kurz nachher findet sich, daß ein Grieche, Heliodor, in Taxila sich ei-
nen Bhagavata nennt ( J. R. A. S. 1909, S. 1087 ff.). Die drei indischen Kardinaltugenden: dama
(Selbstzucht), tyaya (Freigebigkeit), apranada (Bescheidenheit) werden von dem halbgriechischen
Konvertiten auf einer Ehreninschrift für Vasudeva angenommen. (Z. D. M. G. 63, S. 587.) - Vor-
derasiatisch - iranische Einflüsse wären auch bei weit früherer Entstehung der Religiosität nicht
ausgeschlossen, aber ihre Annahme ist nicht nötig.
199
Hinduismus und Buddhismus. [198]
tuellenschichten, selbst den brahmanischen, niemals ganz konsequent alleinherrschen-
de gewesen. Am wenigsten wohl in den Laienkreisen und besonders in dem in der Ent-
stehungszeit des Buddhismus schon stark entwickelten vornehmen, aber unmilitäri-
schen Stadtbürgertum. Das Mahabharata als Ganzes ist eben in seinen alten Bestand-
teilen eine eigentümliche Mischung von Zügen alter stolzer humanistisch intellektuali-
sierter Ritterethik: - dies heilige Geheimnis verkünde ich euch: nichts ist edler als
Menschentum”, sagt das Epos
1
), - mit dem bürgerlichen Anlehnungsbedürfnis an die
Gnade eines die Menschengeschicke nach seinem Willen lenkenden Gottes und mit
priesterlich - mystischer Weltindifferenz. In der unzweifelhaft der rationalen Intellek-
tuellenreligiosität angehörigen, in ihrer konsequenten Form atheistischenSamhkya -
Lehre scheint gelegentlich Vischnu als persönlicher Gott eine etwas unklare Rolle zu
spielen. Das Yoga hielt stets, aus uns bekannten Gründen, am persönlichen Gott fest:
Von den großen persönlichen Gottheiten des späteren Hinduismus ist jedenfalls außer
Vischnu auch Çiva keine Neuschöpfung. Er war nur von dem altvedischen Brahmanen-
tum literarisch, wegen des orgiastischen Charakters der alten Çiva - Kulte, totge-
schwiegen. hrend später und bis heute gerade die orthodoxesten vornehmen brah-
manischen Sekten çivaitisch waren und sind, - nur eben unter Ausmerzung der orgia-
stischen Elemente aus dem Kult. Daß man zu einem Heiland als zu einer Inkarnation
des Göttlichen seine Zuflucht nimmt”, war ein Begriff, der wenigstens der heterodo-
xen Intellektuellen - Soteriologie, vor allem der buddhistischen, von Anfang an geläu-
fig und schwerlich von ihr zuerst erfunden war. Schon weil, wie gesagt, die Stellung
des magischen Guru von jeher gerade diesen unbedingt autoritären persönlichen Cha-
rakter trug. Was der alten klassischen Bhagavata - Religiosität zunächst noch fehlte
oder jedenfalls - wenn es in ihr schon existierte - von der vornehmen Literatenschicht
nicht rezipiert wurde, war die brünstige Heilandsminne der späteren Krischna - Reli-
giosität. Aehnlich wie etwa die lutherische Orthodoxie die psychologisch gleichartige
pietistische Christus - Liebe (Zinzendorf) als unklassische Neuerung ablehnte. Ihren
Charakter als einer Intellektuellen-Religiosität be-
1
) Hopkins hat diese Stelle zum Motto seines hier oft zitierten Werkes (Rel. of India) gewählt.
200
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [199]
währte die Bhagavata - Religiosität auch darin, daß sie die Gnosis und älso den Heilsa-
ristokratismus des Wissens zunächst unbedingt beibehielt. Nur der Wissende hat das
Heil. Ja sie hrte diese Konzeption erst in ihre letzten Konsequenzen durch, indem sie
die Heilswege organisch - ständisch” relativierte. Alle aufrichtig und mit ganzem
Herzen beschrittenen Heilswege hren auch zum Ziel. Zu demjenigen nämlich, wel-
ches der Heilssucher erstrebt. Die Unwissenden, die am Werke hängen”, das heißt:
die von dem Streben nach den Früchten des Handelns nicht loskommen: zur Weltindif-
ferenz nicht gelangen, soll man dabei lassen. Der Weise zwar handelt in
weltindifferenter Erhebung (Yoga), aber er heißt die Werke jener Unwissenden
gut”
1
). Ganz ebenso wie der chinesische Mystiker die Masse bei ihren materiellen
Genüssen beläßt und selbst nach dem Tao strebt. Und aus den gleichen Gründen:
infolge der jedem religiösen Virtuosen selbstverständlichen Einsicht in die
Unterschiede der charismatischen Qualifikation. Die Veda - Kenner, die Soma trinken
(die ritualistischen Brahmanen) kommen in den Himmel Indras
2
) mit seinen zeitlich
endlichen Freuden. Krischna zu erschauen ist freilich weder durch vedisches Wissen,
noch durch asketische Bußübung möglich. Und direkt, durch das Streben der
Vereinigung mit dem Brahman, zu Krischna zu gelangen - wie die Vedantisten wollen
- ist sehr schwer
3
). Die Erlangung jenes endlichen Heils, welches den aufrichtigen
Verehrern der Götter winkt, hat Krischna denen verliehen, welche, verlockt durch
Begierde, - das heißt: durch Haften an der Schönheit der Welt - nicht imstande sind,
ihm selbst so zu nahen
4
). Das Entscheidende für die Erlösung selbst ist die Beständigkeitim Gnadenstande.
Unwandelbar” (aviyabhicârin) zu sein, die certitudo salutis zu haben, ist das, worauf
alles ankommt: dann wird man auch in der Todesstunde Krischnas gedenken und zu
ihm kommen. Und diese Gnade verleiht er denen, welche richtig, d. h. nach dem
Dharma, handeln o h n e Rücksicht auf den Erfolg und ohne persönliches Interesse an
ihrem Tun. Man darf, occidental ausgedrückt, dem eigenen Handeln gegenüber nur die
Fichtesche “kalte Billigung” seiner Richtig-
1
) III, 26.
2
) IX, 30.
3
) XII, 3.
4
) VII, 21, 23.
201
Hinduismus und Buddhismus. [200]
keit, am Dharma gemessen, haben. Dann ist man wahrhaft weltindifferent, also welt-
entronnen und dadurch karmanfrei.
Das jedem Occidentalen Auffallende an dem Heiland Krischna und das, was ihm von
den späteren, durchweg von der Sektentheologie als sündlos hingestellten Heilanden
scheidet, ist seine ganz unbezweifelbare und auch unbezweifelte Untugendhaftigkeit.
Die allerärgsten und unritterlichsten Verstöße gegen Treu und Glauben gibt er im Ma-
habharata seinem Schützling ein: Darin zeigt sich wohl zunächst das relativ hohe Alter
und die episch - heroische, nicht astrale (sonnengöttliche) Herkunft dieser Figur, deren
vom alten Heldenepos geprägte ge nun einmal nicht fortretouchiert werden konnten.
Die Heilslehre fand sich mit der Tatsache dadurch ab, daß sie einerseits die Worte,
nicht die Taten, für das allein Wesentliche erklärte, andererseits die Weltindifferenz
auch darauf bezog: das nun einmal vom Schicksal (in der orthodoxen Vorstellung:
letztlich durch Karman) unerforschlich Bestimmte geschieht und es gilt, wenigstens für
einen Gott, gleich, auf welchem Wege.
Offensichtlich ist die innerweltliche Ethik des Bhagavadgita “organisch” in einem wohl
kaum noch zu überbietenden Sinn: die indische Toleranz” ruht auf dieser absoluten
Relativierung aller ethischen und soteriologischen Gebote. Sie sind organisch relati-
viert nicht nur nach der Kastenzugehörigkeit, sondern auch nach dem Heilsziel, wel-
ches der Einzelne erstrebt. Und es handelt sich nicht nur um negative Toleranz; son-
dern: 1. um positive - nur relative und abgestufte - Schätzung der entgegengesetztesten
Maximen des Handelns, 2. um Anerkennung der ethischen Eigengesetzlichkeit, des
gleichmäßigen Eigenwerts der einzelnen Lebensgebiete, welcher daraus folgen mußte,
daß sie alle gleichmäßig entwertet waren, sobald es sich um die letzten Probleme der
Erlösung handelte. Daß diese Universalität des organischen Relativismus nichts nur
Theoretisches, sondern tief in das Gefühlsleben eingedrungen war, lehren die Doku-
mente, welche der Hinduismus aus der Zeit seiner Herrschaft hinterlassen hat. In der-
sogen. Kanawsa - Vers-Inschrift des Brahmanen Sivagana
1
) beispielsweise schenkt
dieser zwei Dörfer zum Unterhalt einer von ihm gebauten Eremitage. Er hat durch sei-
ne Gebetskraft seinem König geholfen, ungezählter Feinde Herr zu werden und sie ab-
zuschlachten: die Erde dampft in
1
) Ind. Art. XIX, 1890, S. 61 (aus dem 8. Jahrh. nach Chr.).
202
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [201]
diesen Versen, wie üblich, von Blut. Dann aber baute er frommen Sinnes dieses
Haus, auf welches seine Augen wendend ein Jeder in der Welt von dem Makel des Ka-
li - Zeitalters befreit wird”. Er tat dies, weil er fand, daß das Leben belastet ist mit jeg-
licher Art von Leid, mit Alter, Trennung und Tod, und daß diese Art der Verwendung
der einzige gute, allen Guten in der Welt bekannte Gebrauch des Reichtums sei. Er
baute es”, heißt es in den folgenden Versen weiter, in der Jahreszeit, in welcher der
Wind den Duft der Açoka-Blüten trägt und die Mango - Schößlinge sprießen.
Schwärme schwankender Bienen erfüllen alles rundum und mehr als sonst erzählt das
Blitzen aus den Augenwinkeln schöner Frauen von ihrer Liebe. Das Zeichen, das Liebe
auf ihren runden Busen prägte, enthüllt sich und ihr Leib sprengt das Mieder, wenn sie,
verwirrt, auf Schaukeln sitzen Angesicht in Angesicht mit ihrem Geliebten. Lächelnd
schlagen sie hastig ihre halbgeschlossenen Augen nieder und nur das Zucken ihrer
Brauen verrät die Freude, die in ihrem Herzen lebt. Die Frauen der Wallfahrer aber se-
hen das Land leuchten von Mango - Bäumen und hören es tönen vom Summen trunke-
ner Bienen. Und ihnen kommen die Tränen.Es folgt die Aufzählung der Abgaben für
Weihrauch und andere Bedürfnisse der Eremitage und ihre Deckung. Man sieht, hier
kommt alles, was das Leben enthält, zu seinem Recht. Die wilde Kriegswut des Hel-
den, dann die Sehnsucht nach Erlösung vom immer neuen Trennungsschmerz, aus dem
das Leben sich zusammensetzt, die Stätte der Einsamkeit r die Meditation und wie-
der die strahlende Schönheit des Frülllings und das Glück der Liebe. Dies alles
schließlich hineingetaucht in die resignationsgetränkte wehmütige Traumstimmung,
welche der Gedanke des Maya - Schleiers erzeugen mußte, in den ja schließlich alles:
diese unwirkliche und vergängliche Schönheit ebenso wie das Grausen des Kampfes
der Menschen untereinander, verwoben war. Diese hier in einem offiziellen monumen-
talen Dokument
1
) niedergelegte Stellung zur Welt durchzieht letztlich auch die charak-
teristischen Teile der indischen Literatur. Realität und Magie, Handlung, Räsonnement
1
) Die Inschrift steht damit keineswegs allein. Auch in einer Stiftungsurkunde (Ep. Ind. I, S. 269 f.),
durch welche die Kaufleute und Händler einer Stadt ein Kloster stiften für einen Çiva - Asketen,
der “suchend das höchste Licht des Gottes, frei von der Finsternis der Leidenschaft, nie dem Gift
sinnlicher Freude unterworfen war”, wird als Vergleich (v. 69 -70) das Bild junger schöner Frau-
en werwendet, welche beim Baden von Liebe zu einem Prinzen ergriffen werden.
203
Hinduismus und Buddhismus. [202]
und Stimmung, geträumte Gnosis und scharf bewußtes Fühlen gehen miteinander und
ineinander, weil alle letztlich gleich unwirklich und unwesenhaft bleiben gegenüber
dem allein realen göttlichen Wesen. -
Mit diesem auf religiöser Weltentwertung gegründeten Universalismus und organi-
schen Relativismus der Weltbejahung” befinden wir uns auf dem eigentlichen Boden
der klassischen indischen Literatenanschauung, wie sie die Intellektuellenschicht der
alten Adels- und Kleinfürsten - Epoche geschaffen hatte. Neben ihr aber gab es
zweierlei andere Formen des Religiösen. Zunächst, und zwar von jeher, jene massive
volkstümliche Orgiastik, welcher die Intellektuellen die r verschlossen hatten, und
die sie als ein Pudendum verabscheuten und verachteten oder die sie ignorierten, wie
sie es nach Möglichkeit noch bis in die Gegenwart hinein taten. Alkoholische, sexuelle
und Fleischorgien, magischer Geisterzwang und persönliche Götter, lebende und apo-
theosierte Heilande und brünstige kultische Minne zu persönlichen Nothelfern, welche
als Fleischwerdung großer erbarmender Götter galten, waren hier zu Hause. Wir sa-
hen, daß die Bhagavata - Religion, obwohl in ihrer Struktur noch innerhalb der vor-
nehmen Schicht heimisch, doch schon weitgehende Konzessionen an den Heilands-
glauben der Laien und ihr Bedürfnis nach Gnade und Nothilfe enthielt und werden spä-
ter sehen, wie unter stark veränderten Machtverhältnissen die herrschende Intellektuel-
lenschicht sich genötigt fand, jene viel weitergehenden Kompromisse mit diesen plebe-
jischen Formen der Frömmigkeit zn schließen, welche die Quelle der spezifisch un-
klassischen hinduistischen Sekten und namentlich der vorherrschenden Vischnu- und
Çiva - Religiosität des Mittelalters und der Neuzeit waren. Vorher aber haben wir uns
noch zwei religiösen Erscheinungen zuzuwenden, welche in allem Wesentlichem auf
dem Boden der alten Intellektuellenschicht gewachsen waren, aber von dem Brahma-
nentum als nicht nur unklassisch, sondern als ärgste und verwerflichste Ketzereien be-
kämpft, verflucht und geht wurden: einem Tiger zu begegnen, hi es, sei besser als
diesen Ketzern, weil er nur den Leib, sie aber die Seele verderben. Die beiden Glau-
bensformen sind rein geschichtlich deshalb wichtig, weil es ihnen während mehrerer
Jahrhunderte gelang, - dem Buddhismus zeitweise in ganz Indien, dem Jainismus in be-
trächtlichen Teilen Indiens, als herrschende Konfessionen anerkannt zu
204
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [203]
werden. Dies war nur vorübergehend. Aber die eine von ihnen: der Buddhismus, ent-
wickelte sich, wenn er auch in Indien - wenigstens in Vorderindien - wieder völlig ver-
schwand, zu einer Weltreligion, deren teilweise die Kultur umlzender Einfluß von
Ceylon und Hinterindien über Tibet bis nach Sibirien reichte und China, Korea und Ja-
pan einschl. Die andere: der Jainismus, blieb im wesentlichen auf das klassische In-
dien beschränkt und schrumpfte zu einer heute ziffernmäßig kleinen Sekte ein, welche
jetzt von den Hindus als zu ihrer Gemeinschaft gehörig reklamiert wird. Sie bietet im-
merhin aber gerade in unseren Zusammenhängen ein gewisses Interesse dadurch, daß
sie eine ganz spezifische Kaufmannssekte ist, so exklusiv und noch exklusiver als die
Juden es im Occident waren. Hier also scheinen wir auf eine dern Hinduismus sonst
offensichtlich gänzlich fremde positive Beziehung einer Konfession zum ökonomi-
schen Rationalismus zu stoßen. Der Jainismus
1
) ist von den beiden Konfessionen, wel-
che in schärfster Konkurrenz miteinander standen und beide in der klassischen Kscha-
triya - Zeit im 7. und 6. vorchristlichen Jahrhundert entstanden, die ältere und aus-
schließlicher indische und wir wenden uns auch aus sachlchen Zweckmäßigkeits-
gründen der Darstellung ihm zuerst zu.
Wie zahlreiche andere Heilslehrer der klassischen Zeit, so entstammte nach der Ueber-
lieferung auch der Stifter der Jaina - Askese, Iñatriputra (Nataputta), genannt Mahavira
(gestorben um 600 vor Chr.), dem Kschatriya - Adel. Die ursprüngliche Herkunft der
Sekte aus dem alten vornehmen Intellektuellentum drückt sich noch in der Versiche-
rung der rezipierten Biographie
2
) aus: daß Arhats (Heilige) stets aus königlichem Ge-
schlecht reiner Abkunft und niemals aus niederen Familien stammten. Auch nicht, wird
hinzugesetzt, aus Brahmanenfamilien
3
). Darin drückt sich der von Anfang an schroffe
Gegensatz des aus Laienkreisen stammenden Sramana gegen die vedisch - brahmani-
sche
1
) Aus der neuerdings ziemlich reichen Literatur ist recht schätzenswert: Mrs. Sinclair S t e v e n -
s o n , The Heart of Jainism. Die monumentalen Hauptsquellen bietet Guérinots Epigraphia Jai-
nae (Publications de 1'École française de 1'Extrème Orient X, 1908). Einige der wichtigsten Su-
tras liegen in den Sacred Books of the East (Gaina Sutras, von Jacobi) übersetzt vor. Andere Lite-
ratur ist an gegebener Stelle zitiert.
2
) Im Kalpa Sutra, übersetzt in den Sacred Books of the East p. 17 ff.
3
) Nach dem Kalpa Sutra (S. 22) wurde Mahaviras Embryo deshalb durch ein Wunder aus dem Leibe
seiner brahmanischen Mutter in den einer Kschatriya - Mutter überführt.
205
Hinduismus und Buddhismus. [204]
Bildung aus. Die Ritualgebote und Lehren der Veden ebenso wie die heilige Sprache
werden schroff abgelehnt. Denn sie sind von nicht der geringsten Bedeutung für das
Heil, welches vielmehr allein von der Askese des Einzelnen abhängt. In den allgemei-
nen Voraussetzungen: daß die Erlösung in der Befreiung vom Rade der Wiedergebur-
ten bestehe, und daß sie nur durch Loslösung von dieser Welt der Vergänglichkeit, des
innerweltlichen Handelns und des am Handeln haftenden Karman zu erlangen sei,
stand die Lehre völlig auf klassischem Boden: Sie akzeptierte - im Gegensatz zum
Buddhismus - im wesentlichen die klassische Atman - Lehre
1
), li aber, ebenso wie
die alte Samkhya - Doktrin, das Brahman, die göttliche Weltseele, ganz beiseite. Hete-
rodox war sie vor allem wegen der Ablehnung der Veda -Bildung und des Rituals so-
wie des Brahmanentums. Denn der absolute Atheismus der Lehre, die Verwerfung je-
der höchsten Gottheit und des gesamten hinduistischen Pantheon
2
), wäre kein unbe-
dingt zwingender Grund dafür gewesen, da auch die sonstige alte Intellektuellen - Phi-
losophie, vor allem die Samkhya - Lehre dem, wie wir sahen, zuneigte. Freilich ver-
warf der Jainismus auch alle orthodoxe Philosophie, die Vedanta nicht nur, sondern
auch die Samkhya - Doktrin. Dennoch stand er der letzteren nahe in gewissen meta-
physischen Voraussetzungen. So namentlich zu der Ueberzeugung vom Wesen der
Seele. Alle Seelen - das heißt die eigentlichen, letzten Ich - Substanzen sind nach ihm
dem Wesen nach einander gleich und ewig. Sie und nur sie, nicht eine absolute, göttli-
che Seele, sind jiva”, Träger des Lebens. Und zwar sind sie (im scharfen Unterschied
gegen die buddhistische Lehre) eine Art von Seelen - Monaden, die unendlicher Weis-
heit (Gnosis) fähig sind. Die Seele” ist nicht ein bloß passiv empfangender Geist, wie
bei der orthodoxen Bhagavata - Religion, sondern, dem weit stärker ausgeprägten Zu-
sammenhang mit der alten aktiven Selbstvergottungs - Askese entsprechend, ein akti-
ves Lebensprinzip, dem als Gegensatz (ajiva) die Trägheit der Materie gegebersteht.
Der Leib als solcher ist das Uebel. Der Zusammenhang mit der Kasteiungs - Magie
blieb beim Jainismus, innerhalb der durch seine
1
) Die Existenz der Seele wurde scholastisch - ontologisch mittelst des Saptabhangi Nyaya: der
Theorie, daß jede Behauptung siebenfach verschieden gemeint sein könne, bewiesen.
2
) Der spätere Jainismus hat zahlreiche einzelne Gottheiten des orthodoxen Hinduismus - u. a. die
Kindergottheit (Ep. Ind. II, S. 315/ 6) - übernommen.
206
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [205]
intellektualistische, also antiorgiastische Herkunft gegebenen qualitativen Schranken,
enger als bei irgendeiner anderen Erlösungsreligion Indiens. Dies drückt sich schon
darin aus, daß der Jainismus anstatt der gänzlich entthronten Götterwelt die gren
Virtuosen der Askese, der Stufenfolge nach: den Arhat, Jina, und als höchsten: den
Tirthankara, bei Lebzeiten als Magier und nach dem Tode als exemplarische Nothelfer
göttlich verehrte
1
). Von insgesamt 24 Tirthankaras war nach der Legende Parsvanatha
(angeblich im 9. vorchristlichen Jahrhundert) der vorletzte, Mahavira aber der letzte.
Das prophetische Zeitalter” ist mit ihnen geschlossen. Nach ihnen hat niemand mehr
die Stufe der Allwissenheit und auch nicht mehr die vorletzte Stufe (manahparyaya) er-
reicht. Denn wie die Qualität der brahmanischen Gnosis sich in Stufen steigert, so stuft
sich das jainistische Charisma nach dem Kalpa Sutra
2
) ständisch siebenfach ab je nach
den Stufen des Wissens: von der Kenntnis der Schriften und heiligen Traditionen zur
Stufe der Erleuchtung über die Dinge dieser Welt (Avadhi): der ersten übernatürlichen
Wissensstufe, sodann zur Fähigkeit des Schauens (Hellsehens), dann zum Besitz magi-
scher Kräfte und der Fähigkeit der Selbstverwandlung, dann (5. Stufe) zur Kenntnis
der Gedanken aller Lebewesen (manahparyaya: der zweiten übernatürlichen Wissens-
stufe), weiter zur absoluten Vollkommenheit, Allwissenheit (kevala, höchste
übernatürliche Wissensstufe) und Freiheit von allen Leiden (6. 5tufe) und damit
endlich (7. Stufe) zur Gewißheit der letzten Geburt”. Von der Seele des vollkommen
Erlösten sagt daher das Acharanga Sutra
3
), daß sie, qualitätlos, körperlos, tonlos,
farblos, geschmacklos, gefühllos, ohne Auferstehung, ohne Kontakt mit der Materie,
wissend und wahrnehmend ohne Analogie” (also: bildlos und unmittelbar), ein
unbedingtes” Dasein führen werde. Wer im Leben die rechte intuitive Erkenntnis
erlangt hat, sündigt nicht mehr. Er sieht, wie Mahavira, alle Götter zu seinen Füßen, ist
allwissend. Mahaviras (irdischer)
1
) Diese Exklusivität der Heroolatrie wurde von den Vertretern der Orthodoxie noch in der Spätzeit,
welche doch die Inkarnationen orthodoxer tter kannte, als spezifisch unklassisch und barba-
risch empfunden. “Wie kann der Arhat, der nur zufällig zur Erde kam und durch Tugend Glück
erhielt, mit Çiva verglichen werden ?” läßt eine Inschrift (Ep. Ind. V, S. 255 aus dem 12./ 13.
Jahrhundert) ein gefeiertes Schulhaupt des 11. Jahrhunderts im Religionsgespräch gegen die Jaina
ausrufen.
2
) A. a. O. S. 138 ff.
3
) I, 5, 6.
207
Hinduismus und Buddhismus. [206]
End - Zustand, in den der vollendete Asket eingeht, wird auch
1
) Nirvana” (in diesem
Fall = dem späteren jivanmukti) genannt. Dieser Zustand des jainistischen Nirvana be-
deutet aber - wie Hopkins zutreffend bemerkt hat - im Gegensatz zum buddhistischen
nicht Erlösung von der Existenz” überhaupt, sondern: “Erlösung vom Leibe”, der
Quelle aller Sünden und Begierden und aller Begrenztheit der geistigen Kräfte. Man
sieht sofort klar die geschichtliche Beziehung zur wunderkräftigen Magie. Daher ist
zwar das Wissen auch bei den Jaina das höchste - in Wahrheit: das magische - Mittel
der Erlösung, wie bei allen klassischen Soteriologien. Der Weg aber, es zu erlangen,
ist neben Studium und Meditation in höherem Grade als bei anderen Literatensekten
und ähnlich wie bei den Magiern: die Askese. Sie ist bei ihnen geradezu auf die äußer-
ste Spitze getrieben: die höchste Heiligkeit erlangt, wer sich zu Tode hungert
2
). Im
ganzen aber ist sie gegeber der alten primitiven Magier - Askese im Sinne der
Weltabkehr” spiritualisiert. Hauslosigkeit” ist der grundlegende Heilsbegriff. Sie be-
deutet Abbruch aller Weltbeziehungen, also vor allem Indifferenz gegen Sinnesein-
drücke und Vermeidung alles Handelns nach weltlichen Motiven
3
), Aufhören
üherhaupt zu handeln
4
), zu hoffen und zu wünschen
5
). Ein Mann, der nur noch fühlt
und denkt: Ich bin Ich”
6
) ist hauslosin diesem Sinn. Er sehnt sich weder nach dem
Leben noch nach dem Tod
7
), - weil beides Begierde” wäre, die Karman wecken kann
-, hat weder Freunde noch verhält er sich ablehnend zu Handlungen Anderer ihm ge-
genüber (z. B. zu der üblichen Fußwaschung, die der Fromme am Heiligen vollzieht
8
).
Er handelt nach dem Grundsatz, daß man dem Uebel nicht widerstehen solle
9
) und daß
sich der Gnadenstand des Einzelnen im Leben im Ertragen von Mühsal und Schmerzen
zu bewähren habe. Die Jaina waren daher von Anfang an nicht
1
) Acharanga Sutra II, 15.
2
) Fälle sind inschriftlich bezeugt: Ep. Ind. III, S. 198 (12. Jahrh.): ein Heiliger hat sich in Gegenwart
der Gemeinde zu Tode gehungert. Ep. Ind. V, 152: ein Prinz aus dem Gangestal, der nach gren
Kriegszügen Jaina - Asket wurde (10. Jahrhundert) tut das gleiche.
3
) Ach. S., I, 4, 1.
4
) I, 2, 2.
5
) I, 2, 4.
6
) Ebenda I, 6, 2: Gegensatz, gegen das Tat tvam asi der Upanischaden.
7
) Ebenda, I, 7, 8.
8
) Ebenda, II, 2, 13.
9
) Ebenda, II, 16.
208
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [207]
eine Gemeinschaft von einzelnen, im Alter oder temporär sich dem Asketenleben hin-
gebenden Weisen. Und auch nicht einzelne Virtuosen lebenslänglicher Askese. Auch
nicht bloß einer Vielheit einzelner Schulen und Klöster. Sondern ein besonderer Orden
von Berufsmönchen”. Sie haben vielleicht zuerst, jedenfalls aber von den älteren vor-
nehmen Intellektuellenkonfessionen am erfolgreichsten, die typische zwiespältige Or-
ganisation der hinduistischen Sekten: die Mönchsgemeinschaft als Kern, die Laien
(upasaka, Verehrer) als Gemeinde unter der geistlichen Herrschaft der Mönche, durch-
geführt. Die Aufnahme des Novizen in die Mönchsgemeinschaft erfolgte in der klassi-
schen Zeit unter einem Baum
1
) nach Ablegung aller Juwelen und Gewänder als Zei-
chen des Verzichts auf allen Besitz durch Ausraufen der Haare und Beschmieren des
Kopfes und endete mit der Mitteilung der Mantra (magischen und soteriologischen
Formel) ins Ohr des Novizen durch den Lehrer
2
). Die Strenge der Weltflucht scheint
gewechselt zu haben. Nach der Ueberlieferung müßte sie zunächst immer weiter ge-
steigert worden und entweder die absolute Besitzlosigkeit oder die unbedingte
Keuschheit - es ist streitig, welche von beiden - erst nächträglich als absolutes Gebot
eingeführt worden. sein. Indessen da diese nachträgliche Einhrung dem Mahavira
zugeschrieben wird, im Gegensatz zu den milderen Geboten des vorletzten Tirthanka-
ra, ist sie eben mit der Stiftung des Mönchsordens selbst identisch. Eine dauernde
Spaltung des Ordens durch Neuerungen entstand zuerst im 1. Jahrh. unserer Zeitrech-
nung, als ein Teil der Mönche die Forderung absoluter Unbekleidetheit mindestens der
heiligen Lehrer durchführten, ein anderer, und zwar die Mehrheit, sie ablehnte
3
). Da
die Gymnosophisten in vielen Punklen ihres Rituals die archaistischere Praxis haben,
auch von den hellenischen Schriftstellern erwähnt werden - sie disputierten mit den
hellenischen Philosophen - und da ihr späterer Name den indischen Quellen ursprüng-
lich allein bekannt gewesen, der Name Jaina” dagegen ngeren Ursprungs zu sein
scheint, so handelte es sich in diesem Fall wohl um eine Akkommodation der Mehrheit
der Mönchsgemeinschaft an die
1
) Auch ein Symptom hohen Alters des Ordens.
2
) Wie alt dieser später für alle indischen Sekten typische Brauch ist, dürfte schwerlich feststellbar
sein.
3
) Das Schisma führte zu einer völligen Trennung auch der kanonischen Literatur beider Teile und zu
Sonderkonzilien.
209
Hinduismus und Buddhismus. [208]
Welt im Interesse der Erleichterung der Propaganda, die denn auch in den folgenden
Jahrhunderten die stärksten äußeren Erfolge hatte. Die Gymnosophisten trennten sich
mit dem Anspruch, daß nur sie die eigentlichen Nirgrantha” (Fesselfreien) seien, als
Digambara” (in die Weltweite gekleidet) von dem Rest, den Swetambara” (Weißge-
kleideten), und zogen die Konsequenz, die Weiber von der Möglichkeit der Erlösung
ganz auszuschließen. Eine weitere Spaltung entstand, als das Beispiel des Islam hier,
wie einst in Byzanz, den Kampf gegen die Idole in die Gemeinde trug und eine bilder-
feindliche Sekte entstand. Die Swetambara - Sekte umfaßte naturgemäß die Masse der
Jaina, die Digambara hat im 19. Jahrhundert die englische Polizei aus der Oeffentlich-
keit verscheucht.
Die klassischen Jaina - Regeln erlegten dem Mönch, damit er vor jeder Verstrickung in
persönliche oder örtliche Beziehungen und Attachements bewahrt werde, die Pflicht
ruhelosen Wanderns von Ort zu Ort auf. Eine peinliche Kasuistik regelte die Art seines
Bettelns so, daß die völlige Freiwilligkeit des Gebens und die Vermeidung jeden Kar-
man erzeugenden Handelns des Gebers (für welches dann der Mönch verantwortlich
gewesen re) gesichert schien. Der Mönch soll, um alles Handeln zu meiden, tun-
lichst nur von dem leben, was die Natur freiwillig im Ueberfluß bietet oder was beim
Haushalter” (Laien) ohne eine darauf gerichtete Absicht überflüssig vorhanden, also
insofern der Naturgabe ähnlich ist
1
). Das Gebot der wandernden Heimatlosigkeit trug
naturgemäß dazu bei, dem Orden eine gewaltige missionierende Kraft einzuflößen. Die
Propaganda wurde überdies geradezu empfohlen
2
). - In völliger Umkehrung des Wan-
dergebots r die Mönche schärft dagegen die Regel r die Laien die Gefährlichkeit
des Reisens ein: denn dadurch geraten sie in Gefahr, unkontrolliert und unwissend wie
sie sind, in Sünden zu verfahen. Das uns schon bekannte hinduistische Mißtrauen ge-
gen den Ortswechsel, wenigstens jeden Ortswechsel ohne Be-
1
) Massenhafte Einzelvorschriften in allen Jaina Sutras. Nicht nur alle gute Nahrung und Wohnung
m abgelehnt werden (Ach. Sutra I, 7, 2), sondern es m auch vermieden werden, daß der
Haushalter entweder aus Uebereifer, (I, 8, 1) oder umgekehrt, weil der nch schmutzig ist und
stinkt (II, 2, 2), irgend etwas eigens für den Bettelmönch herrichtet: denn daran haftet Karman.
Die “Regeln für Yatis(Lehrer) schärfen daher auch besonders ein, den Laien nicht zu fragen, ob
er dieses oder jenes Objekt habe, denn er nnte es sich im Eifer auf unrechtem Wege verschaf-
fen.
2
) Ach. Sutra I, 6, 5.
210
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [209]
gleitung durch kontrollierende Seelsorger, wurde dadurch bei den Jainas auf die Spitze
getrieben. r jegliche Reise mußte der Guru die Erlaubnis und die Instruktionen ge-
ben, die Reiseroute und höchste Reisedauer sowie das erlaubte Höchstmder Reise-
ausgaben vorher genau feststellen. Diese Vorschriften sind charakteristisch für die
Stellung der Jaina - Laien überhaupt. Sie waren schlechthin unmündig und wurden
durch Inspektionsreisen des Klerus und der Sittenwächter unter Kirchenzucht gehalten.
Der neben der rechten Erkenntnis” zweite “Edelstein” des Jaina: die “rechte Ein-
sicht”, bedeutete für den Laien blinde Unterordnung unter die Einsicht des Lehrers.
Denn im Gegensatz zu der immerhin weitgehenden organischen” Relativierung im or-
thodoxen Hinduismus gibt es in der klassischen Jaina - Soteriologie nur ein absolutes
Heilsziel und also nur eine Vollkommenheit, der gegeber alles Andere nur Halbheit,
Provisorium, Unreife und Minderwertigkeit ist. Das Heil wird stufenweise , erreicht -
nach der verbreitetsten Jaina -Lehre nach 8 Wiedergeburten, gerechnet von der Zeit an,
zu welcher man auf den rechten Pfad gelangt ist. Auch der Laie also soll täglich eine
bestimmte Zeit (48 Minuten) meditieren, mbestimmte Tage (4 mal monatlich meist)
die volle Mönchsexistenz hren und außerdem es auf sich nehmen, bestimmte Tage
besonders streng zu leben, das Dorf an ihnen nicht zu verlassen und nur eine Mahlzeit
zu sich zu nehmen. Das Laien - Dharma konnte eben nur eine möglichste Annäherung
an das Mönchs - Dharma bedeuten wollen. Vor allem also: der Laie soll die ihm oblie-
genden Pflichten durch besonderes Gebde auf sich nehmen. Die Jaina - Konfession
gewann dadurch den typischen Charakter einer Sekte”, in die man besonders aufge-
nommen Wurde.
Die Disziplin der Mönche war streng. Der Acharya (Superior) des Klosters
1
), meist
nach dem Alter, ursprünglich aber nach
1
) Auch alle beständig wandernden nche waren, offenbar seit schon langer Zeit, je einem Kloster
zugeteilt, welches sie kontrollierte. Die Bodenverleihungen, ohne welche Klöster auch im Jainis-
mus nicht existieren konnten, wurden hier der Form nach als widerrufliche, periodisch ausdrück-
lich neu zu bestätigende Leihe konstruiert, um die Fiktion der absoluten Freiwilligkeit der Gaben
und der Eigentumslosigkeit aufrecht zu erhalten. (Wie die Inschriften ergeben, vollzogen sich die
Stiftungen meist so, daß der Stifter einen Tempel baute und das Land für den Lehrer stiftete: Ep.
Ind. X, S. 57 aus dem 9. Jahrh.) Dem Rang nach blieb der einsam lebende Sadhu dem Kloster-
mönch gegenüber höher geschätzt. Auch der Upadhaya (Lehrer) stand hinter ihm zurück. Er darf
nur die Texte verlesen, der Acharya hatte darüber hinaus das Recht, sie authentisch zu erklären.
211
Hinduismus und Buddhismus. [210]
Charisma vom Vorgänger designiert oder von der Gemeinde bestimmt
1
), nahm den
Mönchen die Beichte ab und erlegte Buße auf. Der zuständige Klostersuperior
2
) kon-
trollierte das Leben der Laien, welche zu diesem Zweck in Samghas (Diözesen) diese
weiter in Ganas (Sprengel) und diese endlich in Gachchas (Gemeinden) geteilt waren.
Jede Laxheit eines Acharya rächte sich durch magische Uebel, Verlust des Charisma
und namentlich Machtlosigkeit gegen die Dämonen
3
).
Dem materiellen Inhalt der Gebote nach stellte die Jaina - Askese, - der dritte Edel-
stein: die rechte Praxis”, - an die Spitze aller Regeln das Ahimsa”: das absolute
Verbot der Tötung (himsa) lebender Wesen. Bei den Jaina ist das Ahimsa zuerst wohl
unzweifelhaft aus der Ablehnung der, unkonsequenterweise, aus dem alten vedischen
Opferritual von den Brahmanen beibehaltenen Fleischopfer entstanden. Neben der
scharfen Polemik gegen diese vedische Praxis beweist dies gerade auch die unerhörte
Vehemenz, mit der von ihnen dies Gebot des Nichttötens durchgeführt wurde. Der Jai-
na durfte sich selbst das Leben nehmen und sollte es (nach der Ansicht mancher) tun,
wenn er entweder seine heilswidrigen Begierden nicht zu beherrschen vermochte oder
umgekehrt das Heil erreicht hatte
4
). Aber er durfte fremdes Leben auch nicht indirekt
und unwissentlich antasten. Aus dem ursprünglichen antiorgiastischen Sinn des Vege-
tarismus wurde dieses Verbot vielleicht hier zuerst in den Sinnzusammenhang der Ein-
heitlichkeit alles Lebens transponiert. Als der Jainismus in einigen Königreichen offizi-
elle Staatsreligion wurde, mußte eine Akkommodation stattfinden. Zwar lehnen noch
heute korrekte Jaina es ab, in Kriminalgerichtshöfen
1
) In einer Jaina - Gemeinde entstand ein Schisma, weil der von einem Suri designierte Nachfolger
vor diesem gestorben und nun sein Schüler als solcher kraft Charisma die Nachfolge verlangte, die
Gemeinde aber es mit einem anderen hielt (Hoernle, Ind. Ant. XIX, 1890, S. 235 f.).
2
) Ein Acharya, der das Haupt einer Gachchha (Gemeinde) oder Sakha (Schule) war, hi Suri und,
wenn er lehrende Jünger um sich hatte, ganî. Listen von Lehrern der einzelnen Gachchhas sind
inschriftlich erhalten. S. z. B. Ep. Ind. II, S. 36 ff., III, S. 198 ff.
3
) Ein korrekter Acharya heißt Tyagi - Acharya, ein laxer Sithilacharya. In einer Jaina -Chronik
(Hoernle a. a. O. S. 238) schgt eine ttin (Deva) einen Acharya in einem Augenblick sittlicher
Laxheit mit einem Augenübel. Wieder zu Kräften gelangt, bedroht er sie und bekehrt sie zu seiner
Upasaka (Laienschwester), worauf sie ihn - nachdem er ihr überdies Süßigkeiten gespendet hat -
von seinem Augenübel befreit.
4
) Was nach 12 Jahren Askese möglich war.
212
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [211]
zu sitzen, während sie in der Zivilrechtspflege gut verwendbar sind. Aber für das Mili-
tär mußte ein Ventil geschaffen werden, ähnlich wie das alte Christentum es tat. Der
König und die Krieger also durften nach der revidierten Lehre Verteidigungskriege”
führen. Die alte Vorschrift wurde nun dahin uminterpretiert, daß sie r Laien nur die
Tötung schwächerer” Wesen, nicht bewaffneter Feinde, ausschließe. In dieser Form
ist das Ahimsa der Jaina in die äußersten Konsequenzen getrieben worden. Korrekte
Jaina brennen in der dunklen Jahreszeit kein Licht, weil es Motten verbrennen, zünden
kein Feuer an, weil es Insekten töten rde, sieben das Wasser, ehe sie es kochen,
tragen einen Mund- und Nasenschleier, um das Einatmen von Insekten zu hindern
1
),
lassen sorgfältig jede Stelle der Erde, die sie betreten, mit weichen Besen fegen, sche-
ren Kopf und Leib nicht (raufen statt dessen die Haare mit den Wurzeln aus) um nicht
Läuse mit der Scheere töten zu müssen
2
) und gehen nie durch Wasser, um nicht Insek-
ten darin zu zertre- ten
3
). Das Ahimsa hatte zur Folge, daß die Jaina am Betrieb aller
Gewerbe, bei denen Leben gefährdet wurde, also aller derjenigen, die Feuer verwand-
ten, mit scharfen Instrumenten arbeiteten (Holz- oder Steinarbeit), vom Maurergewer-
be und überhaupt von der Mehrzahl aller gewerblichen Berufe sich ausgeschlossen sa-
hen. Gänzlich unmöglich war r sie natürlich der landwirtschaftliche Beruf, vor allem
das Pfgen, welches stets das Leben von Würmern und Insekten gefährdete
4
).
Das nächstwichtigste Gebot für Laien war die Begrenzung des Besitzes. Man sollte
nicht mehr als das Nötige” haben. Das
1
) Man wäre versucht, bei dem bekannten Spottwort vom Mückenseihen”, welches Jesus gegen die
jüdischen Literaten anwendet, eine irgendwie in Vorderasien verbreitete Kenntnis dieser indischen
Praxis vorauszusetzen. Denn eine entsprechende Vorschrift existierte bei den Juden, soviel be-
kannt, nie.
2
) Die höchste Frömmigkeit ist, sich von Insekten peinigen zu lassen, ohne sie zu verscheuchen. Die
großen Tierspitäler der Jaina sind bekannt, am berühmtesten jenes Spital, in welchem (auf Kosten
der Stadt) 5000 Ratten unterhalten wurden (J. R. As. Soc. I, 1834, S. 96).
3
) Die Innehaltung dieser rituellen Vorschrift trug angeblich mit zum Niedergang der Jaina bei. Der
jainistische König Komarpal von Anhilvara verlor Thron und Leben, weil er seine Armee bei Re-
genzeit nicht marschieren lassen wollte.
4
) In dieser Hinsicht ist die Lage der Digambara (Gymnosophisten) und Swetambara verschieden. Die
ersteren stellen, da ihre nchsaskese wesentlich strenger ist, ähnlich den Buddhisten mildere
Ansprüche an die Laien, die bei ihnen dem eigentlichen Heil ohnehin fern bleiben. Ein Teil von
diesen treibt Ackerbau.
213
Hinduismus und Buddhismus. [212]
Gebrauchsvermögen ist in manchen Jaina - Katechismen auf 26 bestimmte Gegenstän-
de beschränkt
1
). Ebenso ist der Besitz von Reichtum überhaupt, über das zur Existenz
erforderliche Maß hinaus, heilsgefährlich. Man soll den Ueberschuß an Tempel oder
Tier - Spitäler hingeben, um sich Verdienst zu schaffen. Und dies geschah in den we-
gen ihrer Wohltigkeits - Anstalten behmten Jaina - Gemeinden im weitesten Um-
fang. Wohlgemerkt: der E r w e r b von Reichtum an sich war keineswegs verboten,
nur das Streben darnach, reich zu s e i n , und das Kleben daran: ziemlich ähnlich wie
im asketischen Protestantismus des Occidents. Wie bei diesem, war die Besitz freu-
de” (parigraha) das spezifisch Verwerfliche, keineswegs der Besitz oder Erwerb an
sich. Und die Aehnlichkeit geht weiter: das bei den Jaina überaus streng genommene
Verbot, Falsches oder Uebertriebenes zu sagen und die absolute Redlichkeit im öko-
nomischen Verkehr, das Verbot jeglicher Täuschung (maya)
2
) und jeglichen unredli-
chen Erwerbs, wozu vor allem jeder Erwerb durch Schmuggel, Bestechung und ir-
gendwelche Arten unsolider Finanzgebarung gehörten (adattu dama) schl die Sekte
einerseits von der typisch orientalischen Beteiligung am politischen Kapitalismus”
(Vermögensakkummulation der Beamten, Steuerpächter, Staatslieferanten) aus und
wirkte andererseits - bei ihnen und bei den Parsen - ebenso wie bei den Quäkern im
Occident gemäß der (frühkapitalistischen) Devise: honesty is the best policy”. Die
Redlichkeit der Jaina Händler war berühmt
3
). Und ebenso ihr Reichtum: es wurde frü-
her behauptet, daß mehr als die Hälfte des Handels Indiens durch ihre Hände gehe
4
).
Daß die Jaina - wenigstens die Swetambara-Jaina - fast durchweg Händler wurden,
hatte, wie wir dies später ebenso bei den Juden sehen werden, rein rituelle Gründe: nur
der Händler konnte das Ahimsa wirklich streng durchhren. Und auch die besondere
Eigenart des Erwerbes war durch rituelle Gründe bestimmt: die - wie wir sahen -
1
) Darunter findet sich freilich als Nr. 21 der Generalposten “das sonst wirklich Nötige”. Bücher z. B.
können nur auf Grund dieses Titels besessen werden.
2
) Wer Täuschung verübt, wird als Weib wiedergeboren.
3
) Im übrigen ist die Pflicht, auch im Salon unbedingt die Wahrheit zu sagen, später insofern tempe-
riert worden, als man zwar nichts Unwahres sagen darf, das Wahre aber, wenn es dem andern un-
angenehm ist, nicht unbedingt sagen m.
4
) Balfours Cyclopaedia of India, s. v. Jain”, Yol. II, S. 403, rechte Spalte, Mitte. Das trifft jetzt
nicht mehr zu.
214
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [213]
bei ihnen besonders starke Perhorreszierung und Erschwerung des Reisens beschränk-
te sie auf den Platzhandel, in erster Linie, wiederum wie die Juden, das Bank- und
Geldleih - Geschäft. Der aus der Wirtschaftsgeschichte des Puritanismus bekannte
asketische Sparzwangwirkte auch bei ihnen im Sinn der Verwertung des akkumu-
lierten Besitzes als Erwerbskapital statt als Gebrauchs- oder Rentenvermögen
1
). Daß
sie dabei in die Schranken des Handelskapitalismus gebannt blieben und keine Organi-
sation des Gewerbes schufen, hatte - außer in den uns schon bekannten Schranken,
welche ihre hinduistische Umgebung mit ihrem Traditionalismus und daneben der pa-
trimoniale Charakter des Königtums dem in den Weg stellte, - wiederum in ihrem ritu-
ell bedingten Ausschlvom Gewerbe und außerdem - wie bei den Juden - ihrer rituel-
len Isolierung überhaupt seinen Grund. Ihre starke Vermögensakkumulation, welcher
das Gebot, nicht mehr als das Nötige” zu behalten (Parigraha viramana vrata) nur ei-
ne sehr elastische Schranke setzte
2
), wurde, wie bei den Puritanern, durch den streng
methodischen Charakter der ihnen vorgeschriebenen Lebensführung benstigt. Mei-
dung von Rauschmitteln, Fleisch- und Honiggenuß, absolute Meidung jeglicher Un-
keuschheit und strenge eheliche Treue, Meidung von ständischem Stolz, von Zorn und
allen Leidenschaften sind bei ihnen wie bei allen vornehmen Hindus selbstverständli-
che Gebote. Nur der Grundsatz: daß jegliche Emotion als solche zur Hölle führt, ist
wohl noch strenger durchgeführt. Und weit schärfer als bei andern Hindus wird bei ih-
nen, auch den Laien, die Warnung vor unbefangener Hingabe an “die Welt” einge-
schärft. Man kann die Verflechtung in Karman
3
) nur meiden durch strengste methodi-
sche Selbstkontrolle und Beherrschtheit, durch ten der Zunge und überlegte Vor-
sicht in allen Lebenslagen. Ihre Sozialethik rechnet zu den Verdiensten
1
) Dies ist es, was als lobha (Geiz) verpönt ist.
2
) Mrs. Sinclair Stevenson (Heart of Jainism) erwähnt das Gelübde eines Jaina aus der jüngsten Ver-
gangenheit: nicht mehr als 45 000 Rupien” erwerben und den Uebersch verschenken zu wol-
len, - wobei offenbar ganz selbstverständlich war, daß er diesen Betrag zu verdienen keine
Schwierigkeiten haben werde.
3
) Karman fte die Jaina - Dogmatik (vgl. das von Jacobi in der Z. D. M. G. 60, 1906 übersetzte
Kompendium Umasvatis) als einen materiellen Giftstoff auf, der durch Leidenschaft erzeugt wer-
de. Es korrespondiert das mit der uns hier nicht weiter interessierenden Theorie von den gröberen
und feineren Leibern, in welche die Seele gehüllt ist und von denen der feinste sie bei der Seelen-
wanderung begleitet: Alles ziemlich archaische Vorstellungen, die für das hohe Alter der Sekte
sprechen.
215
Hinduismus und Buddhismus. [214]
die Speisung der Hungrigen und Durstigen, die Bekleidung der Armen, die Schonung
and Pflege der Tiere, die Versorgung der Mönche (der eigenen Konfession
1
), Lebens-
rettung anderer und Freundlichkeit gegen sie: man soll von ihnen gut denken, ihr Ge-
fühl nicht verletzen, sie durch eigene hohe Moralität und Höflichkeit zu gewinnen su-
chen. Aber man soll sich nicht an andere binden. Die fünf gren Gelübde der Mönche
enthalten neben Ahimsa, Asatya tyaga (Verbot der Unwahrhaftigkeit), Ashaya vrata
(Verbot, etwas zu nehmen, was nicht freiwillig geboten wird), Brahmacharya
(Keuschheit), als nftes: Aparigraha vrata: der Verzicht auf Liebe für irgend jemanden
oder irgend etwas. Denn Liebe weckt Begehren und erzeugt Karman. Es fehlt trotz je-
ner rituellen Gebote gänzlich der christliche Begriffe der Nächstenliebe”. Und dar-
über hinaus sogar etwas, was der Liebe zu Gott” entspräche. Denn es gibt keine Gna-
de und Vergebung, keine Reue, welche die Sünde auslöschte, und kein wirksames Ge-
bet
2
). Der wohlerwogene Heilsvorteil, welchen die Tat dem Täter bringt, ist Leitstern
des Handelns. Das Herz des Jainismus ist leer.”
Aeußerlich angesehen, kann diese Behauptung für die Jaina ebenso wie r die Purita-
ner irrtümlich erscheinen. Denn die Solidarität gerade der Mitglieder der Jaina - Ge-
meinden untereinander ist und war von jeher sehr stark entwickelt. Mit auch darauf be-
ruhte, wie bei vielen amerikanischen Sekten , ihre ökonomische Machtlage, daß die
Gemeinde hinter dem Einzelnen stand, und daß er, wenn er den Ort wechselte, alsbald
wieder bei seiner Sekten - Gemeinde persönlichen Anschlhatte. Allerdings aber war
diese Solidarität ihrem inneren Wesen nach von der spezifischen altchristlichen Brü-
derlichkeit” ziemlich weit entfernt und, ähnlich dem sachlichen Rationalismus der puri-
tanischen Wohlfahrtspflege, mehr ein Ableisten verdienstlicher Werke als Ausflei-
nes religiösen Liebesakosmismus, von welchem der Jainismus vielmehr in der Tat
nichts weiß.
Trotz ihrer strengen disziplinären Unterordnung unter den Mönchsklerus war von jeher
stark im Jainismus der Einflder
1
) Der Konfessionalismus der Jaina war darin stets stark ausgeprägt und kontrastierte mit der sonsti-
gen hinduistischen Gepflogenheit, unterschiedslos die Heiligen aller Art zu beschenken.
2
) Vgl. Mrs Sinclair Stevenson a. a. O. S. 292: “Es wäre Sünde, wenn eine Mutter um Erhaltung des
Lebens ihres Kindes beten würde”. Denn das wäre Begehren und weckt Karman.
216
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [215]
Laien (Çravaka). Ebenso wie die buddhistischen klassischen Schriften wendet sich ihre
Literatur ja an sanskritunkundige Kreise in deren Sprache. Die Laien waren es, - hier
wie im Buddhismus, - welche in Ermangelung anderer Kultobjekte die Hagiolatrie und
die Idolatrie einführten und durch umfassende Bauten und Stiftungen die hieratische
Architektur und das hieratische Kunstgewerbe zu außerordentlicher Blüte brachten
1
).
Sie konnten dies, weil sie wesentlich den besitzenden Klassen, vornehmlich dem Bür-
gertum, angehörten. Gildenvorsteher werden schon in der älteren Literatur als Laien-
vertreter erwähnt, und bis heute sind die Jaina in den westindischen Gilden am stärk-
sten vertreten. Der Laieneinflsteigt heute wieder und äußert sich namentlich in dem
Bestreben, die bisher isolierten Einzelgemeinden über ganz Indien hin zu einer Ge-
meinschaft zu verknüpfen. Die starke Organisation und Verknüpfung der Laien - Ge-
meinde mit den Mönchen war aber von jeher vorhanden und bildete r den Jainismus
- im Gegensatz zum Buddhismus - das Mittel, die Konkurrenz der brahmanischen Re-
stauration des Mittelalters und die islamische Verfolgung zu überdauern
2
).
Auch die Entstehung der Sekte liegt ja dem ersten Aufkommen der indischen Städte
zeitlich nahe. Das rgerfeindliche Bengalen andererseits hat sie am wenigsten rezi-
piert. Aber man hat sich vor der Vorstellung zu hüten: daß sie ein Produkt” des r-
gertums” gewesen sei. Sie entstammte der Kschatriya - Spekulation und der Laien -
Askese. Ihre Lehre: die Anforderungen, welche sie an die Laien stellten, insbesondere
aber ihre rituellen Vorschriften waren als Alltagsreligiosität nur für eine Händlerschicht
dauernd erträglich. Aber sie erlegte auch einer solchen Schicht, wie wir sahen, höchst
lästige Schranken auf, wie sie selbst sie aus ihrem ökonomischen Interesse heraus sich
nie geschaffen oder auch nur ertragen hätte. Hochgekom- men ist die Sekte wohl zwei-
fellos, wie alle hinduistischen orthodoxen und heterodoxen Gemeinschaften, durch die
Gunst von rsten. Und es liegt außerordentlich nahe und wird mit Recht auch ange-
nommen
3
): daß der Wunsch, sich von der lästigen
1
) Wesentliche Teile des buddhistischen hieratischen Bedarfes an Bauten und Paramenten fehlten al-
lerdings den Jaina.
2
) Dazu zu vgl. Hörnle, Presid. Adress 1898 Royal Asiatic Soc. of Bengal und Mrs. Stevenson a. a.
O.
3
) Namentlich von Hopkins a. a. O.
217
Hinduismus und Buddhismus. [216]
Macht der Brahmanen zu befreien, r diese rsten das wichtigste (politische) Motiv
gewesen ist. Die größte Blüte der Jaina - Religion fällt nicht in die Zeit des Aufstieges
des rgertums, sondern gerade in die Zeit abnehmender politischer Städte- und Gil-
den - Macht, etwa vom 3. - 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, - eine Zeit der Blüte
auch r ihre Literatur, - wo sie namentlich auf Kosten des Buddhismus Boden gewan-
nen. Entstanden scheint die Sekte in dem Gebiet östlich von Benares zu sein, von wo
sie nach Westen und Süden wanderte, während sie in Bengalen und auch in Hindostan
schwach blieb. In einigen südindischen und in dem Reich der westlichen Chalukya -
Könige war sie zeitweise rezipierte Staatsreligion. Dort im Westen sind auch bis in die
Gegenwart die Hauptstätten ihrer Pflege geblieben.
Nach der hinduistischen Restauration entging auch der Jainismus in ziemlich weitem
Umfang dem Schicksal der Hinduisierung nicht. In seinen Anfängen hatte er die Ka-
sten ignoriert. Sie haben zu seiner Soteriologie keinerlei auch nur indirekte Beziehung.
Eine Verschiebung erfuhr dies schon, als unter dem Einflder Laien der Tempel- und
Idol - Kult immer größere Dimensionen annahm: Dem genuinen Jaina - Mönch war die
Pflege der Tempel und Idole nicht möglich, da sie Karman wirkte. Ihm ziemte neben
der Beschäftigung mit seiner Selbsterlösung nur die Stellung als Guru und Lehrer. Die
Aufgabe der Pflege der Tempelidole fiel also in die Hände der Laien, und wir finden
die eigentümliche Erscheinung, daß der Tempelkult mit Vorliebe in die Hände von
Brahmanen
1
) gelegt wurde, weil diese r solche Zwecke geschult waren. Die Kasten-
ordnung bemächtigte sich nun der Jaina: In Südindien sind sie vollständig in Kasten
gegliedert, während im Norden die hinduistische Auffassung dazu neigt, sie - dem uns
bekannten Typus entsprechend - a1s eine Sektenkaste zu behandeln, was sie stets
nachdrücklich ablehnten. In den nordwestindischen Städten aber standen sie noch aus
den Zeiten der Gildenmacht her vielfach im Konnubium mit sozial gleichgeordneten,
also vor allem: Händler - Schichten. Die modernen Vertreter des Hinduismus sind ge-
neigt, sie r diesen zu reklamieren. Die Jaina selbst haben auf eigentliche Propaganda
verzichtet. IhrGottesdienst” um-
1
) Naturgemäß, wie bei allen Tempel - Brahmanen, solcher von etwas degradiertem Rang.
218
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [217]
faßt eine Predigt, in der ein Gott” nicht vorkommt, und Auslegung heiliger Schriften.
Ihr Laienglaube scheint
1
) im allgemeinen dahin zu neigen, daß es wohl einen Gott ge-
be, dieser sich aber um die Welt nicht kümmere und sich begnügt habe, zu offenbaren,
wie man sich von ihr erlösen könne. Die Zahl der Bekenner geht, wie eingangs gesagt,
wenigstens relativ zurück.
Diese eigentümlich schwankende Lage der Sekte lag zum Teil in den uns bekannten
hinduistischen Verhältnissen, teils aber auch in ihrer ursprünglichen inneren Eigenart
begründet. Ihre ritualistische Stellung war nicht völlig geklärt und konnte es in Erman-
gelung eines überweltlichen Gottes und einer an seinem Willen verankerten Ethik nicht
sein, nachdem sie die Laiengemeinde einerseits fest mit der Mönchsgemeinde ver-
knüpft, andererseits doch als von ihr streng geschieden konstituiert hatte, ohne ihr doch
ein festes eigenes Ritual zu geben. Und auch in der Heilslehre selbst lagen Unausge-
glichenheiten. Denn sie war widerspruchsvoll insofern, als ihr höchstes Heilsgut ein
nur durch Kontemplation zu erlangender geistiger Habitus, ihr spezifischer Heilsweg
aber Askese war. Zum mindesten neben der Meditation und Kontemplation und ihr je-
denfalls gleichberechtigt standen die radikal asketischen Mittel. Die Magie wurde nie
wirklich ganz abgestreift und die ängstliche Kontrolle der ritualistischen und asketi-
schen Korrektheit vertrat die Stelle einer vollkommenen und geschlossenen Durchra-
tionalisierung im Sinne einer innerlich einheitlichen Methodik, sei es einer rein kon-
templativen Mystik, sei es einer reinen aktiven Askese. Die Jaina selbst haben sich
stets als eine spezifisch a s k e t i s c h e Sekte empfunden, und zwar insbesondere im
Gegensatz gegen die, von eben diesem Standpunkt aus, von ihnen als weltlich” ge-
schmähten Anhänger des B u d d h i s m u s .
Wie der Jainismus und noch deutlicher als er stellt sich auch der Buddhismus dar als
entstanden in der Zeit der Städteentwicklung, des Stadtkönigtums und Stadtadels. Sein
Stifter war Siddharta, der Sakya Simha oder Sakya Muni, genannt Gautama
2
), der
Buddha
3
), geboren in Lumbini im heute nepa-
1
) Nach Gesprächen J. Campbell Omans (Mystics, Ascetics and Saints of India 1903) mit jainisti-
schen Kaufleuten.
2
) Gautama ist der Name des brahmanischen Rischi, von welchem die offenbar seit altem brahmanen-
feindliche Sakya - Sippe abzustammen beanspruchte.
3
) Die Bezeichnung Buddha: der Erleuchtete, war alt. “Pratibuddha” war ein brahmanischer Mönch,
der durch Meditation die Erleuchtung erlangt hatte oder suchte.
219
Hinduismus und Buddhismus. [218]
lesischen Gebiet am Fuß des Himalaya. Seine Flucht aus dem Elternhaus in die Ein-
samkeit, der große Verzicht” (auf die Welt) gilt den Buddhisten als Stiftungszeit des
Buddhismus. Er gehörte der adligen (Kschatriya-) Sippe der Sakya von Kapilavastu an.
Gildevorsteher spielen auch in den alten literarischen Dokumenten der Buddhisten
ebenso wie der Jainisten und erst recht unter inschriftlich erhaltenem Namen von Do-
natoren der buddhistischen Klöster eine hervorragende Rolle. Oldenberg macht darauf
aufmerksam, wie die ländliche Umgebung, Vieh und Weide r die altbrahmanischen
Lehrer und Schulen mindestens der älteren Upanischadenzeit, die Stadt und das Stadt-
schl mit seinem auf Elefanten reitenden König aber r die Buddha - Zeit charakteri-
stisch sind und wie die Dialogform die hereingebrochene Stadtkultur widerspiegelt. In
den ngeren Upanischaden ist all dies freilich schon im Werden. Aus dem literari-
schen Charakter ließe sich hier offenbar ein Altersunterschied nicht leicht ableiten.
Schon leichter aus der sachlich naturgemäßen Aufeinander- und Auseinanderfolge der
Ideen hier und dort. Der alte Buddhismus weiß, wie die Samkya - Lehre und die Jaina
- Sekte, vom Brahman nichts. Im Gegensatz zu beiden lehnt er aber auch das Atman
und überhaupt diejenigen Individualitäts”- Probleme ab, mit welchen die philosophi-
sche Schulsoteriologie sich abgemüht hatte. Dies geschieht teilweise in so pointiert ge-
gen diese ganze Problematik gerichteter Art, daß diese letztere schon voll durchgear-
beitet gewesen sein muß, ehe sie in solcher Weise als nichtig und wesenlos abgetan
werden konnte. Den Charakter als eine ganz spezifische vornehme Intellektuellensote-
riologie trägt er an der Stirn geschrieben, ganz abgesehen davon, daß alle Selbstzeug-
nisse ihn dahin stellen. Die Tradition läßt den Stifter um eine Generation jünger sein
als Mahavira, den Stifter des Jaina - Ordens. Die Angabe ist wahr- scheinlich, weil
nicht wenige buddhistische Ueberlieferungen die Konkurrenz des neuen Ordens gegen
den alten und den Haß der Mitglieder des letzteren gegen die Buddhisten zur Voraus-
setzung haben. Diesen H spiegeln gelegentlich auch jainistische Ueberlieferungen
wider. Er ist außer durch die Konkurrenz an sich auch durch den inneren Gegensatz
des buddhistischen Heilsstrebens gegenüber nicht nur dem klassisch brahmanischen,
sondern gerade auch dem jainistischen begründet.
Der Jaina - Orden ist eine sehr wesentlich a s k e t i s c h e
220
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [219]
Gemeinschaft in dem spezifischen Sinn, den wir mit aktiver Askese” hier verbinden.
Das Heilsziel ist, wie bei aller indischen Intellektuellensoteriologie, die ewige Ruhe.
Aber der Weg ist Weltabkehr und Selbstabtötung durch Kasteiung. Kasteiung aber ist
nicht nur mit äußerster Willensanspannung verknüpft, sondern trägt leicht emotionale
und unter Umständen geradezu hysterische Korisequenzen im Schoße. Sie hrt jeden-
falls nicht leicht zu jenem Gefühl der Sicherheit und Ruhe, welches für eine auf Ablö-
sung von dem Treiben und Sichquälen der Welt gerichtete Heilssuche den entschei-
denden Gefühlswert haben mußte. Diese certitudo salutis” aber: der diesseitige Ge-
nuß der Ruhe der Erlösten, ist ja, pyschologisch angesehen, die von den indischen Re-
ligionen letztlich erstrebte Zuständlichkeit. Der indische Heilsucher will, sahen wir, als
jivanmuktider Seligkeit des weltentronnenen Lebens schon im Diesseits sich erfreu-
en. Es ist r die Beurteilung des alten Buddhismus wichtig, im Auge zu behalten, daß
seine spezifische Leistung es war: diesem und nur diesem Ziele nachgegangen zu sein,
unter rücksichtsloser Beseitigung aller Heilsmittel, die mit ihm nichts zu tun hatten.
Um deswillen hat er ebenso die asketischen Züge, welche der Jainismus trug, gänzlich
ausgemerzt wie alle Spekulationen über irgendwelche Probleme, - diesseitige und jen-
seitige, soziale und metaphysische -, die nicht mit der Erlangung jenes Zieles zusam-
menhingen und ihm dienen konnten. Auch an der Begierde nach dem Erkennen haftet
der echte Heilssucher nicht.
Ueber die Eigenart des primitiven Buddhismus, - sei es, daß darunter die Lehre des
Meisters selbst oder die Praxis der ältesten Gemeinde verstanden werden soll (was r
uns gleichgültig ist) - hat gerade die neueste Literatur eine ganze Reihe ausgezeichne-
ter Arbeiten der Indologen aufzuweisen. Eine Einigung ist nicht in allem erzielt. Für
unsere Zwecke empfiehlt es sich, zunächst den alten Buddhismus nach den zeitlich äl-
testen Quellen
1
) in den für uns wichtigen Punkten systematisch und also im möglichst
geschlossenen Gedankenzusammenhang wiederzugeben, ohne Rücksicht darauf, ob er
wirklich gerade in seinem Geburtsstadium diese rationale Geschlossenheit in vollem
Umfang gehabt hat, was nur die Fachleute entscheiden können
2
).
1
) Es geschieht dies an der Hand der Arbeiten namentlich von H. Oldenberg und Rhys Davids.
2
) Was dabei vor Allem notgedrungen, schon des Raumes wegen, vernachlässigt wird, sind die bei al-
len indischen Intellektuellenphilosophien sehr wichtigen
221
Hinduismus und Buddhismus. [220]
Der alte Buddhismus
1
) ist in fast allen p r a k t i s c h entscheidenden Punkten der
charakteristische Gegenpol des Konfuzianismus sowohl wie etwa des Islam. Er ist die
spezifisch unpolitische und antipolitische Standesreligion oder richtiger gesagt: religiö-
se “Kunstlehre” eines wandernden, intellektuell geschulten, Bettelmönchtums. Er ist,
wie alle indische Philosophie und Hierurgie, Erlösungsreligion, wenn man den Na-
men Religion” auf eine Ethik ohne Gott - oder richtiger: mit absoluter Gleichgültig-
keit gegen die Frage, ob es Götter” gibt und wie sie existieren - und ohne Kultus an-
wenden will. Und zwar ist er, angesehen auf das wie ?” und wovon ?” wie auf das
wozu ?” der Erlösung die denkbar radikalste Form des Erlösungsstrebens überhaupt.
Seine Erlösung ist ausschließ1ich des einzelnen Men-
Beziehungen zur Magie. Eine ganze Anzahl scheinbar soteriologisch - rationaler Grundsätze pflegen
bei ihnen, mindestens ursprünglich, durch magische Bedeutsamkeit bedingt zu sein. Andererseits las-
sen wir auch manche an sich wichtige, rein durch die Macht der Tradition fortwirkende, Einzelzüge
beiseite. So ist die Heiligkeit der Kuh, insbesondere die expiatorische Wirkung des Kuhurins auch in
der buddhistischennchsregel, und jedenfalls seit ziemlich alter Zeit, selbstverständlich.
1
) Nachdem die für die buddhistische Ethik noch immer höchst wertvollen älteren Arbeiten (von Köp-
pen, Kern und anderen) durch das Studinm des Pali - Kanons und die sonstigen, namentlich auch die
monumentalen, Zeugnisse, welche die Geschichtlichkeit der Person des Buddha bestätigten, in einem
Hauptpunkt erledigt waren, wendete sich die Arbeit vor allem der Verwertung des Quellenmaterials
zu. Neben dem älteren grundlegenden Werk von H. Oldenberg (Buddha) geben die Arbeiten von Mr.
und Mrs. Rhys Davids die lesbarsten und zugleich konstruktivsten Zusammenfassungen des seitdem
errungenen Standpunktes. Daneben von kürzeren Darstellungen: die Schriften von P i s c h e l und
von Edv. L e h m a n n , welche weiteren Kreisen zugänglich sind. Populär auch: R o u s s e l , Le
Bouddhisme primitif, Paris 1911 (Bd. I der von Theologen der Dominikaner - Universität Freiburg
herausgegebenen “Religions Orientales”). Wissenschaftliche Gesamtdarstellung jetzt von F. K e r n
in Bühlers Grundriß. Dazu die Darstellungen in den Sammelwerken über vergleichende Religionswis-
senschaft. Einzelzitate an den betreffenden Stellen. Ueber die Dogmatik des Buddhismus de la
V a l l é e - P o u s s i n , Bouddhism (Paris 1909). Dazu das ältere Werk von S é n a r t , Ori-
gines Bouddhiques. Von dem Quellenmaterial zum alten Buddhismus liegt der Pali - Kanon (Tri-
pithaka) in englischer Uebersetzung in den Sacred Books of the East vor. Die Reden und Gedichte
Buddhas (die von der Tradition ihm zugeschriebenen Logia) hat Neumann in hervorragender Art ins
Deutsche übertragen. Einen unmittelbaren Eindruck von der Eigenart altbuddhistischen Denkens lie-
fert vielleicht am besten die Lektüre der Questions of King Milinda” und (schon mahayanistisch
umgebogen) Açvagoschas Buddha Tscharita (beide in den Sacred Books of the East). Einzelzitate an
den entsprechenden Stellen. Zur Einführung sind ferner sehr zu empfehlen die bescheiden als populä-
re Schriften auftretenden, aber auf offenbar ausgebreiteter persönlicher Anschauung beruhenden Dar-
stellungen von H. H a c k m a n n in den “Religionsgeschichtlichen Volksbüchern” (Der Buddhis-
mus I., II. und III. Teil, III. Reihe, Heft 4, 5, 7, Tübingen 1906).
222
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [221]
schen eigenste Tat. Es gibt dafür keine Hilfe bei einem Gott oder Heiland
1
). Vom
Buddha selbst kennen wir kein Gebet. Denn es gibt keine religiöse Gnade. Aber es
gibt auch keine Prädestination. Ausschließlich des eigenen freien Verhaltens Folge ist
ja nach der die Theodizee ersetzenden, vom Buddhismus nicht bezweifelten, Lehre
vom Karman: der universellen Kausalität ethischer Vergeltung; das Jenseitsschicksal.
Und nicht die Persönlichkeit”, sondern der Sinn und Wert der e i n z e l n e n Tat ist
das, wovon die Karman - Lehre ausgeht: es kann keine einzelne weltgebundene Hand-
lung in der sinnvoll ethisch ablaufenden, aber gänzlich unpersönlichen kosmischen
Kausalität verloren gehen. Man könnte glauben, eine Ethik aus diesen Prämissen müs-
se eine solche aktiven Handelns sein, es sei innerhalb der Welt (wie sie Konfuzianis-
mus und Islam, jeder in seiner Art, besitzen), oder in Form asketischer Uebungen, wie
bei seinem Hauptkonkurrenten in Indien, dem Jainismus. Allein beides lehnt der alte
Buddhismus gleichmäßig ab, weil das wovon ?” und das wozu ?” der von ihm ange-
strebten Erlösung beides ausschließt. Denn aus jenen allgemeinen Prämissen der An-
schauungsweise der indischen soteriologisch interessierten Intelligenz zieht die Lehre
des Buddha - wie sie sich schon in der von Rhys Davids geistvoll interpretierten ersten
Ansprache nach der Erleuchtungäußert - nur die letzte Konsequenz, indem sie die
Grundursache aller erlösungsfeindlichen Illusionen in dem Glauben an eine “Seele”
überhaupt als einer perennierenden Einheit aufdeckt. Daraus folgert sie die Sinnlosig-
keit des Haftens an allen und jeden mit dem animistischen” Glauben zusammenhän-
genden Neigungen, Hoffnungen und Wünschen: an allem diesseitigem und, vor allem,
auch jenseitigem Leben. Das alles ist ein Haften an vergänglichen Nichtigkeiten. Denn
ein ewiges Leben” re r das Denken des Buddhismus eine cantradictio in adjecto:
Leben” besteht ja gerade in dem Zusammengeschweißtsein der einzelnen Konfituen-
zien (Khandas) in die Form der selbstbewußten und wollenden Individualität, deren
Wesen ja gerade darin be- ruht: in dem Sinn restlos vergänglich zu sein. Zeitlos lti-
ge” Werte irgend eines I n d i v i d u e l l e n aber anzuerkennen würde dieser - wie
jeder indischen - Denkweise
1
) Denn die Heilands - Qualität des Buddha selbst war erst sekundäres Entwicklungsprodukt. An sei-
ner zwar übernormalmenschlichen, aber nicht ttlichen, nur exemplarischen Qualität bestand in
der ersten Zeit des Ordens offenbar nicht der geringste Zweifel.
223
Hinduismus und Buddhismus. [222]
als eine absurde und lächerliche Vermessenheit, der Gipfel psycholatrischer Kreatur-
vergötterung” (um einen puritanischen Begriff zu gebrauchen) erschienen sein. Nicht
Erlösung zu einem ewigen Leben also, sondern zur ewigen Todesruhe wird begehrt.
Der Grund dieses Erlösungsstrebens ist beim Buddhismus wie bei den Indern über-
haupt nicht etwa Ueberdruß am Leben”, sondern Ueberdruß am Tod”. Das zeigt am
deutlichsten schon die Legende von den Erlebnissen, welche der Flucht des Buddha
aus dem Elternhaus, von der Seite der jungen Frau und des Kindes, in die Waldein-
samkeit vorausgingen. Was nutzt die Herrlichkeit der Welt und des Lebens, wenn sie
unausgesetzt von den drei Uebeln der Krankheit, des Alters und des Todes bedroht ist
? wenn alle Hingabe an die irdische Schönheit nur den Schmerz, und vor allem: die
Sinnlosigkeit der Trennung, einer in einer Unendlichkeit stets neuer Leben immer er-
neuten Trennung, steigert ? Die absolut sinnlose Vergänglichkeit von Schönheit, Glück
und Freude in einer ewig bestehenden Welt ist auch hier das, was die Weltgüter end-
ltig entwertet. r den wenigstens, der stark und weise ist, - und nur r diesen, er-
klärt der Buddha wiederholt, sei seine Lehre. Daraus ergibt sich nun die spezifisch er-
lösungsfeindliche Gewalt. Ein gesinnungsethischer Sündenbegriff ist, wie dem Hindu-
ismus überhaupt, so auch dem Buddhismus, nicht kongenial. Gewiß gibt es für den
buddhistischen Mönch Sünden, auch Todsünden, welche r immer aus der Gemein-
schaft der zu den Zusammenkünften zugelassenen Genössen ausschließen, andere,
welche nur Buße erheischen. Aber bei weitem nicht alles, was die Erlösung hindert, ist
eine Sünde”. Nicht sie ist die letztlich erlösungsfeindliche Macht. Nicht das Böse”,
sondern das vergängliche Leben als solches: die schlechthin sinnlose Unrast alles ge-
formten Daseins überhaupt ist es, wovon Erlösung gesucht wird. Alle “Sittlichkeit”
könnte dafür nur Mittel sein und hätte also auch nur Sinn, soweit sie Mittel dafür ist.
Das ist sie aber letztlich n i c h t . Die Leidenschaft rein als solche, auch r das Gute
und auch gerade in der Form des edelsten Enthusiasmus, ist, weil jedes Begehren”
ans Leben bindet, das schlechthin erlösungsfeindliche. Der H ist das im Grunde
nicht in höherem Grade als alle Arten der Liebe zu Menschen und auch die leiden-
schaftliche aktive Hingabe an Ideale es ebenfalls sind. Unbekannt ist die Nächstenliebe
zum mindesten im Sinn der großen christlichen Brüderlichkeitsvirtuosen. “Wie ein
mächtiger Wind blies
224
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [223]
der Gesegnete über die Welt mit dem Wind seiner Liebe, so kühl und süß, ruhig und
zart”
1
). Nur diese kühle Temperierung gewährleistet ja die innere Loslösung von allem
Durst” nach Welt und Menschen. Der buddhistische mystische, durch die Euphorie
der apathischen Ekstase psychologisch bedingte Liebesakosmismus (maitri, metta), das
unbegrenzte Fühlen” r Menschen und Tiere: so wie die Mutter r ihr Kind, gibt
freilich dem Begnadeten magische seelenüberwindende Macht auch über seine Fein-
de
2
). Aber er bleibt dabei kühl und distant temperiert
3
). Denn letztlich mder Einzel-
ne, wie ein berühmtes Gedicht
4
) des Meisters sagt, einsam wandern wie das Nas-
horn”, - und das heißt auch: dessen harte Haut gegen Gefühle haben. Die Feindeslie-
be” vollends ist dem Buddhismus notwendig ganz fremd. Sein Quietismus konnte sol-
che Virtuosenkraft der Selbstüberwindung nicht, sondern nur das gleichmütige Nicht-
hassen des Feindes und das ruhevolle Gefühl freundlicher Eintracht” (Oldenberg) mit
den Gemeinschaftsgenossen ertragen. Auch dies Gefühl ist nicht rein aus mystischer
Empfindung geboren, sondern getragen auch durch das egozentrische Wissen: daß die
Austilgung auch aller Feindschaftsaffekte der eigenen Erlösung frommt. Die buddhisti-
sche Caritas hat den gleichen Charakter der Unpersönlichkeit und Sachlichkeit, wie er
sich im Jainismus und, in anderer Art, auch im Puritanismus findet. Die eigene certitu-
do salutis, nicht das Ergehen des “Nächsten”, steht in Frage.
1
) So in den gleich zu erwähnenden “Fragen des Königs Milinda” (IV, 1, 12).
2
) Quest. of K. Milinda IV, 4, 16: Wenn ein Buddhist “die volle Liebe” hat, kann niemand ihm Uebles
tun. Selbst physisch nicht. Denn diese Liebe ist allbezwingend. Man wird gut tun, diese Vorstellung -
mindestens in ihrer primären Fassung - nicht im Sinn etwas des Dostojewskischen Starjez Ssossima
oder des Tolstojschen Platon Karatajew zu fassen, obwohl sie gewiß dahin sublimiert werden konnte,
sondern zunächst einfach magisch. Der Besitz des ekstatischen Liebesakosmismus ist eine magische
Qualität. Kommt also, heißt es, ein Buddhist durch Schwert oder Gift um, so hatte er in diesem Au-
genblick dieses Charisma nicht.
3
) Ueber das Wesen der Maitri, die auch im Yoga eine Rolle spielte, hat zwischen Pischel und H. Olden-
berg (Aus dem alten Indien, 1910) eine Diskussion stattgefunden, bei welcher, wie mir scheint, der
letztere im Rechte blieb. “Friedvolles Wohlwollenist ihr Wesen. Auch in der Rangordnung der Lai-
en - Tugenden wird die Wohltätigkeit, wie Oldenberg hervorhebt, ihr gelegentlich vorangestellt. Für
den nch aber wird sie überhaupt nur nebenher erwähnt und auch die Lyrik scheint sie nicht im
entferntesten ähnlich zu durchtränken, wie bei uns in der bernhardinischen und pietistischen Lyrik.
Das “Wissen” ist und bleibt eben der Erlösungsweg.
4
) Es findet sich u. a. in Neumanns zitierter Sammlung der Reden des Gautama Buddha”.
225
Hinduismus und Buddhismus. [224]
Die Erlösung entsteht auch im Buddhismus durch Wissen”. Nicht natürlich im Sinn
der erweiterten Kenntnis irdischer oder himmlischer Dinge. Im Gegenteil forderte der
alte Buddhismus gerade auf diesem Gebiet das äußerste an Unterdrückung des Wis-
sensstrebens: den bewußten Verzicht auf das Forschen nach dem, was nach dem Tode
des Erlösten sein wird, weil die Sorge darum ebenfalls Begehren”: Durst”, ist und
dem Heil der Seele nicht frommt. Den Mönch lukya, der wissen will, ob die Welt
ewig und unendlich sei und ob Buddha nach dem Tode weiter leben werde, verspottet
der Meister: solche Fragen eines Unerlösten seien gerade so, wie wenn jemand, der
todkrank an einer Wunde liege, vom Arzt, ehe er die Wunde behandeln dürfe, zu wis-
sen begehre: wie der Arzt heiße, ob er adlig sei und wer ihm die Wunde zugefügt habe.
Das Forschen über das Wesen von Nirvana galt dem korrekten Buddhismus geradezu
als Ketzerei. Im Konfuzianismus wird die Spekulation abgelehnt, weil sie der diesseiti-
gen Vollendung des Gentleman nicht frommt und, utilitarisch betrachtet, steril ist. Im
Buddhismus: weil sie einen Hang am irdischen verstandesmäßigen Wissen dokumen-
tiert und dies r die jenseitige Vollendung nicht frommt. Sondern das heilbringende
Wissen” ist ausschließlich die praktische Erleuchtung durch die vier großen Wahrhei-
ten über Wesen, Entstehung, Bedingungen und Mittel der Vernichtung des Leidens.
Während der alte Christ das Leiden als asketisches Mittel oder als Martyrium eventuell
sucht, flieht der Buddhist das Leiden unbedingt. Leiden” aber ist mit der Tatsache der
Vergänglichkeit alles geformten Seins rein als solchen gleichgesetzt. Das aus dem We-
sen des Lebens folgende, ebenso aussichtslose wie unvermeidliche Ringen gegen die
Vergänglichkeit: der Kampf um das Daseinim Sinn des Strebens nach Behauptung
der eigenen, von Anfang an doch todgeweihten Existenz: das ist das Wesen des Lei-
dens. Noch späte Sutras der weltfreundlichen Mahayana - Schule operieren mit dem
Nachweis der völligen Sinnlosigkeit eines unvermeidlich in Alter und Tod abschlie-
ßenden Lebens. Diese vom Leiden endgültig befreiende Erleuchtung ist allein durch
Andacht, durch die kontemplative Versenkung in die einfachen p r a k t i s c h e n
Lebenswahrheiten zu erlangen. Das Wissen”, welches jedem Handelnden versagt und
nur einem nach Erleuchtung Strebenden möglich ist, ist also zwar praktischer Art.
Aber es ist dennoch nicht das Gewissen”, - welches ja auch Goethe dem Handelnden
226
M a x W eb e r, Religionssoziologie II.
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [225]
abspricht und nur dem Betrachtenden” zugesteht. Denn der Buddhismus kennt einen
konsequenten Begriff des Gewissens” nicht und kann ihn nicht kennen, schon infolge
der Karmanlehre und seiner darauf beruhenden Ablehnung des Persönlichkeitsgedan-
kens, die er besonders konsequent, etwa in der Art der Machschen Seelen - Metaphy-
sik, durchgeführt hat. Was ist denn das Ich”, mit dessen Vernichtung sich die bisheri-
ge Erlösungslehre ab- müht ? - Auf diese Frage hatten die einzelnen orthodoxen und
heterodoxen Soteriologen verschiedene Antworten gegeben, von der primitiven, je
nachdem mehr materialistischen oder spiritualistischen Anknüpfung an die alte magi-
sche Seelenkraft des Atman (im buddhistischen Pali: attan) bis zu der Konstruktion je-
nes unveränderlich konstanten, aber auch nur rezeptiven, Bewußtseins der Samkhya -
Lehre, welche alles Geschehen ohne Ausnahme der Materie, das heißt: der Welt des
Veränderlichen, zuwies. Der Buddha kehrte von dieser soteriologisch und psycholo-
gisch ihn nicht befriedigenden intellektualistischen Konstruktion zu einer, im Effekt,
voluntaristischen zurück: Aber in neuer Wendung. Neben allerhand Resten primitiverer
Anschauungen findet sich der sinnhafte Kern der neuen Lehre besonders geistreich in
den “Fragen des Königs Milinda”
1
). Die innere Erfahrung zeigt uns überhaupt kein
Ich” und keine Welt”, sondern nur einen Ablauf von allerhand Sensationen, Stre-
bungen und Vorstellungen, welche zusammen die Wirklichkeit” ausmachen. Die ein-
zelnen Bestandteile, so wie sie erfahren werden, sind in der inneren Realität überhaupt
nicht unterschiedslos” (gemeint ist: zu einer Einheit”) verbunden. Hat man das
Schmeckende” z. B. heruntergeschluckt”, so ist es der Substanz nach noch da: -
aber nicht mehr als Schmeckendes”. Und Salz”, d. h. die salzige Geschmacksquali-
tät, ist nicht sichtbar (III, 3, 6). Ein. Bündel von lauter heterogenen Einzelqualitäten
2
)
also wird wahrgenommen, sowohl als äußere Dinge”, wie, vor allen Dingen auch, im
Wege der Selbstbesinnung, als das, was uns als einheitliche
1
) Menander, einer der vorderindischen (indoskythischen) Herrscher der frühbuddhistischen Zeit. Die
Dialogsammlung ist herausgegeben in den Sacred Books of the East (The Questions of King Milinda,
Vol. 35, 36). Inwieweit etwa die aristotelische Entelechielehre eingewirkt haben nnte, ist fraglich.
Doch darf eine weitgehende Originalität des buddhistischen Denkens darin wohl immerhin ange-
nommen werden, da gerade auf diesen Punkt großes Gewicht gelegt wurde.
2
) “Skandhas”. Auch spätere buddhistische Inschriften sprechen von der Seele als von einem “Aggregat
von Bestandteilen (Ep. Ind. IV, S. 134).
227
Hinduismus und Buddhismus. [226]
Individualität” erscheint. Dies der Sinn der Erörterung. Was nun ist es, das die Ein-
heit herstellt ? Wiederum wird von den Außendingen ausgegangen. Was ist ein Wa-
gen? Offenbar nicht irgend einer seiner einzelnen Bestandteile (Räder usw.). Und
ebenso offenbar auch nicht sie alle zusammen, als ble Summe gedacht. Sondern
kraft der E i n h e i t d e s S i n n s aller Einzelteile allein erleben wir das Gan-
ze als Wagen”. Genau ebenso bei der Individualität”. Worin besteht diese? In den
einzelnen Sensationen gewiß nicht. Auch nicht in allen zusammen. Sondern in der Ein-
heit des Zwecks und Sinns, welche diese beherrscht, wie die sinnvolle Zweckbe-
stimmtheit den Wagen. Worin aber besteht bei der Individualität dieser Zweck und
Sinn ? In dem einheitlichen W o l l e n des existierenden Individuums. Und der Inhalt
dieses Wollens ? Die Erfahrung lehrt, daß alles Wollen der Individuen in hoffnungslo-
ser Vielheit auseinander- und gegeneinanderstrebt und nur in einem einzigen Punkt ei-
nig ist: sie alle wollen existieren. Letztlich wollen sie eben g a r n i c h t s anderes
als dieses. All ihr Kämpfen und Tun, wie immer sie es vor sich und anderen illusioni-
stisch einkleiden mögen, hat letztlich nur diesen einen einzigen letzten Sinn: den Wil-
len zum Leben. Er, in seiner metaphysischen Sinnlosigkeit, ist es also, der letztlich das
Leben zusammenhält. Er ist es, der Karman erzeugt. Ihn gilt es zu vernichten, wenn
man dem Karman entrinnen will. Der Wille zum Leben, oder wie der Buddhismus sagt
: der Durst” nach Leben und Handeln, nach Genuß, Freude, vor allem nach Macht,
aber auch nach Wissen oder nach was immer es sei, der ist allein dasprincipium indi-
viduationis”. Er allein macht aus dem Bündel von psychophysischen Vorgängen, wel-
ches die Seele” empirisch ist, ein Ich”. Nach einer Art von (wie wir sagen würden)
Gesetz der Erhaltung der Individuations - Energie”
1
)
1
) Genau so suchen - wie ich zufällig sehe - moderne Buddhisten diese Lehre “wissen-schaftlich” akzep-
tabel zu machen. Vgl. Ananda M a i t r e y a (Animism and Law) in den Public. of the Buddhasa-
sana Samagana (Rangoon 2446 S. 16 unten). Newton habe die animistischen Mythologien in der
Mechanik, Faraday die ganz entsprechenden Vorurteile (Phlogiston) in der Chemie, Buddha in der
Theorie der seelischen Vergänge beseitigt, die genau so gesetzlich (durch Karman bedingt) ablaufen
wie jene. Natürlich aber könnten nicht die von den Vorfahren ererbten, letztlich physisch bedingten
Dispositionen, sondern nur ein besonderes seelisches Agens (der “Durst”) die Tatsache der Neuent-
stehung von seelischem Leben selbst erklären. - Die altbuddhistische Formulierung ist: daß das Ich
vijñanasamtana” sei: ein Komplex oder eine Serie von Bewußtseinsvorgängen, während nach der
orthodoxen Lehre Vijñana,
228
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [227]
wirkt er über das Grab hinaus. Dies Individuum, das dann stirbt, kann freilich nicht neu
erstehen. Auch nicht durch Seelenwanderung”. Denn eine Seelensubstanz gibt es
nicht. Aber der Durst” läßt, wenn ein Ich” im Tode zerfällt, sofort ein neues Ich zu-
sammenschien, belastet mit dem Fluch der unentrinnbaren Karman - Kausalität, die
für jedes ethisch relevante Geschehen einen ethischen Ausgleich verlangt
1
). Durst al-
lein hemmt, rein als solcher, die Entstehung der erlösenden, zur göttlichen Ruhe füh-
renden, Erleuchtung. In diesem spezifischen Sinn wird alles Begehren in jener intellek-
tualistischen Wendung, welche in irgendeiner Form alle Erlösungsreligionen Asiens
auszeichnet, mit Unwissenheit” (Avidya) gleichgesetzt. Dummheit ist die erste, Sinn-
lichkeit und böser Wille sind erst die zweite und dritte der drei Kardinalsünden. Die
Erleuchtung aber ist nicht ein freies göttliches Gnadengeschenk, sondern Lohn unaus-
gesetzter meditierender Versenkung in die Wahrheit, zur Ablegung der großen Illusio-
nen, aus denen der Lebensdurst quillt. Wer dadurch jene Erleuchtung erlangt, der ge-
nit - darauf kommt es an - im
der Gedanke, weil Sitz der Ich - Individualität, als Einheit galt. (Vgl, de la Vallée - Poussin, Journal
Asiat. 9. Ser. 20, 1902).
1
) Diese Konsequenz wird u. a. in den “Questions of King Milinda” (III, 5, 7) gelehrt. Das Karman lastet
auf der i n f o l g e des Handelns und Tuns der untergehenden Individualität entstandenen neuen,
die an sich mit jener alten nichts gemein hat, außer daß sie durch den ungelöschten Durst” jener
nach weiterer Existenz gezwungen wurde, ihrerseits sich zu bilden. Die Konstruktion war geboten,
weil die Karmanlehre als Grundlage alles Leidens und der Existenz selbst ganz außer Frage stand und
es sich nur darum handelte, in deren Rahmen eine befriedigende Konstruktion zu geben. Was denn
eigentlich letztlich der Erlösungsbedürftige für ein Interesse daran habe, das Entstehen eines ihm in
jeder Hinsicht schlechterdings fremden Wesens nach seinem Tode zu hindern, wurde daher gar nicht
gefragt. Schlilich gilt ja aber das gleiche für die, wie alle Dokumente zeigen, so massive Seelen-
wanderungsfurcht der Inder überhaupt. Wirklich streng ist im Buddhismus jener Standpunkt nicht
festgehalten worden. Daß der vor dem Eingehen im Nirvana stehende Erleuchtete allwissend ist und
rückwärts die ganze Reihe seiner Wiedergeburten überschaue, ist eine schon ziemlich frühe buddhi-
stische (und nicht nur buddhistische) Lehre. Vor allem aber findet sich in den literarischen und mo-
numentalen Quellen auch der alten (Hinayana-) Buddhisten die Seelenwanderung ganz in hinduisti-
scher Art - eben als eine “Seelenwanderung” - behandelt. - Was die Karman - Lehre anlangt, so sind
später die Qu. of King Milinda bemüht, fatalistische Konsequenzen hintanzuhalten. Entsprechend
dem Grundsatz, daß die Erörterung unlösbarer metaphysischer Probleme “Durst” und also heils-
schädlich sei, wird gelehrt: niemand wisse, wie weit sich der Einfl des Karman erstrecke. Jedenfalls
sei nicht jegliches Ungemach - etwa ein Splitter im Fuß Buddhas - Folge von Karman. Denn auch die
äußere Natur habe ihre eigene Gesetzlichkeit. - Karman scheint sich also wesentlich auf die soterio-
logischen Interessen der Seele: auf Leben und seelisches Leiden, zu beziehen.
229
Hinduismus und Buddhismus. [228]
D i e s s e i t s die Seligkeit. Hohe Siegesfreude ist daher der Ton, auf den die Hym-
nen des alten Buddhismus gestimmt sind. Der Arhat”, welcher am Ziele der methodi-
schen kontemplativen Ekstase angelangt ist, ist frei von Karman
1
) und hlt sich
2
) er-
füllt von einem starken und zarten (gegenstands- und also begierdelosen) Liebesemp-
finden, frei von irdischem Stolz und pharisäischer Selbstgerechtigkeit, aber getragen
von unerschütter- lichem, die Dauer des Gnadenstandes verbürgendem Selbstvertrau-
en, frei von Furcht, Sünde und Täuschung, frei von Sehnsucht nach der Welt und - vor
allem - nach einem jenseitigen Leben. Er ist dem endlosen Rade der Wiedergeburten
innerlich entronnen, dessen Darstellung in buddhistischen Kunstwerken die christliche
Hölle vertritt. Man könnte in der Rolle, welche das Liebesempfinden” in dieser Schil-
derung des Zustandes des Arhat spielt, einen feministischen” Zug vermuten. Allein
das wäre falsch. Die Erlangung der Erleuchtung ist eine Tat des Geistes und verlangt
die Kraft reiner interesseloser” Kontemplation auf der Basis rationalen Denkens. Das
Weib aber ist wenigstens der späteren buddhistischen Doktrin nicht nur ein irrationa-
les, der höchsten Geisteskraft unfähiges Wesen, die spezifische Versuchung r den
nach der Erleuchtung Strebenden, - es ist vor allem jener o b j e k t l o s e n mysti-
schen Liebesstimmung gar nicht fähig, welche den Zustand des Arhat psychologisch
charakterisiert. Ein Weib wird vielmehr, wo immer sich Gelegenheit bietet, in Sünde
verfallen. Und wo sie, trotz der gegebenen Gelegenheit, einmal nicht sündigt, da
kommt sicherlich irgendwelchen konventionellen oder anderen egoistischen Erwägun-
gen das Verdienst dafür zu. So die ausdrückliche Auffassung späterer mönchischer
Moralisten. Der Meister selbst hat sich anscheinend nicht so geäußert. Im Gegenteil
finden wir in der Frühzeit des Buddhismus - wenigstens nach der Legende - in der
Umgebung des Meisters selbst ganz ebenso wie in allen Intellektuellen - Sekten der
damaligen, in jeder Hinsicht noch weniger konventionell gebundenen, Zeit, Frauen,
auch solche die wandernd die Lehre ihrer Meister verkündigten. Die höchst subalterne
Stellung des buddhistischen Nonnenordens, der den Mönchen durchaus untergeordnet
ist, wird daher Produkt der
1
) Sein Handeln erzeugt als Folge nicht Karman, sondern nur “Kiriya”, welches nicht zur Wiedergeburt
führt.
2
) Die Schilderung der psychologischen Qualitäten des Gnadenstandes in den Buddha selbst zugeschrie-
benen Reden (Neumann, Reden des Gautama
230
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [229]
späteren spezifischen klösterlichen Entwickhmg sein
1
). Jene Unbefangenlieit des inter-
sexuellen Verkehrs der Intellektuellenkreise bedeutete aber sicherlich keinerlei femi-
ninenCharakter der Botschaft des Meisters selbst. Diese verwirft irdischen Stolz und
Selbstgerechtigkeit. Aber nicht zugunsten von erbaulicher Selbstdemütigung oder ge-
fühlsmäßiger Menschenliebe im christlichen Sinn. Sondern zugunsten männlicher
Klarheit über den Sinn des Lebens und der Fähigkeit, in intellektueller Rechtschaf-
fenheit” die Konsequenzen daraus zu ziehen. Ein sozialesEmpfinden vollends im
Sinn einer Sozialethik, welches mit dem unendlichen Wert der einzelnen Menschen-
seele” operiert, mußte einer Erlösungslehre so fern wie möglich liegen, welche in je-
nem auf die Seele” gelegten Wertakzent ja gerade lediglich die eine große verderbli-
che Grundillusion wiederfinden konnte. Auch die spezifische Form des Altruismus”
des Buddhisten: das universelle Mitleid, ist lediglich eine der Stufen, welche das Emp-
finden durchläuft beim Durchschauen der Sinnlosigkeit des Existenzkampfs aller Indi-
viduen im Lebens - Rad, ein Kennzeichen fortschreitender intellektueller Erleuchtung,
nicht aber Ausdruck aktiver Brüderlichkeit: es wird in den Regeln für die Kontemplati-
on ausdrücklich dazu bestimmt, durch den kühlen, stoischen Gleichmut des Wissenden
als Endzustand ersetzt zu werden. Natürlich wirkt es höchst sentimental, wenn jener
siegreiche buddhistische König (9. Jahrh.) zu Ehren Buddhas seine Elefanten frei läßt,
welche nun, wie die zitierte Inschrift besagt (Ind. Ant. XXI, 1892, S. 253) “mit Tränen
in den Augenihre Genossen in den Wäldern wieder aufsuchen. Indessen jene Konse-
quenz aus dem Ahimsa” ist an sich ein rein formaler Akt, -
Buddha) sprechen (I. Teil, 2. Rede) von “Tiefsinn”, “Heiterkeit”, “Lindheit”, Innigkeit”, “Gleich-
mutauf Grundlage der Einsicht, von dem Fehlen der Hoffart, aber auch jeder matten Müdigkeit (I.
Teil, 8. Rede), von “innerer Meeresstille” und Einheit des Gemüts” in einer “aus Selbstvertiefung
geborenen seligen Heiterkeit(III. Teil, 6. Rede), in dem durch Arbeit an sich selbst (I. Teil, 2. Rede)
erlangten Bewußtsein: “Dies ist das letzte Leben und nimmer gibt's ein Wiedersehn.”
1
) Schon relativ alte Quellen, wie das Tschullavagga, haben allerdings dem Meister selbst die unbedingte
Ablehnung der Frauen untergeschoben: nur den Bitten seiner Tante und Pflegmutter Mahapyapati
haben diese es zu danken, daß sie überhaupt in subalterner Art zur Heilssuche zugelassen werden.
Indessen mit anderen Quellen ist diese Annahme schwer vereinbar, und es ist bei einemnchsorden
wahrscheinlicher, daß er die (relative) intersexuelle Freiheit der alten vornehmen Kschatriya - Sa-
lonsspäter wegretouchiert hat, als das Umgekehrte.
231
Hinduismus und Buddhismus. [230]
wie die modernen Tierspitäler und Tierpensionen der Klöster. Und “Tränen” waren
wenigstens der Frühzeit des alten Buddhismus relativ sehr fremd und flossen in Indien
allgemein erst mit der pietistischen (bhakti-) Frömmigkeit reichlicher. -
Für die Charakterisierung des buddhistischen Erlösungstypus in seinen Wirkungen auf
das Verhalten nach außen hin ist folgendes entscheidend nie Versicherung des Gna-
denstandes, das Wissen also um die eigene endgültige Erlösung, wird n i c h t durch
Bewährung in irgendwelchem - innerweltlichen oder “außerweltlichen” - H a n -
d e l n , in Werken” welcher Art immer, sondern im Gegenteil in einer aktivitätsfrem-
den Z u s t ä n d l i c h k e i t gesucht. Dies ist ausschlaggebend für die gesamte Stel-
lung des “Arhat” - Ideals zur Welt” des rationalen Handelns: es gibt von jenem zu
diesem keine Brücke. Und ebensowenig zu einem im aktiven Sinn sozialen” Verhal-
ten. Die Erlösung ist eine absolut individuelle Leistung des Einzelnen aus eigener
Kraft
1
). Niemand und insbesondere keine soziale Gemeinschaft kann ihm dabei helfen:
der spezifisch asoziale Charakter aller eigentlichen Mystik ist hier auf das Maximum
gesteigert. Eigentlich erscheint es schon als ein Widerspruch, daß der Buddha - dem
die Stiftung einer Kirche” oder auch nur einer Gemeindeganz fern lag und der für
sich ausdrücklich die Möglichkeit und die Prätension, eine Ordensgemeinschaft “lei-
ten” zu können, ablehnte,- immerhin doch einen Orden” ins Leben gerufen hat, - so-
fern diese Stiftung nicht vielleicht hier, wie im Christentum, vielmehr lediglich eine
Schöpfung seiner Schüler war. Nach der Legende hat der Buddha auch die Verkün-
dung seiner Erlösungslehre nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf besondere Bitte ei-
nes Gottes auf sich genommen. Die alte Ordensgemeinschaft bot den Brüdern in der
Tat nur bescheidene Nachhilfen in Gestalt von normgemäßer Lehre und Aufsicht für
den Novizen, Erbauung, Beichte und Buße r den Vollmönch. Sie scheint im übrigen
vor allem der rsorge r die standesgemäße Wohlanständigkeit” des Verhaltens der
Mönche zu dienen, um deren Charisma nicht vor der Welt kompro-
1
) “Sucht nicht nach einer Zuflucht bei irgend jemand außer bei euch selbst” heißt es im Mahaparinibha-
na Sutra (II, 31 - 35, S. B. of the East XI, S. 35 ff., auch deutsch bei Schulze, Das rollende Rad S.
96 ff., speziell S. 97). Der Gegensatz des Buddhismus gegen das Christentum ist außer in zahlreichen
Stellen von Oldenbergs Schriften, schön herausgearbeitet auch in v. Schröders “Reden und Aufsät-
zen(S. 109).
232
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [231]
mittieren zu lassen. Im übrigen ist, wie bald zu erörtern, mit der größter Konsequenz
und Absichtlichkeit die Organisation dieser sozialen Gemeinschaft und die Gebunden-
heit des Einzelnen an sie “minimisiert”.
Daß die Erlösung selbst nur der Weltflucht in Aussicht gestellt wurde, entsprach an
sich den indischen Gepflogenheiten, folgte aber beim Buddhismus aus dem ganz spezi-
ellen Charakter der Erlösungslehre. Denn eine Erlösung aus dem endlosen Kampf des
individuell Geformten um seine stets gleich hoffnungslos verlorene Existenz zum Ein-
gehen in die Unvergänglichkeit der Ruhe war ja nur durch die Abwendung von allem
und jedem mit der Welt der Vergänglichkeit und des Kampfes um die Existenz verbin-
denden Durste” erreichbar. Sie konnte selbstverständlich ausschließlich dem hauslo-
sen” (pabbajita, d. h. dem wirtschaftslosen) Stande, nach der Gemeinde lehre nur den
wandernden Jüngern (später: Mönche, Bhikkshu genannt) zugänglich sein. Die Stande
der Hausbewohner” waren dagegen r die Gemeindelehre, - ähnlich etwa wie die to-
lerierten Ungläubigen im Islam, - im Grunde ausschließlich dazu da, den Buddhajün-
ger, der den Gnadenstand zu erwerben trachtet, bis zu seiner Erreichung durch Almo-
sen zu sustentieren. Heimatlos wandernd, besitzlos, arbeitslos, sexuell und gegenüber
Alkohol, Gesang und Tanz absolut enthaltsam, streng vegetarisch, unter Meidung von
Gewürzen, Salz und Honig, vom schweigenden Bettel von Tür zu Tür lebend, im übri-
gen der Kontemplation hingegeben, sucht er die Erlösung vom Daseinsdurst. Die mate-
rielle Unterstützung des Erlösungsuchenden und nur sie war letztlich die höchste Ver-
dienstlichkeit und Ehre, die dem Upâsaka” (“Verehrer” Laien
1
)) zugänglich ist. Die
Zurückweisung seiner Almosen durch Umkehrung der Betteltöpfe war die einzige Stra-
fe, die ihm von den Mönchen drohte. Upâsaka aber war jeder, der sich als solcher be-
tätigte. Eine offizielle Anerkennung gab es dafür ursprünglich gar nicht. Später wurde
die Erklärung: seine Zuflucht zum Buddha und zu der Gemeinde (der Mönche) zu
nehmen, als genügend behandelt. hrend für die Mönche ganz eindeutige Sittenre-
geln bestehen, beschränkt sich der Stifter r die frommen Verehrer auf wenige emp-
fehlende, und erst später allmählich zu einer Art von Laienethik
1
) Der Ausdruck ist technisch und findet sich in offiziellen Inschriften (z. B. J. R. A. S. 1912, S. 119 und
oft).
233
Hinduismus und Buddhismus. [232]
ausgebaute Ratschläge. Consilia evangelica” gab es hier also nicht für die opera supe-
rerogatoria der Begnadeten, wie im Christentum, sondern gerade umgekehrt als Unzu-
länglichkeitsethik der Schwachen, welche die volle Erlösung nicht suchen wollen. Sie
entsprachen in ihrem ursprünglichen Inhalt ungefähr dem Dekalog, jedoch mit umfas-
senderem, auf alle Verletzung lebender Wesen erstreckten, Sinn des Tötungsverbots
(Ahimsa) und des Gebots der unbedingten Wahrhaftigkeit (im Dekalog bekanntlich nur
für das Gerichtszeugnis verlangt), und mit ausdrücklicher Verpönung der Trunkenheit.
Für die getreue Innehaltung dieser Gebote der Laiensittlichkeit (insbesondere der Kar-
dinalverbote: nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen, nicht lügen, nicht sich berau-
schen) werden dem frommen Laien innerweltliche Güter: R e i c h t u m , ein guter
Name, gute Gesellschaft, Tod ohne Angst und die Besserung seiner Wiedergeburts-
chancen in Aussicht gestellt. Günstigenfalls also: die Wiedergeburt in jenem ebenfalls
vergänglichen Götterparadies, welches der zum Eingang in Nirvana Erlöste ver-
schmäht, welches aber dem Weltkind besser zusagen mochte als jener vom Buddha in
seiner näheren Bestimmtheit vielleicht problematisch gelassene, von der älteren Lehre
aber zweifellos mit absoluter Vernichtung gleichgesetzte Zustand
1
). Der alte Buddhis-
mus des Pali - Kanons war also lediglich ständische Ethik, oder richtiger: Kunstlehre,
eines kontemplativen Mönchtums. Der Laie (“Hausbewohner”) kann nur die niedere
Gerechtigkeit” (Adi - brahma - chariya) üben, nicht, wie der Ehrwürdige” (arhat) die
entscheidenden Erlösungswerke. -
Es ist nun freilich sehr fraglich, ob die Lehre Buddhas von Anfang an als eine
Mönchs”- Religion gedacht war. Oder vielmehr: es ist so gut wie ganz sicher, daß sie
dies keineswegs war. Es ist eine offenbar alte Tradition: daß der Buddha bei
1
) Daß für den alten Buddhismus Nirwana wenigstens nach dem Tode wirklich gleich Verwehen”,
Auslöschen” der Flamme, und nicht gleich einem traumlosen Schlaf (wie meist im Hinduismus) oder
gleich einem Zustand unbekannter und unaussprechbarer Seligkeit war, dafür sprechen hinlängliche
Anzeichen. Noch in den Milinda - Fragen, welche (IV, 8, 69) Nirwana zweideutig als einen Zustand
schildern, dessen Kühle den Lebensdurst stille, eine Arznei, grenzenlos wie der Ozean, welche Alter
und Tod ende, eine Quelle der Schönheit und Heiligkeit, ewig, glanzvoll, die Vollendung aller Wün-
sche, wird doch (IV, 1, 12 f.) betont: die Verehrung der Reliquien Buddhas bedeute nicht, daß
Buddha sie entgegennehme. Er sei mit jeglicher Spur aus dem Dasein ausgelöscht und man verehre
sie vielmehr zur Anfachung des eigenen Feuers. Freilich ist die Brücke vom Nichtsein zum Uebersein
in aller Mystik leicht geschlagen.
234
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [233]
Lebzeiten zahlreiche Laien, die nicht in einem Orden lebten, zum Nirvana habe gelan-
gen lassen. Und es wird auch in den Fragen des Königs Milinda noch gelehrt, daß ein
Laie Nirvana wenigstens, wie ein gelobtes Land, von Angesicht zu Angesicht erschau-
en könne. Dabei wird auch die Frage erörtert, wie jemals Erlösung von Laien durch
Buddha möglich gewesen sei und warum der Buddha dessenungeachtet doch einen
Mönchsorden gestiftet habe
1
).
Die Gemeinde Buddhas war naturgemäß zunächst die Gefolgschaft eines Mystagogen,
jedenfalls mehr eine soteriologische Schule als ein Orden. Die Diskussionen der Fach-
leute
2
) machen wahrscheinlich, - was schon an sich naheliegt -, daß nach Buddhas To-
de die nächsten Schüler zunächst, gegenüber ihren Anhängern, eine ähnliche Stellung
eingenommen haben, wie Buddha zu ihnen selbst: sie waren ihre spirituellen Väter, in
der üblichen indischen Terminologie: Guru, und mgebende Interpreten seiner Lehre.
Auf dem Konzil von Vaiçali, welches zum Schisma hrte, hatte man einen hundertjäh-
rigen Schüler des Ananda, des Lieblingsschülers des Meisters, herbeigeholt: den Va-
ter der Gemeinschaft”. Formelle Bestimmungen darüber, wer in den später, zur
Schlichtung von Lehr- und Disziplinstreitigkeiten, gelegentlich berufenen Konzilien”,
den universellen Versammlungen der Gemeinschaft, zu sitzen das Recht habe, fehlten
zweifellos und von einer “Abstimmung” in unserem Sinn war keine Rede. Autorität
entschied. Das Charisma der Arhatschaft, des sündlosen und daher mit magischen
Kräften ausgestatteten Erlösten, war das entscheidende Merkmal: freilich aber hatte
schon einer der vom Buddha selbst zugelassenen Schüler
3
) ein Schisma verschuldet.
Irgendwelche “Regeln” hatte der Buddha wohl sicher von Fall zu Fal1 gegeben: es
wird gesagt, daß diese nun, nach seinem Tode, der unpersönliche Herr” der Gemein-
de sein sollten. Unsicher ist nur, ob eine systematische Ordensregel, wie das spätere
Pratimokscha es war, schon von ihm selbst stammte. Die unvermeidliche Disziplin er-
zwang dann festere Formen. Und ein Orden wurde die Gemeinschaft, weil wichtige
Teile der Lehre als Geheimlehre überliefert wur-
1
) Q. of. K. Milinda Buch VI. Der Orden, wird geantwortet, fördere die Tugend und alle, die Buddha als
Laien zur Erlösung habe gelangen lassen, seien wenigstens in einem früheren Leben Mönche gewe-
sen.
2
) Minayeff, H. Oldenberg, de la Vellée Poussin. S. darüber abschliessend den letztgenannten in Ind.
Ant. 37 (1908), S. 1 ff.
3
) S. über ihn Q. of K. Milinda IV, 1, 2 ff.
235
Hinduismus und Buddhismus. [234]
den
1
), wie in den meisten alten Soteriologien Indiens. Es war ein Zugehörigkeitsmerk-
mal erwünscht. Schon bald nach Buddha mder Orden mit Kopfschur und gelber
Tracht konstituiert gewesen sein und nur in der relativ immerhin lockeren Organisation
erhielt sich die Spur des einstigen freien Gemeinschaftscharakters der alten Laien -
Jüngerschaft. Es stand sehr bald fest, daß man zur vollen Einsicht
2
) und zur Arahat -
Würde niemals gelangen konnte, ohne förmlich Mönch geworden zu sein
3
).
Eine rationale Wirtschaftsethik konnte eine derartig Ordensreligion nicht entwickeln.
Sie ist, wie schon jetzt bemerkt sein mag, auch später nicht daraus entwickelt worden,
als der alte Buddhismus schon auf dem Wege war, im Mahayana” (“großen Schiff”,
zum andern Ufer: der Erlösung, nämlich) im Gegensatz zum rein mönchischen Kon-
ventikel- Buddhismus: Hinayana (“kleines Schiff”) eine Laienreligion zu entwickeln.
So werden im Lalitavistara dem frommen und gebildeten Laien (ârya) zwar Ratschläge
gegeben, wie er in seinem Berufe (mâgra) vorwärts kommen könnte, aber in äußerst -
und (wegen der Ablehnung der Werkheiligkeit) wohl absichtsvoll - unbestimmter
Form. Es fehlen dabei asketischeRegeln. In dem Dekalog der hinduistischen Yoga -
Sutra gehört zu den sozialethischen und also allgemeinverbindlichen Lebensregeln
(den 5 “yamas”) auch Geringschätzung von Reichtum und Geschenken, zu den soterio-
logischen individual - ethischen Regeln der höheren, geistlichen Ethik (den 5 niyamas)
Genügsamkeit und ethische Strenge. Der übliche spätere buddhistische “Dekalog
(daçaçila) erwähnt
1
) Daß dies mindestens zeitweise der Fall war, ergibt sich aus Q. of K. Milinda IV, 4, 6 (vgl. IV, 3, 4.).
Daß es nicht das Ursprüngliche war, zeigt sich darin, daß in Ceylon auch die Laien die Vinaya - Tex-
te lasen. Auch die Aufzählung der Klassen, welche nicht zur Einsicht gelangen nnen, selbst wenn
sie korrekt leben (IV, 8, 54): T i e r e , K i n d e r unter 7 Jahren, Häretiker, Vater- und Mutter-
mörder, rder von Arhats, Schismatiker, Apostaten, Eunuchen, Hermaphroditen, nicht rehabilitier-
te Todsünder usw. schließt eigentlich aus, daß von jeher nur nchen die Erlösung zugänglich ge-
wesen wäre.
2
) Q. of K. Milinda IV, 1, 28 ergibt deutlich, daß nur ein nch Schismatiker werden konnte, w e i l
nur ein solcher die Lehre ganz kannte.
3
) Q. of K. Milinda a. a. O. (eventuell also: ohne es in einem früheren Leben einmal gewesen zu sein).
Ein Laie, der die Arhat - Würde erreicht, kann (nach IV, 3, 4) nur entweder am gleichen Tage ster-
ben oder nch werden. Auch der unwürdigste nch empfängt von dem würdigsten Laien Vereh-
rung deshalb, weil nur der nch Träger der Tradition der Ordensregel ist. Am Anfang des Kapitels
werden die Kschatriya verherrlicht. Das alles deutet auf die Umwandlung einer ursprünglichen Lai-
engemeinschaft in einennchsorden.
236
II, Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [235]
dagegen von jener asketisch negativen Beziehung zum R e i c h t u m nichts, sondern
beschränkt die 5 allgemein geltenden Verbote auf: Töten, Stehlen, Unzucht, ge und
Alkoholgenuß, während der Aspiranten des geistlichen Standes außerdem das Essen
außerhalb der erlaubten Zeit (einmal täglich), die Teilnahme an weltlichen Vergnügun-
gen, Putz- und Schmuckgebrauch, weiche Betten und Annahme von Geldgeschenken
absolut verboten sind. Die späteren buddhistischen Suttas, welche sich eingehender mit
der Moral befassen (oft werden die betreffenden Lehren, statt dem Buddha selbst, des-
sen Scller Ananda in den Mund gelegt), suchen allerdings die Laienmoral als eine
Vorstufe” der höheren, geistlichen Ethik zu behandeln. Innerhalb der stufenweise von
der niederen” zur höheren” Moral aufsteigenden Sittenlehre wird die Verschmähung
von Putz und die Enthaltung von der Teilnahme an Schauspielen und Wettkämpfen r
die höhere” Moralstufe empfohlen. Aber diese höhere” Moral führt - das ist das Ent-
scheidende - nicht zu zunehmend rationaler Askese (außerweltlicher oder innerweltli-
cher) und positiver Lebensmethodik. Denn jede Werkheiligkeit” (kriyavada, karma-
vada) ist und bleibt verketzert. Sondern gerade umgekehrt tritt die aktive Tugend” im
Handeln immer stärker zurück gegenüber der çila”, der Ethik des N i c h t - Han-
delns zum Zweck der Abstreifung von rajas(“Antrieb”) zugunsten der reinen Kon-
templation. In den Schriften der orthodoxen südlichen” (Hinayâna) - Buddhisten wird
dem Meister selbst ausdrücklich das Anerkenntnis in den Mund gelegt: daß seine Ethik
dualistisch” sei, sowohl Quietismus als Werktätigkeit lehre. Aber die Art der angege-
benen Lösung des Widerspruchs: Quietismus in bezug auf schlechtes, Werktätigkeit in
bezug auf gutes Wollen, ist geistliche Sophistik. In Wahrheit klafft der Widerspruch
zwischen: Ethik des Handelns und: Kunstregeln der Kontemplation unlösbar und nur
die letztere gibt die Erlösung. Die buddhistische Mönchsethik ist eben nicht, wie die
spätere christliche, ein auf besondere Gnadengaben gestütztes rational - ethisches Ue-
berbieten des in den sozialen Ordnungen verlaufenden, innerweltlichen ethischen
Handelns, sondern sie verläuft nach der gerade entgegengesetzten, prinzipiell asozia-
len, Richtung. Und deshalb ist ein wirklicher Ausgleich zwischen Welt- und Mönchs-
ethik im Wege der ständischen” Relativierung, wie sie Bhagavata - Glaube und Ka-
tholizismus
237
Hinduismus und Buddhismus. [236]
unternehmen konnten, niemals auch nur soweit gelungen wie dort. Die auf Laien zuge-
schnittene spätere Soteriologie konnte schon deshalb nicht den Weg einer innerweltli-
chen puritanischen Askese, sondern nur den einer sakramentalen, hagiolatrischen, ido-
latrischen oder logolatrischen Ritualreligiosität einschlagen. Immer blieb jedenfalls der
Satz bestehen: wer schöne Taten verrichten will, werde kein Mönch”. Im alten Budd-
hismus vollends fehlte auch fast jeder Ansatz einer methodischen Laiensittlichkeit. Der
Laie soll bei der Annahme versprechen: Mord, Unreinheit, Lüge und Trunk zu meiden.
Wie alt diese Gebote sind, ist indessen nicht ganz sicher. Gewisse Gewerbe galten früh
aus religiösen Gründen r den Upâsaka als unstatthaft: Waffen-, Gift- und Alkohol-
handel (ähnliche wie gewisse mit heidnischen Kulten zusammenhängende Gewerbe in
der alten Christenheit), der im ganzen Hinduismus als bedenklich geltende Karawa-
nenhandel überhaupt, der (für die Sexualmoral gefährliche) Sklavenhandel und das
Schlächtergewerbe (als Verletzung des Ahimsa). Von diesen Gewerben also waren
wenigstens korrekte Laien ausgeschlossen. Aber die spezifische Verwerflichkeit der
Ackerbauarbeit r den Mönch (wiederum wegen des Ahimsa: der Perhorreszierung
der beim Pflügen und Hacken unvermeidlichen Verletzung irgendwelcher lebender
Wesen, die ja im Kreislauf der Wiedergeburten mit dem Menschen vergemeinschaftet
sind) hinderte diesen keineswegs, Ackerbauprodukte als Almosem anzunehmen: sie
hat die Laienwirtschaft überhaupt nicht beeinflußt. Ebensowenig hatte die äußerst
scharfe Ablehnung jedes. Geldbesitzes für die Mönche Bedeutung r die Laiensitt-
lichkeit. Irgendein individualsittlicher oder sozialethischer Protest gegen Reichtumser-
werb oder Luxusverbrauch findet sich, soweit die Weltsittlichkeit in Betracht kommt,
im ältesten Buddhismus nicht. Auch nicht in jener Art von Empfehlung der Gering-
schätzung der Eitelkeit der Welt, also auch von Reichtum und Putz, wie sie die zitier-
ten spätern Suttas enthalten. Denn nicht ein Unrecht sondern eine Versuchung, dem
Durst” zu verfallen, sind jene Dinge. Im Gegenteil wurde ja der Reichtum als solcher,
wiewir sahen, als eine Frucht der Laiensittlichkeit verheißen, und die Unterweisung
des Sigâla” verpflichtet die Eltern ausdrücklich, ihren Kindern ein Erbteil zu hinterlas-
sen. lrgendeine religiöse Prämie auf ein bestimmtes ökonomisches Verhalten fehlt auch
sonst in jeder Richtung völlig. Es fehlte zunächst auch jedes
238
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [237]
Mittel der Kontrolle der Laiensittlichkeit. Die einzige ursprüngliche schon erwähnte
Strafe der Umkehrung des Almosentopfs” war nicht r Laster, sondern ausschließ-
lich für Verletzung der Achtung gegen die Mönchsgemeinde in Aussieht gestellt. Ge-
rade die ältesten, vielleicht auf den Stifter selbst zurückgehenden Regeln haben ganz
ausschließlich diesen Sinn. Es gab ursprünglich r die Laien weder Beichte noch Kir-
chenzucht, weder Laienbrüder noch Tertiarier.
Die buddhistische Mönchssittlichkeit ihrerseits aber kennt nicht nur die Arbeit nicht,
sondern auch von den sonst üblichen asketischen Mitteln nur Nachhilfen, gerichtet auf
Vertiefung der Kontemplation, Erbauung, Sicherung der wachen Selbstkontrolle durch
Beichte und Ermahnung des Schülers durch den Lehrer, des an Anciennität jüngeren
durch ältere Mönche. Jede Form einer rationalen Askese lehnt der Buddhismus ab.
Wie nicht jede rationale Askese “Weltflucht” ist, so ist auch nicht jede Weltflucht”
rationale Askese: - davon kann man sich an diesem Beispiel überzeugen. - Weil r
den Buddhismus der Durste nach einem Jenseits ganz ebenso ein Haften an der Welt
ist, wie der Durst nach dem Diesseits, so steht auch mit der Hingabe an das diesseitige
Glück die asketische werkheilige Selbstabtötung um eines jenseitigen Glücks willen
auf gleicher Stufe. Beiden gegenüber betritt der Buddha den mittleren Pfad”. Der
gre Wendepunkt in seinem Leben war, nach der darin wohl sicher zuverlässigen
Ueberlieferung, das Aufgeben der in der indischen soteriologischen Methodik hoch
ausgebildeten Versuche, durch Unterernährung und andere physiologischen Mittel den
Leib zugunsten der Erlangung eines ekstatischen Charisma abzutöten. Darin steht also
der Buddhismus entwicklungsgeschichtlich der jesuitischen Ablehnung der Mittel der
alten Mönchskasteiung nahe
1
). Gerade diese Neuerung in seiner Lebens-
1
) Viererlei Lebensführungen gibt es, lehrt ein Wort des Meisters: die erste bereitet gegenwärtiges Wohl
und führt zum künftigen Wehe: sinnliche Lust. Die zweite bereitet gegenwärtiges Wehe und führt
zum künftigen Wehe: die sinnlose Kasteiung. Diese zwei, also auch die irrationale Askese, führen
nach dem Tode “abwärts”. Gegenwärtiges Wehe, künftiges Wohl bereitet die dritte dem, der - seiner
nun einmal so geartet natürlichen Anlage nach - ein heiliges Leben nur mit Mühe” führen kann: er
gelangt in den Himmel. Gegenwärtiges und künftiges Wohl bietet die vierte dem, der so veranlagt ist,
daß er zu heftigem Begehren nicht neigt und die “innere Meeresstille” leicht erreicht. Er gewinnt
Nirwana (5. Teil, 5. Rede bei Neumann, Reden des Gautama Buddha.) Ganz in jesuitischer Art wird
die Ablehnung der irrationalen Kasteiungen motiviert in Açvagoshas Buddha Tscharita (Sacred B. of
the East 49) VII,
239
Hinduismus und Buddhismus. [238]
.
führung wurde, ebenfalls nach alter Ueberlieferung, von seinen asketischen Genossen
ebenso als Bruch der allerelementarsten Voraussetzungen der Erlösung empfunden wie
Jesu anomistisches Verhalten von den Pharisäern. Es trug ihm zunächst offene Miß-
achtung und Zweifel an seinen Gnadengaben gerade in jenen Kreisen ein. Der unaus-
löschliche Haß der auf extreme asketische Abtötung und Werkheiligkeit abgestellten
jainistischen Mönche setzte an eben diesem Punkt ein. Die buddhistische Erlösung ist,
wenn man - wie wir es hier tun wollen - Askeseals rationale Lebensmethodik faßt,
prinzipiell antiasketisch. Gewiß schreibt sie einen bestimmten Weg vor, auf dem allein
man zur Erleuchtung kommen kann. Aber dieser Weg ist weder ein verstandesmäßiges
Einsehen der - an sich ja unendlich einfachen - Lehrsätze, auf denen sie metaphysisch
ruht, noch ein allmähliches Training zu immer höherer sittlicher Vervollkommnung.
Die Befreiung ist, wie wir sahen, ein durch methodische Kontemplation nur vorzube-
reitender plötzlicher Sprung” in die Zuständlichkeiten der Stufen der Erleuchtung.
Das Wesen dieses Sprunges ist, daß er den Menschen in seinem innersten p r a k t i -
s c h e n Habitus in Einklang setzt mit seinen theoretischen Einsichten und ihm da-
durch die buddhistische perseverantia gratiaeund certitudo salutis”: die Sicherheit,
von dem Lebensdurst” definitiv und o h n e R ü c k f a l l erlöst zu sein, in diesem
Sinn also: Heiligkeit”, verleiht. Dies war, wie alle Ueberlieferungen zeigen, das Gna-
denstandsbewußtsein des Buddha selbst. Alle Vorschriften des Buddha sind solche für
die praktische E r r e i c h u n g dieses Gnadenstandes, also gewissermen propä-
deutische Novizenvorschriften. - Alle seine eigenen als wahrscheinlich authentisch an-
zusehenden Aeußerungen: speziell auch über den edlen achtfältigen Pfad”, enthalten
nur allgemeine Arigaben über die rechte Erlösungsg e s i n n u n g . Und es ist ganz
wohl möglich, daß der Buddha, ebenso wie Jesus, für den Stand der erreichten Gna-
denperseveranz (um es christlich auszudrücken) direkt anomistische Konsequenzen
gezogen hat. Die Gegner (einschließlich der modernen konfessionellen christlichen
Kritiker) haben ihm ja sein Wohllebenimmer wieder vorgehalten, und nach der Ue-
berlieferung ist er an verdorbenem Schweinefleisch gestorben. Wie dem
.
98 /9: sie stört die glichkeit der Selbstbeherrschung und schwächt die Kräfte des Körpers, deren
man bedarf, um die Erlösung erarbeiten zu können.
240
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [239]
nun sei, jedenfalls beschränkt sich die buddhistische Methodik” auf die Anweisungen
für Sicherung des Erfolges der K o n t e m p l a t i o n und liegt methodisches
H a n d e l n , es sei um diesseitiger oder jenseitiger Ziele willen, für den Buddhismus
in der Richtung nicht der Erlösung, sondern des Weltdurstes”, von dem er ja gerade
Erlösung bringen will. - Es ist vielleicht zweckmäßig, die altbuddhistische Soteriologie
hier abschließend in rationaler Form so zusammenzufassen, wie dies von modernen eu-
ropäisch geschulten Buddhisten geschieht
1
).
Die Grundlage dafür ist die berühmte Predigt des Buddha in Benares über die vier hei-
ligen Wahrheiten. Die vier heiligen Wahrheiten beziehen sich auf 1. Leiden, 2. den
Grund des Leidens, 3. das Ende des Leidens und schließlich, als Mittel dazu, den ed-
len achtfältigen Pfad. - 1. Das Leiden haftet an der Vergänglichkeit als solcher und
diese an der Individuation. Alle Herrlichkeit des Lebens ist nicht nur vergänglich, son-
dern ruht auf Kampf mit anderem Leben und entsteht nur auf dessen Kosten. - 2. Der
Grund alles Lebens und damit alles Leidens ist der sinnlose Durst” (trishna) nach Le-
ben, nach Erhaltung der Individualität, selbst über den Tod hinaus in einem ewigen”
Leben. Der Glaube an die Seele”, und an deren Dauer ist nur die Folge dieses unstill-
baren Durstes mit all den Sinnlosigkeiten, die er mit sich bringt. Sie ist auch die Quelle
des Glaubens an einen Gott”, der unsere Gebete erhört. - 3. Das Ende des Lebensdur-
stes ist das Ende jenes Leidens an der Vergänglichkeit und am Leben. Der Weg dazu
aber ist - 4. der edle achtfältige Pfad. Seine Stufen sind: Sammadikhi, “rechte Einsicht”
- nämlich die zunächst verstandsmäßige, dann aber das ganze Leben durchdringende
Einsicht darein: daß alle Konstituenzien des Lebens von Natur mit den Prädikaten des
Leidens, der Vergänglichkeit und des Fehlens jeglichen ewigen” Kerns (nach Art des
brahmanischen Atman, der Seele”) behaftet sind. - Die zweite Stufe ist Sammasan-
kappa, rechtes Wollen”, der erbarmungsvoll wissende Verzicht auf den Genuß des
Lebens, der ja überall nur auf Kosten anderer Lebender möglich ist. -
1
) Allan Mac Gregor, als Konvertit und nch Ananda Maitreya genannt, The four noble Truths, Pub-
lic. of the Buddhasana Samayana Nr. 3 (Rangoon 2446 der buddh. Aera, 1903). Es interessiert nicht
so sehr, ob die primitive Form des Buddhismus hier historisch ganz richtig wiedergegeben ist, als:
daß die Hinayana - Lehre heut diese Interpretation der alten Schriften, welche an sich möglich ist, als
orthodox gelten läßt.
241
Hinduismus und Buddhismus. [240]
Die dritte Stufe ist Sammavaca, “rechte Rede”, die Vermeidung unwahrhaften und
lieblosen Redens durch Beherrschung der eigenen leidenschaftlichen Natur. - Die vier-
te Stufe ist Sammakammanta, “rechte Lebensführung”, die Ausschaltung alles Unrei-
nen und vor allem auch alles Schielens nach Erfolgen und Früchten des eigenen rech-
ten Tuns, aus dem Handeln. Wer dies voll erreicht hat, der gewinnt die nfte Stufe,
welche, christlich gesprochen, die certitudo salutis gibt: die nicht mehr verlierbare Hei-
ligkeit des Lebens: Samma ajivo. Die gewaltige Anspannung aller seiner Kräfte im
Dienst des heiligen Zieles geben ihm eine seelische Macht des heiligen Wollens, wel-
ches weit hinausgeht über das für andere Erreichbare: Sammavayano, die rechte Wil-
lensmacht”, die sechste Stufe. Wachend nicht nur, sondern auch schlafend hat er sich
jetzt in der Gewalt, er wewer er ist und war. Und dieser innere Habitus des heiligen
Wissens hrt ihn zur siebenten Stufe der Vollendung: Sammasati, auf welcher er an-
deren als heiligen Gedanken und Gefühlen nicht mehr zugänglich ist. Und dadurch,
durch diese schon jenseits des normalen Bewußtseins liegende Fähigkeit wird er inner-
lich an die todentrennenen Gestade” Nirwanas getragen: in die rechte Konzentration:
Sammasamadhi, die letzte und höchste Stufe.
Auch in dieser schon stark modernisierten
1
) und also abgeblten Form gibt die Heils-
lehre doch noch einen Begriff von der praktisch wesentlichsten Eigenart des Buddhis-
mus: der gänzlichen Ausrottung jeder Art von innerweltlicher Motivation im Handeln,
sei sie nun irrationaler, leidenschaftlicher oder rationaler, zweckbewußter, Art. Denn
ein jegliches rationales Handeln (“Handeln mit einem Ziel”) wird dem Prinzip getreu
ausdrücklich verworfen. Es fehlt also der im occidentalen Mönchtum zunehmend ent-
wickelte, für dessen Eigenart so wichtige Zug zur rationalen Methodik der Lebensfüh-
rung auf allen Gebieten a u ß e r in der rein geistigen Systematisierung des konzen-
trierten Meditierens und der reinen Kontemplation. Diese ihrerseits ist freilich zuneh-
1
) Die Modernisierung der Meditationstechnik (Kammasthâna) liegt namentlich in der Verwischung des
- mit den Maßtäben der modernen Medizin gemessen - immerhin noch stark “pathologischenCha-
rakters der entscheidenden Heilszuständlichkeiten im alten Buddhismus. Die Visionstechnik der 10
Kasinas knüpfte an die Tatsache des Nachbilds bei geschlossenen Augen an, und die 4 Stadien der
eigentlichen Ekstase führten schon in der zweiten Stufe zu einem künstlich erzeugten “torpor”, der
dann, bei Aufhören der Ekstase; einen als vollendete Heiterkeit empfundene Euphorie und als
höchstem Stadium einem absoluten Indifferenzgefühl Platz machte.
242
M a x W e b e r , Religionssoziologie II.
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [241]
mend bis zu dem in Indien auch sonst gepflegten Raffinement fortgebildet worden. Die
spätere Entwicklung nahm aus der Yoga - Technik, welche dem Meister selbst wohl
sicher bekannt war, zahlreiche Nachhilfen auf: von der Atemregelung bis zu den Stu-
fenfolgen der Versenkung des Denkens durch den Kursus der vierzig Karmasthanas
wurden alle Mittel methodisch rationalisiert zur sukzessiven Erreichung der vier Rang-
stufen der Erlösung.
Die höchste Stufe erlangt nach der Lehre wenigstens der Gemeinde, sahen wir, nur der
Mönch. Der fromme Laie aber war sogar von den einzigen kultusartigen Veranstaltun-
gen dieser ursprünglich notwendig gänzlich kultlosen Frömmigkeit: den Halbmonats-
versammlungen und der Uposâtha - Feier: - es sind im wesentlichen rein disziplinäre
Beichtversammlungen der Mönche, - ausgeschlossen. Ihm blieb also nichts als die
Verehrung der Mönche persönlich und der Reliquien durch Stiftung von Vihâras (Un-
terkunftshäusern, in alter Zeit noch ohne Klostercharakter), Bau von Stupas mit den
daran sich zunehmend anschließenden Kunstobjekten, an die sich dann bald, als zu-
nächst einzig mögliche Form der Laienfrömmigkeit, eigentlicher Reliquienkult an-
schl. Gerade die absolute Außerweltlichkeit und Kultlosigkeit der Mönchsfrömmig-
keit und das Fehlen jeder planmäßigen Beeinflussung der Lebensführung der Laien: -
ein sehr wichtiger Gegensatz des alten Buddhismus gegenüber dem Jainismus, - mußte
daher mit Notwendigkeit die Frömmigkeit der Laien in die Richtung der Hagiolatrie
und Idolatrie drängen, wie sie die Mehrzahl der späteren Mahayana - Sekten gepflegt
hat. Der alte Buddhismus war zwar Zauberkünsten durchaus abgeneigt. Aber er hatte
die Existenz der Geister” (devata) nie bezweifelt, und daraus entwickelte sich sehr
bald der Geisterzwang und die Kunst der Geomantik
1
). Wie leicht andererseits der
Umschlag von der mäcenatisch von Fall zu Fall versorgten Jüngergemeinschaft zum
stiftungsmäßig mit Baugrund und Baulichkeiten, dauernden Renten, Grundbesitz,
Sklaven, Hörigen ausgestatteten Klosterleben, im Ergebnis also: zur klösterlichen
Grundherrlichkeit erfolgte, zeigt schon die Geschichte des alten Buddhismus in Indien
und den Nachbarländern und vollends die durchweg auf Klostergrundherrschaft - ru-
hende Form, zu welcher, wie noch zu erzählen sein wird, der
1
) Vatthuwijja, dem chinesischen Fungschui entsprechend.
243
Hinduismus und Buddhismus. [242]
Buddhismus in Ceylon und Tibet gelangte. Als Gegenmittel gegen diese in der Tat fast
unvermeidliche Entwicklung hat der alte Buddhismus neben dem Verbot des Besitzes:
- welches aber zum mindesten für die Kleidervorräte, r welche eigene Verwalter von
Anfang an vorkamen, durchbrochen war, - das Gebot des Wanderns der Mönche und
die Ablehnung jeder hierarchischen oder parochialen, überhaupt jeder bindenden Or-
ganisation aufrecht erhalten. Die Diözesen (Sima), für welche die Halbmonats- und
Uposâtha -Feiern vom jeweils Aeltesten r die zufällig darin sich aufhaltenden Mön-
che angesetzt werden, waren keine exklusiven Sprengel. Eine Residenzpflicht oder
Zugehörigkeit zu einem bestimmten Kloster gibt es ursprünglich nicht. Bei den Ver-
sammlungen gilt nur der Vorrang des Alters (als Voll -Mönch, nicht: des Lebensal-
ters). Alle “Beamte” sind nur technische Hilfskräfte ohne imperium. Und die später
verschwundenen sogenannten Patriarchen” oder Väter” der alten buddhistischen
Kirche waren anscheinend ausschließlich durch Anciennität und Charisma qualifizierte
Arhats in einem seiner alten Tradition entsprechend charismatisch geachteten Kloster.
Ueber ihre Stellung scheint im übrigen Sicheres nicht bekannt zu sein. Da überdies die
Aufnahme in den Orden, nach vorgängigem Noviziat: Lehre bei einem Mönch als Di-
recteur de 1'âme und förmliche Zulassung auf Ansuchen und Empfehlung des Lehrers,
keinerlei dauernde Bindung enthielt, auch der Austritt jederzeit frei stand und jedem,
dessen Kraft nicht ausreiche, empfohlen wurde
1
), - so verharrte der Buddhismus, alles
in allem, infolge dieser absichtlichen, konsequent durchgeführten Minimisierung der
Bindung und Reglementierung, in einer Strukturlosigkeit, welche die Einheitlichkeit
der Gemeinschaft von Anfang an aufs schwerste gefährden mußte und auch tatsächlich
sehr bald zu Häresien und Sektenbildungen geführt hat. Das einzige Gegenmittel dage-
gen: die Berufung von Konzilien, versagte bald und ist offensichtlich nur durch Unter-
stützung der weltlichen Gewalt möglich geblieben. Es macht den Eindruck: daß selbst
die wenigen schließlich geschaffenen Ele-
1
) Auch große Lehrer des späteren orthodoxen Buddhismus haben nach der Tradition, sogar wieder-
holt, von der Macht der “Lüste” überwältigt, den Austritt aus der Gemeinde vollzogen und sich,
nachdem den Leidenschaften ihr Recht geworden war, wieder aufnehmen lassen. Ein Beispiel in J
- Tsing's Reisebeschreibung. 34, Nr. 7. Diese Laxheit war allerdings zweifellos Verfallsprodukt
und dem alten Buddhismus fremd.
244
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [243]
mente einer Organisation und Disziplin, also einer Ordensstiftung, ebenso auch die Fi-
xierung der Lehre, erst nach dem Tode des Stifters, entgegen seinen eigenen Absichten
entstanden. Es steht aus der Tradition fest, daß Ananda sein Lieblingsjünger, also der
Johannes” des primitiven Buddhismus war. Ebenso sicher aber ist den, sei es auch
sonst noch so wenig brauchbaren, Traditionen über das “erste Konzil(nach seinem
Tode) zu entnehmen: daß Ananda von den anderen Jüngern nicht nur bei Seite gescho-
ben, sondern als nicht ndenfrei zur Buße gezwungen wurde, und daß andere die
Gemeindeleitung in die Hand nahmen, - ebenso wie in der urchristlichen Gemeinde.
Die primitive Mönchsgemeinschaft wollte offenbar weder die spirituelle Sukzession
noch überhaupt die Aristokratie des Charisma in ihrer Mitte aufkommen lassen. Sie be-
tonte deshalb das Anciennitätsprinzip der (voll erlösten und also sündlosen) Arhats and
außerdem ein gewisses Mindestm von fixierter Ordnung, während Ananda vermut-
lich als Vertreter des ganz organisationsfreien charismatischen Prädikantentums galt.
Nur nach der Zahl der Was”, die er hat, das heißt, der seit dem Eintritt in das Kloster
verflossenen jährlichen Eintrittsjahreszeiten (also: Jahre), richtete sich bis in die Ge-
genwart der Rang der im übrigen untereinander streng gleichgestellten Mönche in or-
thodoxen birmanischen Klöstern: nach zehn Was ( Jahren) wird der Mönch ein Vollr-
nönch. Das ist sicher sehr alte Tradition. -
Die orthodoxe Lehre der Gemeinde, wie sie noch mehr als ein Jahrtausend später im
Hinayana - Buddhismus fortlebte, kannte außer der Anciennität nur ein ganz unbedingt
und allerdings höchst wirksam bindendes Strukturelement: die Beziehung zwischen
Lehrer (Upadhyaya) und Schüler. Der Novize hat die strengen Pietätsregeln des indi-
schen Bramacharin gegeber seinem Guru einzuhalten. Auch der rezipierte Mönch
durfte noch zu J - tsing's Zeit (7. Jahrhundert nach Chr.) erst nf Jahre, nachdem er
den Inhalt des Vianya - Kanons nach Ansicht des Lehrers vollständig innehatte, sich
überhaupt vom Lehrer entfernen. Er bedurfte auch dann noch r alle und jede Hand-
lung der vorherigen Genehmigung des letzteren, dem er keine für sein Heil wichtige
Regung vorenthalten durfte. Erst zehn Jahre nach der vollen Aneignung des Vinaya
hörte diese Bevormundung auf. Wer aber den Kanon sich vorher gänzlich anzueignen
nicht fähig war, blieb lebenslänglich unter jener absoluten Vormund-
245
Hinduismus und Buddhismus. [244]
schaft. Gerade die Hinayana - Orthodoxie scheint an dieser Pietätsbeziehung beson-
ders streng festgehalten zu haben. Die Anhängerschaft des alten Buddhismus in Indien
selbst, welche die spätere Entwicklung der Klöster zur Grundherrschaft und der Erlö-
sungslehre zu einer Laiensoteriologie perhorreszierte, rekrutierte sich, vom Stifter
selbst angefangen, aus gren Adelsgeschlechtern und reichen rgern, zwar nicht
ausschließlich, aber vorwiegend. Auch Brahmanen scheinen sich zu finden; aber es
waren Vertreter der vornehmen L a i e n bildung der weltlichen Honoratiorenschich-
ten, welche die Mehrzahl seiner Jünger stellten
1
). Antze zur Entwicklung von Stan-
deskonventionen liegen dem entsprechend weit zurück. Schon die vorgeschriebene
Form des Bettelns war dem Würdegefühl und guten Geschmack eines wohlerzogenen
Intellektuellen angepaßt. Niemals waren die Jünger Buddhas eine Horde kulturloser
Bettler. Nicht nur die Kleidung war von Anfang an im Gegensatz zu anderen Sekten
anständig reguliert und auch Gegenstand planmäßiger Vorsorge. Sondern die Anzie-
hungskraft des Buddhismus besonders auf die oberen Schichten erklärt sich zum Teil
wenigstens gerade durch seine sorgsame Rücksichtnahme auf Wohlanständigkeit. Das
Prâtimokkha der südlichen Buddhisten enthält eine lle rein konventioneller An-
standsregeln r die Mönche im Verkehr untereinander und mit der Welt”, bis herun-
ter zum Verbot des Schmatzens beim Essen. -
Dem entsprach die innere Eigenart der Lehre.
Ganz ungeheuer und grundlegend ist - wie man schon mehrfach bemerkt hat (nament-
lich Oldenberg) - der Unterschied der Predigt des Buddha, von der man aus der Tradi-
tion immerhin eine ungefähre Vorstellung zu gewinnen in der Lage ist, von derjenigen
etwa von Jesus einerseits, Muhammed andererseits. Die typische Wirkungsform des
Buddha ist der sokratische
1
) Das ergeben die literarischen Quellen und Legenden. Es wird auf die Zugehörigkeit besonders
vornehmer Leute ein erhebliches Gewicht gelegt. Aber sozial exklusiv war der Buddhismus jeden-
falls insoweit nie, als die Laien in Betracht kamen. In späterer Zeit finden sich in den buddhisti-
schen Inschriften (z. B. der von Bühler in der Ep. Ind. II S. 91 ff. zitierten Sañci - Inschrift) alle
Stände vertreten: Adlige und Bauern eines Dorfes, Gildekaufleute (Sheth), einfache Händler (Va-
ni), königliche Schreiber, Berufsschreiber, nigliche Werkstattvorsteher (Avesani), Soldaten
(Asavarika), Werkleute (Kamika). Jedoch wiegen Kaufleute und Händler vor. In einer älteren, aus
dem 2. oder 1. vorchristl. Jahrh. stammenden Inschrift (Ind. Antiq. XXI, 1890, S. 227) finden sich
1 Soldat, 1 Steinmetz, 1 “Haushalter” (Grihaspati), und zahlreiche geistliche Personen als Donato-
ren.
246
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [245]
Dialog, durch welchen der Gegner im Wege eines wohlüberlegten Raisonnements ad
absurdum geführt und zur Unterwerfung gezwungen wird. Weder das kurze Gleichnis
oder die ironische Abfertigung oder gar die pathetische Bußpredigt des galiläischen
Propheten, noch die auf Visionen ruhenden Ansprachen des arabischen heiligen Heer-
führers finden irgenwelche Parallelen im jenen rein auf den Intellekt, die ruhige, sachli-
che, mit keiner inneren Erregung beteiligte Erwägung wirkenden, souveränen, stets sy-
stematisch - dialektisch den Gegenstand erschöpfenden Vorträgen und Gesprächen,
welche die eigentlichste Form des Wirkens des Buddha gewesen zu sein scheinen. Es
war schlechterdings unmöglich - und man kann sich davon leicht überzeugen - ohne
ein recht erhebliches Maß von Schulung im spezifisch hinduistischen Denken ihnen zu
folgen, obwohl der Buddha, und zwar r einen hinduistischen Denker mit Recht, ver-
sicherte: daß seine Lehre so einfach sei, daß jedes Kind sie zu verstehen vermöge.
Denn jedenfalls galt dies nur r ein Kind aus einer, im althinduistischen Sinn, sehr
guten Kinderstube”.
Der Buddhismus ist vollends mit keinerlei sozialer” Bewegung verknüpft oder paral-
lel gegangen, hat auch nicht das mindeste sozialpolitische” Ziel aufgestellt. Die Igno-
rierung der ständischen Gliederung war nichts Neues. In den Gegenden der Entstehung
des Buddhismus - Magadha und den benachbarten nordindischen Gebieten - war die
Macht des Brahmanentums relativ schwach. Die vier alten Stände” waren zweifellos
längst im Zerfall - vor allem waren die freien Bauern (Vaiçya) eine Fiktion geworden.
Den Quellen der buddhistischen Zezt galten die Kaufleute als die typischen Vaiçya,
und der religiöse Abschluß von Kasten” gegeneinander, insbesondere die Gliederung
der Çudras in Berufskasten, stand, wie es scheint, mindestens in diesen Teilen Indiens
teilweise erst in den Anfängen und ist dort erst vom späteren Hinduismus in alle Kon-
sequenzen durchgeführt worden. Die individuelle Heilssuche der Sramana”, deren as-
ketische Leistungen in der religiösen Schätzung längst den zünftigen vedisch gebilde-
ten Priestern gleichgeachtet wurden, bestand als eine weit verbreitete Erscheinung. Die
Nichtachtung der Unterschiede der Stände durch den Buddhismus bedeutete also keine
soziale Revoiution, - soweit sie überhaupt Realität war, wie es allerdings scheint. Daß
Angehörige der niedrigsten Schichten sich unter den Anhängern des ältesten Buddhis-
mus be-
247
Hinduismus und Buddhismus. [246]
funden hätten, ist nicht überliefert und sehr unwahrscheinlich. Denn gerade die Srama-
na überhaupt entstammten ja von jeher weit überwiegend jenen Kreisen vornehmer
Laienbildung, die sich besonders stark aus dem stadtsässigen Kschatriyapatriziat
rekrutierten, etwa so wie bei uns die Humanisten. Es scheint im Gegenteil ziemlich si-
cher, daß der ursprüngliche Buddhismus genau wie der alte Jainismus zunächst an der
Ueberzeugung festhielt, daß ein zur vollen Gnosis Befähigter nur in der Brahmanen-
und Kschatryia - Kaste geboren werden könne. Auch der Buddha selbst wurde von der
Legende sehr bald von einem Landadelssprößling, der er historisch war, zu einem Kö-
nigssohn erhoben. Das reiche Stadtpatriziat, aber auch zahlreiche Brahmanen gibt die
Tradition als Proselyten seiner ersten Predigten an. Die vornehme Intellektuellen-
schicht, an welche sich Buddhas Lehre wendete, - die ja wie Oldenberg sich ausdrückt
keineswegs r Arme im Geiste” bestimmt sein konnte, - fühlte sich wie wir schon
sahen, innerhalb der damaligen indischen Kleinstaaterei in starkem Maße als eine
durch alle jene zufälligen und wechselnden politischen Bildungen, welche das Pathos
einer solchen Klasse unmöglich dauernd für sich beschlagnahmen konnten, hindurch-
greifende Einheit, ähnlich der Intellektuellenschicht unseres Mittelalters. Die buddhi-
stische Lehre selbst ist innerhalb eines Gebiets von darrials relativ bedeutender adeli-
ger und bürgerlicher Reichtumsentwicklung entstanden. Eine in dem Maß wie im spä-
teren Hinduismus oder auch wie nach den Ansprüchen der älteren Brahmanen herr-
schende Priesterschaft, welche dies Patriziertum hätte hindern können, sein Leben so
zu führen, wie es ihm selbst behagte, und nach Belieben zu glauben oder nicht zu
glauben was es wollte, war damals dort nicht vorhanden, und die weltlichen Gewalten
konnten keinerlei Anl finden, gegen eine absolut unpolitischeBewegung, wie es de-
ren schon massenhaft gab, Einwände zu erheben. Im übrigen ist die Regel Buddhas,
welcher der Tradition als Schützling des Königs Bimbisara, der ihn verehrte, galt, dar-
auf bedacht, alle Bedenken der weltlichen Gewalt zu umgehen: Soldaten, Sklaven,
Schuldverhaftete oder Verbrecher fanden in dem Orden keinerlei Aufnahme. Ein
Kampf gegen die Brahmanen, wie etwa bei Christus gegen die Pharier und
Schriftgelehrten, ist in Buddhas Predigt nicht zu spüren. Er läßt die Götter ebenso wie
die Bedeutung der Kasten dahingestellt. Er besteht nach der Tradition, auf nach-
248
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [247]
drückliches Befragen eines Brahmanen, nur darauf: daß nicht die Geburt, sondern das
rechte Tun den Brahmanen zum wahren Brahmanen mache. Ebenso findet sich kein ei-
gentlicher Kampf gegen das Opfer, wie er den Jaina eigentümlich war. Es hat nur r
das Ziel, dem der Starke und Weise nachgeht, keinen Wert.
Als Ganzes ist der alte Buddhismus Erzeugnis nicht etwa negativ, sondern vielmehr
stark positiv privilegierter Schichten. Allerdings kann keinem Zweifel unterliegen, daß
ein antihierokratischer Zug: die Entwertung des brahmanischen Ritualwissens und der
brahmanischen Philosophie es war, welches den rsten und dem Patriziat die Lehre
sympathisch machten. Daß gegen die Brahmanenhierokratie die auf die Dauer noch
stärkere hierokratische Macht der Bettelmönche eingetauscht würde, war eine Erfah-
rung, die erst den späteren Geschlechtern aufging. Die Ueberzeugung von einer spezi-
fischen Heiligkeit der Wandermönche und Asketen war längst Gemeingut aller sozia-
len Schichten in Indien, ebenso wie übrigens sehr vieler anderen Zeiten und Völker.
Die Ordensregel schrieb zwar gewiß nicht absichtslos ausdrücklich vor: daß der
Mönch auf dem Bettelgang unterschiedslos an die ren der Armen und der Reichen
klopfen solle. Innerhalb der Welt aber die soziale Ordnung zu ändern hat weder der al-
te noch der spätere Buddhismus versucht. Die Welt war für den Mönch indifferent.
Nicht wie im alten Christentum deshalb, weil die eschatologische Erwartung sie dazu
stempelte. Sondern umgekehrt: weil es keinerlei eschatologische Erwartung und - we-
nigstens nach der späteren Lehre auch keine Erlösung r den gab, der nicht Mönch
werden wollte, - und andererseits für den Mönch kein Menschenschicksal, welches
seine eigene Erlösungschance irgendwie hätte beeinflussen können. Die Art der Erlö-
sung, welche dem Bettelmönch versprochen wurde, war sicherlich nicht nach dem Ge-
schmack sozial gedrückter Schichten, die vielmehr einen Entgelt im Jenseits oder aber
zukünftige Diesseits - Hoffnungen verlangt hätten. Die Laiensittlichkeit aber trug den
Charakter einer äußerst farblosen bürgerlichen Ethik und ihre diesseitigen Prämien:
Reichtum und ein ehrenvoller Name, ebenfalls. Ein religiöses Naturrecht” höriger
Bauern oder zünftiger Handwerker gar hätte anders ausgesehen. Und daß eine in die-
sen Schichten als Heimat wurzelnde Erlösungsreligion oder überhaupt eine spezifische
Laienreligiosität der unteren Schichten einen gründlich anderen Charak-
249
Hinduismus und Bucldhismus. [248]
ter gehabt hätte, bewies die bald zu erzählende Entwicklung der Folgezeit.
Die Propaganda durch Lehre gehört als spezifische Lebensform dem rastlos wandern-
den Buddha ganz persönlich an. Ob sie ursprünglich r die Mönche als eigentliche
Pflicht” angesehen wurde, mag dahingestellt bleiben und ist eher unwahrscheinlich.
Die ausdrückliche P f l i c h t der Mission knüpft als solche vielmehr wohl erst an die
Wandlung des Erlösungsideals in den späteren Jahrhunderten an.
Der Buddhismus wurde aber eine der größten Missionsreligionen der Erde. Das m
wundernehmen. Denn rein rational angesehen ist kein Motiv zu entdecken, welches ihn
dazu hätte bestimmen können. Was sollte einen nur seine eigene Erlösung suchenden
und dafür ganz und gar auf sich selbst allein angewiesenen Mönch veranlassen, sich
um das Seelenheil anderer zu kümmern und die Mission zu betreiben ? Zumal gerade
dem Mystiker, vollends unter dem Einfluß der Karman - Lehre mit ihrer Determiniert-
heit der Erlösungschancen durch Karman und durch die von da aus bedingten Unter-
schiede der Qualifikation, ein solches Unternehmen doch höchst unfruchtbar erschei-
nen mußte. Lange schwankt in der Legende der Buddha, ob er auf Brahmas Bitte den
Menschen die Erlösungslehre verkünden sollte. Schließlich bestimmt ihn dazu der Um-
stand: daß neben den nach ihrer Qualifikation zum Heil und den zum Unheil bestimm-
ten er doch eine gre Zahl Menschen sieht, deren Qualifikation nicht eindeutig ist,
und deren Heilsschicksal also durch Heilsverkündigung beeinflußt werden kann. In-
dessen dies war nur eine dogmatische Deutung. Wo aber lagen die realen praktischen
Antriebe? Zunächst vermutlich in jenem rational nicht weiter deutbaren, psychologisch
(vielleicht physiologisch) bedingten Tatbestand, den wir kennen: Den großen Virtuo-
sen der mystischen Frömmigkeit eignet zumeist jener erbarmensvolle Liebesakosmis-
mus, der fast überall die psychologische Form des mystischen Heilsbesitzes: die eigen-
mliche Euphorie des gottinnigen Stillgewordenseins, begleitet. Er hat die Mehrzahl
von ihnen, den rationalen Konsequenzen der mystischen Heilssuche entgegen, auf den
Weg der Seelenrettung getrieben. Indessen dies Motiv, welches ganz offensichtlich
auch in der buddhistischen Mitleidsethik sich äußert, bestand auch bei anderen indi-
schen Mystikern. Daneben wirkte die Gepflogenheit wandern-
250
II. Die orthodoxen u. heterodoxen Heilslehren der indischen Intellektuellen. [249]
den Disputierens, welches, wie allen indischen Soteriologen der alten Intellektuellen-
schicht, so auch, in charakteristischer Art, dem Buddha eignete. Indessen auch dies
war eine allgemeine Erscheinung aller Soteriologien seiner Zeit. Entscheidend war für
den E r f o l g der Propaganda bei den Jaina, wie bei den Buddhisten: das Auftreten
von Berufsmönchen” in der Form von Gemeinschaften. Das entscheidende M o t i v
aber r den Betrieb der Propaganda lag natürlich in den materiellen Interessen der
Mönche an der Vermehrung der Nahrunggeber: der Upasaka. Auch dies Interesse zwar
war den konkurrierenden Mönchsverbänden, namentlich den Jaina, mit den Buddhisten
gemeinsam. Aber hier kamen dem Buddhismus in der Zeit seiner Expansion einige
Umstände zugute, welche auf der anderen Seite, praktisch angesehen, eine Schwäche
darstellten, die ihm später, in Indien selbst wenigstens, gegenüber der Konkurrenz der
orthodoxen Berufsmönche zum Unheil ausschlagen sollte. Einerseits die überaus ge-
ringen Ansprüche, welche er an die Laien stellte. Andererseits das vollkommene Feh-
len einer festen Organisation der Mönchsgemeinschaft und damit auch fixierter Pfrün-
deninteressen der Mönche selbst. r jede Konfession kommt die Krisis ihrer missio-
nierenden Expansion in dem Augenblick, wenn der typische Prozeß der Verpfrün-
dung” an ihr vollendet ist. Das heißt: wenn ihre Organisation so weit vorgeschritten ist,
daß ihre Einkünfte einerseits, ihre Heilsdarbietungen andererseits in festen Sprengeln
nach Art einer “Kundschaft” oder Rente” für ihre berufsmäßigen Heilsvermittler
(Priester, Prediger, Mönche) fest verteilt sind. Dann überwiegt unvermeidlich das mo-
nopolistische Interesse der Inhaber jener Kundschaften” und Präbenden über das ge-
meinsame Interesse an der Gewinnung von Neuland. Die Gemeinschaft erschwert dann
die Aufnahme von Novizen, um die Nahrungen” der schon vorhandenen Sprengelin-
haber nicht zu gefährden. Sie interessiert sich zwar r die Fernhaltung von Konkur-
renz auf ihrem Nahrungsgebiet, aber ihre Pfründner sind keine geeigneten Propagandi-
sten r die Mission auf Fremdgebieten. In der einen oder anderen Form läßt sich die-
ser Vorgang bei den meisten einstmals missionierenden Konfessionen verfolgen. Beim
Buddhismus nun schl die alte überaus akosmistische” Organisation (oder: Organi-
sationslosigkeit) in Verbindung mit der Ablehnung jeder Ordnung der Laienbeziehun-
gen die Verpfründung zunächst direkt aus.
251
Hinduismus und Buddhismus. [250]
Und gerade der den Asketen älterer Observanz so ärgerliche rein parasitäre Charakter
der buddhistischen Nahrungssuche, der Anschlan die damals aufblühenden Städte
und an die größeren Ortschaften überhaupt, verbunden mit dem sehr geringen Maß von
Bindung sowohl der Mönche wie der Laien, die sie ernährten, an rituelle Regeln, war
ein, äußerlich wenigstens, anfänglich sehr bedeutender Vorteil. Wir sahen, daß der alte
Buddhismus, von der fest gegebenen Verschiedenheit der Qualifikation r die Erlö-
sung als einer Grundtatsache ausgehend, den Laien fast keinerlei Verpflichtung aufer-
legte als eben: den Unterhalt der Mönche zu bestreiten, daß er ursprünglich keine Ab-
gaben an die Gemeinschaft, - aus welchen sehr schnell Präbenden der Mönche hätten
werden und die Kontingentierung ihrer Zahl hätte hervorgehen müssen, - kannte, son-
dern nur Geschenke an den einzelnen Mönch. Erst allmählich trat darin eine Aende-
rung im Sinne der gewöhnlichen Klosterorganisation ein. Die Avasika: die nicht nur
während der Regenzeit, sondern dauernd im Kloster residierenden, nicht mehr wan-
dernden Mönche, sind zweifellos, ebenso wie die festere Abgrenzung der Kirchspiele,
(sima) erst ein schon auf dem Weg zur Klostergrundherrschaft liegendes Entwick-
lungsprodukt. Diesen residierenden Mönchen lag neben der Meditation das Studium
der Sutras und ferner wissenschaftliche Arbeit ob. Der alte Buddhismus schätzte dage-
gen wie andere so auch die wissenschaftliche Arbeit nicht. Und vollends die Entste-
hung einer Literatur als Studienobjekt war bei der ursprünglich rein mündlichen Ueber-
lieferung unzweifelhaft erst sekundär. Solange dieser alte Zustand dauerte, mußte er zu
einer Ueberschwemmung des Landes mit missionierenden Jüngern und Mönchen h-
ren und hat dies getan.
Dennoch hätte der Buddhismus mindestens seinen internationalen Eroberungszug wohl
nicht antreten können ohne die historische Zufälligkeit: daß einer der ersten Großköni-
ge, die fast das ganze indische Kulturgebiet beherrschten, sein leidenschaftlicher An-
hänger wurde, wie bald zu berichten sein wird.
__________________
252
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [251]
_ III.
III. D i e a s i a t i s c h e S e k t e n - u n d H e i l a n d s r e l i g i o s i t ä t , Allge-
meine Gründe der Umwandlung, des alten Buddhismns S. 251. König Açoka S. 253. - Der Ma-
hayanismus S. 264. - Die Mission: I. Ceylon und Hinterindien S. 279. - 2. China S. 288. - 3. Korea
S. 294. - 4. Japan S. 295.g. Innerasien: der Lamaismus S. 309, - Die orthodoxe Restauration in Indi-
en. Allgemeiner Charakter S. 316. - Çivaismus und lingam-Kult S. 327 - Vischnuismus und bhakti -
Frömmigkeit S. 336. - Die Sekten und die Gurus S. 351. - Allgemeiner Charakter der asiatischen
Religiosität S. 363.
Der alte Buddhismus war, wenn nicht die zeitlich letzte, so doch jedenfalls die ck-
sichtslos konsequenteste der hinduistischen vornehmen Intellektuellensoteriologien
1
)
und insofern deren Vollendung”. Aeußerlich. ist er die einzige Erlösungsreligion ge-
wesen, welche wenigstens auf einige Zeit einmal: unter der Maurya - Dynastie, in ganz
Indien offiziell herrschende Konfession war. Freilich nicht dauernd. Seine innere Kon-
sequenz und darum auch seine äußere Schwäche lag darin: daß er auch in seinem prak-
tischen Verhalten die Erlösung auf diejenigen beschränkte, welche wirklich den Weg
zu Ende gingen und Mönche wurden, daß er sich im Grunde um die andern, die Laien,
kaum mmerte. Denn den Vorschriften, welche er für diese schuf, sieht man es an,
daß sie Akkommodationen ohne innerlich. einheitlichen Gesichtspunkt waren. Und vor
allem fehlte äußerlich das, was der Jainismus geschaffen hatte : eine Gemeindeorgani-
sation der Laien. Selbst die Mönchsorganisation war ja, sahen wir, auf das Allerunent-
behrlichste beschränkt. Dies Fehlen der Laienorganisation hat geschichtlich die Folge
gehabt, daß der Buddhismus in seinem Heimatland gänzlich verschwunden ist. Er hielt
trotz aller Akkommodation, die wir kennen lernen werden, dennoch die Konkurrenz
derjenigen orthodoxen und heterodoxen hinduistischen Sekten nicht aus, welche es
verstanden, die Laienschaft in feste Beziehungen zu ihrer Leitung zu setzen. Und eben-
so erwies er sich widerstandsunfähig gegenüber äußerer Gewalt, vor allem gegenüber
dem Islam. Die muhammedanische Eroberung suchte neben einer furchtbaren Zerstö-
rung der Idole aller
1
) Daß aber eine solche vornehme Intellektuellensoteriologie war, ist der Grund aller der Abgrün-
de, die zwischen ihm und dem alten Christentum lagen. Denn für dieses war, wie wir sehen
werden, gerade der Gegensatz gegen jedes vornehme Intellektuellentum das grunlegend Wich-
tige.
253
Hinduismus und Buddhismus. [252]
hinduistischen Religionen naturgemäß vor allem die führenden Schichten der Unter-
worfenen zu treffen: den Adel - soweit er sich nicht konvertieren li - und die Mön-
che, die er mit Recht als die eigentlichen Träger des organisierten religiösen Gemein-
schaftslebens ansah. Schon an sich lag ja, wie wir später sehen werden, die Antipathie
gegen Mönchsaskese von Anbeginn an in seinem Wesen. Die geschorenen Brahma-
nen”, die Mönche und zwar vor allem die buddhistischen Mönche, waren es daher zu-
erst, die er rücksichtslos abschlachtete. Im Buddhismus aber konzentrierte sich in den
Klöstern und der Mönchsgemeinde die Existenz. der Konfession überhaupt. Waren
diese vernichtet, so war es mit der Gemeinschaft zu Ende, und tatsächlich haben auch
nur Spuren ihrer Existenz den islamischen Einbruch überlebt. So gründlich war die
Vernichtung, daß selbst die Lage der heiligen Stätten : vor allem Lumbini, des indi-
schen Bethlehem, völlig vergessen wurde, bis europäische Ausgrabung sie wieder
aufdeckte. Allein schon lange vor dieser äußeren Katastrophe war die einstige Herr-
schaft des Buddhismus in Indien durch die Konkurrenz anderer Soteriologien gebro-
chen worden. Und vor allem : im vergeblichen Konkurrenzkampf mit ihnen hatte er
selbst seine innere Struktur tiefgreifend verändert. Das hat ihm die Behauptung der
Herrschaft in Indien nicht ermöglicht, wohl aber ist er wesentlich in dieser veränderten
Gestalt eine Weltreligionaußerhalb Indiens geworden.
Das treibende Moment der Umwandlung war, neben der unvermeidlichen Akkommo-
dation an die Bedingungen der Existenz in der Welt, das Interesse der Laienschaft.
Und zwar einer Laienschaft von wesentlich anderem Gepräge als die vornehmen
Kschatriya- und Schreschthi - Familien in der Zeit seiner Entstehung. Der Aufstieg des
Buddhismus wie des Jainismus vollzog sich zunächst auf den Schultern des Stadtadels
und vor allem des bürgerlichen Patriziats. Die Ablehnung des Priesterwissens und der
unerträglichen zeremoniösen Lebensreglementierung, der Ersatz der unverständlichen
toten Sanskritsprache durch die Volksmundart, die religiöse Entwertung der Kastenge-
bundenheit für das Konnubium und den geselligen Verkehr, verbunden mit der Ver-
drängung der Schlüsselgewalt der unheiligen Weltpriesterschaft durch eine Schicht von
Heilssuchern, welche wirklich Ernst machten mit dem heiligen Leben, - dies alles wa-
ren
254
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [253]
ge, welche der Laienbildung überhaupt, vor allem aber den patrizischen bürgerli-
chen Schichten der Zeit der ersten großen Städteblüte weit entgegenkommen mußten.
Die Kastenschranken lockerten sich damals wenigstens r den Zutritt zum religiösen
Heil. Nur die brahmanische Vedanta - Schule hielt streng an dem Grundsatz fest: daß
nur der Angehörige einer wiedergeborenen Kaste die Erlösung erlangen könne. Die
Samkhya - Schule trug kein Bedenken, auch den Çudra als erlösungsfähig anzusehen
und der Buddhismus ignorierte die Kastenangehörigkeit wenigstens bei der Zulassung
zum Mönchsorden gänzlich, so großes Gewicht er auf gute Manieren und also - der
Erziehung nach - gute Familie legte, und so nachdrücklich er die Herkunft der Mehr-
zahl seiner Anhänger aus ständisch vornehmen Kreisen betonte.
Nun aber entstand, bald nach dem Alexanderzuge, der die ersten, freilich sehr flüchti-
gen, Berührungen Nordindiens mit dem Hellenentum brachte, zum erstenmal - soviel
bekannt ein indisches Großkönigtum unter der Dynastie der Maurya. Das stehende
Heer und die Offiziere, das königliche Beamtentum und seine massenhaften Schreiber-
büros, die königlichen Steuerpächter und die königliche Polizei wurden nun die herr-
schenden Mächte. Der Stadtpatriziat wurde als Darlehensgeber, Uebernehmer von Lie-
ferungen und Leistungen benutzt, aber allmählich zurückgedrängt, die Gewerbe als
Träger von Leiturgien und Abgaben zu den neuen Mächten in Beziehung gesetzt. Der
Patrimonialismus der Großkönige trat an die Stelle des alten Kleinkönigtums. Damit
wandelte sich unvermeidlich die Lage sowohl des Adels wie des rgerlichen Patrizi-
ats. Die brahmanische Tradition schreibt der Maurya - Dynastie niedrigen Ursprung
zu, und mindestens im Beamtentum und Offizierkorps mußte ein Patrimonialfürst ge-
neigt sein, den Unterschichten Gelegenheit zum Emporkommen zu geben. Das stimmte
zunächst vortrefflich mit der Ignorierung der Ständeschranken durch die buddhistische
Erlösungsreligion zusammen und tatsächlich trat derjenige Großkönig der Maurya -
Dynastie, dem es zum erstenmal gelang, das ganze Kulturgebiet Indiens zu einem Ein-
heitsreich zu vereinigen, Açoka, zum Buddhismus über, zuerst als Laie, dann sogar
formell als Mitglied des Ordens.
Die wenigstens relative Nivellierung der p o l i t i s c h e n Macht der vornehmen
Stände, namentlich aber der an sich wahr-
255
Hinduismus und Buddhismus. [254]
scheinliche und auch ganz offensichtliche Fortfall der alten Kschatriya -Schicht mit ih-
ren zahllosen kleinen Burgen, der selbständigen Mittelpunkte einer vornehmen ritterli-
chen Bildung, mußte nun aber tiefgehende Folgen für die sozialen Bedingungen der
miteinander konkurrierenden Religionen haben. Der Laie”, um dessen Seele sie mit-
einander rangen, war nicht ausschließlich mehr der adlig Gebildete, sondern: der Höf-
ling, der schriftkundige Beamte, daneben aber der Kleinbürger und Bauer. Fürsten,
Priester und Mönche in gleicher Art mußten darauf bedacht sein, ihren religiösen Be-
dürfnissen entgegenzukommen, die politischen Machthaber, um die Massen zu dome-
stizieren, die Träger der Religion; um an ihnen Stützen ihrer geistlichen Macht und ei-
ne Quelle von Pfründen und Kasualien -Einkünften zu haben. Es begann eine plebeji-
sche - richtiger: auf die Befriedigung plebejischer religiöser Bedürfnisse eingestellte -
Epoche der orthodox indischen Soteriologie. Män kann sie etwa mit der Gegenrefor-
mationszeit und den ihr folgenden Epochen im Occident, die ja gleichfalls mit der Bil-
dung der patrimonialen Großstaaten zusammenfiel, vergleichen. Immerhin mit einem
gewichtigen Unterschied. In Europa zog die feste hierarchische Organisation der ka-
tholischen Kirche, zunächst in dem emotionalen Charakter ihrer Propaganda - Agitati-
on, dann in der zur Kaplanokratie bürokratisierten Struktur ihrer Verfassung, die Kon-
sequenzen. In Indien dagegen war eine weit kompliziertere Anpassung durch eine nur
als Stand oder als lockerer Verband von Klöstern zusammen-geschlossene, aber sonst
unorganisierte, Hierokratie zu vollziehen.
Die höfische Gesellschaft vermißte am alten Buddhismus einerseits die vornehme
Schriftbildung und Gelegenheit zu künstlerischer Formung, andererseits Mittel r die
Domestikation der Massen.
Der Kleinbürger und Bauer konnte ja mit den Produkten der Soteriologie der vorneh-
men Bildungsschicht nichts anfangen. Am wenigsten mit der altbuddhistischen Soterio-
logie. Er dachte nicht daran, Nirwana zu begehren, ebensowenig wie die Vereinigung
mit dem Brahman. Und vor allem: er hatte auch gar nicht die Mittel in der Hand, zu
diesen Heilszielen zu gelangen. Denn dafür war Muße r die Meditation erforderlich,
um die Gnosis zu erlangen. Diese Muße hatte er nicht und sah sich in aller Regel nicht
veranlt, sie sich durch ein Leben als Büßer
256
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [255]
im Walde zu verschaffen. Nun hatten sowohl die orthodoxe wie die heterodoxe Sote-
riologie dafür in gewissem Grade vorgesorgt: die orthodoxe durch die Heilsverheißun-
gen des Kastenritualismus, die heterodoxe durch eine sekundäre Laiensittlichkeit, für
welche ebenfalls Prämien in diesem und jenem Leben versprochen waren. Allein das
alles war doch wesentlich negativen und vor allem: wesentlich ritualistischen Charak-
ters. Es befriedigte in gar keiner Art das eigentlich religiöse Bedürfnis nach emotiana-
lem E r l e b e n des Ueberweltlichen und nach Nothilfe in äußerer und innerer Be-
drängnis. Jenes ungebrochene emotionale Bedürfnis insbesondere war und ist aber
überall r den psychologischen Charakter der Religion bei den Massen das ausschlag-
gebende im Gegensatz zu dem rationalen Charakter aller Intellektuellensoteriologie.
Für die emotionale Massenreligiosität nun hat es in aller Welt nur zwei typische Mög-
lichkeiten der Soteriologie gegeben: die Magie oder den Heiland. Oder beide zusam-
men: der lebende Heiland als Magier und Helfer in physischer und psychischer Not,
der tote vergottete Heiland als Nothelfer, Fürsprech und überirdischer Gegenstand in-
brünstiger Andacht und emotional - ekstatischer Wiedererweckung im Erlebnis des
Gottbesitzes oder der Gottbesessenheit. Den Weg der Anpassung an diese spezifisch
plebejischen religiösen Bedürfnisse ist fast die gesamte indische Soteriologie gegan-
gen. Das ist der grundlegende Tatbestand für das Verständnis der Entwicklung, die
nun zu skizzieren ist.
Der alte Buddhismus war auch in der Beziehung zu den Laien zum mindesten relativ -
vielleicht sogar absolut - magiefeindlich gewesen. Denn das strenge, mit der Strafe der
Todsünde belegte, Gebot an die Mönche (viertes Mönchs - Gelübde): sich nicht über-
menschlicher Fähigkeiten zu rühmen, mußte, selbst wenn man seine prinzipielle Trag-
weite noch so einschränkend interpretiert, die Bedeutung der Mönche als magischer
Nothelfer und Therapeuten ausschließen oder doch entwerten. Ebenso war der alte
Buddhismus mindestens relativ bilderfeindlich gewesen. Das Verbot des Buddha, ihn
bildlich darzustellen, ist zuverlässig überliefert und viele genuin altbuddhistische Re-
formatoren haben einen gewissen relativen Puritanismus, etwa vom Charakter des ci-
sterziensischen, in die Kirchen-kunst hineingetragen, sehr oft - wiederum wie bei den
Cisterziensern
257
Hinduismus und Buddhismus. [256]
- nicht zu deren künstlerischem Schaden. Der alte Buddhismus war endlich schlechthin
apolitisch gewesen; eine innere Beziehung zu politischen Gewalten war von ihm aus
eigentlich kaum auffindbar. In diesem letzten Punkt trat zuerst Wandel ein.
Der alte Buddhismus erreichte in Indien seine Akme unter der Regierung des Maurya -
Großkönigs Açoka, des ersten Monarchen, der nach ägyptischer, assyrischer und
achämenidischer Weise seine Taten und Anordnungen in zahlreichen Felsen - Höhlen-
und Säulen - Inschriften
1
) zu verewigen bemüht war. Daß dem König die Möglichkit
gegeben wurde, zunächst Novize, dann offizielles Ordensmitglied zu sein
2
) und doch
König zu bleiben, zeigt eine weitgehende Akkommodation des Ordens, so sehr auch
der König selbst
3
) betont, wie schwer es sei, diese Welt und die künftige zu gewinnen.
Denn immerhin galt der Monarch nicht als gewöhnlicher Mönch, sondern nahm eine
eigentümliche Sonderstellung ein. Es entstand damit erstmalig im Buddhismus ein An-
satz einer politischen Theorie: die Gewalt des Weltmonarchen (tschakravati) mdie
notwendig von allem Welthandeln abführende geistliche Gewalt des Buddha ergänzen.
Er ist Patron der Kirche etwa in dem Sinn, wie die byzantinischen Monarchen dies in
Anspruch nahmen. Seine Edikte zeigen auch sonst die eigentümlichen Konsequenzen
einer Halb - Theokratie. Die erste Konversion des Königs erfolgte nach der blutigen
Unterwerfung des Kalinga -Reiches. Der König erklärt
4
): daß er die Schlächterei, die
dabei unvermeidlich gewesen sei und bei welcher zahlreiche fromme Leute umge-
kommen seien, bereue, daß es fortan nicht zum Dharma seiner Nachfahren gehören
werde, durch das Schwert zu erobern, sondern durch und für die Macht des wahren
Glaubens, daß aber wichtiger als selbst diese friedlichen Eroberungen ihm das Heil der
Seele: die nächste Welt, sei. Mit dieser religiös - pazifistischen Fortwendung von dem
überkommenen Königs - Dharma ging, wie es nicht anders sein konnte, die Entwick-
lung zu einem patriarchalen ethischen und
1
) Außer in den großen Sammlungen findet man die wichtigsten auch in V. A. Smiths Açoka (Oxford
1901) zusammengestellt.
2
) Dies erklärt der üblicherweise als “Kleines Felsen - Edict I” gezählte Erl ausdrücklich; der König
sei 2
1
/
2
Jahre Laienschüler gewesen und jetzt im 6. Jahr im Orden
3
) In dem als “Säulen - Edict I” gezählten Erl.
4
) In dem als Großes Felsen - Edikt Nr. XIII gezählten Erl.
258
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [257]
karitativen Wohlfahrtsstaats - Ideal Hand in Hand. Der König, dem die Sorge für Land
und Volk obliegt
1
), muß r die öffentliche Wohlfahrt arbeiten, damit die Untertanen
glücklich sind und den Himmel gewinnen”. Zu jeder Tageszeit solle ihm rapportiert
werden dürfen, denn Eile tue in seinen Geschäften not
2
). Er selbst wendet sich einem
exemplarischen Leben zu, entsagt dem Krieg und den Jagdzügen, welche bis dahin,
wie überall, mit dem Kriegsdienst propädeutisch verknüpft gewesen waren bzw. im
Frieden dessen Stelle vertreten hatten. Er will statt dessen
3
) auf seinen Fahrten Propa-
ganda der Frömmigkeit treiben
4
). Er verbietet, dem Ahimsa entsprechend, das Schlach-
ten in der Hauptstadt Pataliputra und die mit Fleischorgien verknüpften Feste (samaja),
verkündet auch, daß in der königlichen che fortan kein Vieh mehr geschlachtet
werde
5
). Hospitäler r Menschen und Vieh nebst den erforderlichen Apotheken sollen
gestiftet, Frucht- und schattengebende Bäume an den Straßen gepflanzt
6
), Rasthäuser
für Menschen und Tiere an ihnen angelegt und Almosen verteilt werden
7
). Ungerechte
Tortur und Gefangensetzurg sollen aufhören
8
). Die wichtigste Eigentümlichkeit war
dabei die aus der altbuddhistischen Ablehnung der Gewaltsamkeit folgende Tole-
ranz”. Der König erklärt, daß alle seine Untertanen, gleichviel welchen Glaubens, sei-
ne “Kinder” seien und - mit Vendungen, die an das Bhagavadgita erinnern - daß es nur
auf die Ehrlichkeit der Frömmigkeit und auf den Ernst, mit welchen die praktiscllen
Folgerungen aus ihren Lehren gezogen werden, ankomme. Das Zeremoniell und die
äußeren Riten seien wenig tze
9
). Mit solchen Dingen würde, besonders Von den
Weibern, auf welche der König sehr schlecht zu sprechen ist
10
), sehr viel Unfug getrie-
ben und - gedacht ist wohl an Sexualorgien - geradezu sittlich verderbliche
1
) Großes Felsen - Edikt Nr. VIII.
2
) Großes Felsen - Edikt Nr. VI.
3
) Großes Felsen - Edikt Nr. IV; “statt der Kriegstrommel soll die Frömmigkeitstrommel gerührt
werden”.
4
) Großes Felsen - Edikt Nr. VIII
5
) Großes Felsen - Edikt X, Nr. I.
6
) Großes Felsen - Edikt Nr.II.
7
) Säulen - Edikt Nr. VII.
8
) Kalinga - Felsen - Edikt.
9
) Großes Felsen - Edikt Nr. IX.
10
) Ebenda.
259
Hinduismus und Buddhismus. [258]
Praxis geübt. Der König aber hält nicht viel von Geschenken und äußerer Ehrfurcht vor
der Religion, sondern nur davon,. daß das Wesen der Sache” durchgeführt werde
1
).
Er ehrt alle Sekten und alle Snde, Reiche und Arme, Brahmanen, Asketen, Jaina,
Ajivika (vischnuitische Asketen-Sekte) und andere ebenso wie die Buddhisten, wenn
nur ein jeder seiner Sekte mit wirklicher Aufrichtigkeit anhängt
2
). Und tatsächlich hat
er ihnen allen Stiftungen gemacht. Insbesondere wird zum mindesten in den früheren
Edikten die Ehrfurcht vor den Brahmanen eingeschärft. Die Sekten sollen sich der ge-
genseitigen Herabsetzung enthalten, die unter allen Umständen ein Unrecht ist
3
) und
sich gleichmäßig der Pflege des ethischen Gehalts ihrer Lehren zuwenden. Dieser
scheint offenbar dem König in allen Glaubensbekenntnissen wesentlich der gleiche zu
sein, obwohl er im Dharma des Buddha am vollkommensten enthalten ist. Er faßt die-
sen allgemein verbindlichen Inhalt als Frömmigkeitsgesetz” zusammen und zählt ihn
wiederholt dahin auf: 1. Gehorsam gegen die Eltern (und das Alter als solches)
4
), - 2.
Freigebigkeit gegen Freunde, Verwandte, Brahmanen, Asketen, - 3. Respekt vor dem
Leben, - 4. Vermeidung von Heftigkeit und Exzessen aller Art
5
). Nicht jeder kann das
ganze Gesetz erfüllen, jede Sekte aber kann die Herrschaft über die Sinne, Reinheit
des Herzens, Dankbarkeit und Treue pflegen und verbreiten
6
). Eine jede gute Hand-
lung trägt in der nächsten Welt ihre Früchte, oft schon in dieser
7
). Zur Kontrolle und
Durchführung schuf der König eigene Beamte, die meist sogenanntenZensoren”
(dhammaraharatra). Ihnen unterstand zunächst, scheint es, die Aufsicht über die könig-
lichen und prinzlichen Harems
8
). Weiterhin aber sallten die Provinzialbeamten alle fünf
Jahre längstens in allen Bezirken Versammlungen von Leuten halten, welche mild und
geduldig sind und das Leben achten
9
). Durch diese (und sicherlich durch
1
) Großes Felsen - Edikt Nr. XII.
2
) Säulen - Edikte Nr. VI und VII.
3
) Großes Felsen - Edikt Nr. XII.
4
) Dies ist im Säulen - Edikt Nr. VII und im Großen Felsen - Edikt Nr. V besonders erwähnt.
5
) Großes Felsen - Edikt Nr. III.
6
) Großes Felsen - Edikt Nr. VII
7
) Großes Felsen - Edikt Nr. IX.
8
) Großes Felsen - Edikt Nr. V.
9
) Kalinga - Felsen - Edikt.
260
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [259]
sonstige Revisionen der Zensoren) sollte das Pietätsgesetz propagiert werden. Durch
die Zensoren sollte der Lebenswandel der Frauen, ferner Verstöße gegen Pietät und
gegen die vom König anbefohlene Frömmigkeit gerügt werden
1
). Der Klerus
2
) soll
durch Unterricht der Getreuen im Gesetz helfen. Also eine Art von karolingischem
missatischem System und Rügegericht, nur ohne alle formalistische Grundlage, was
dem Ganzen einen Anklang an die Cromwellschen Tryers” und seinen Staat der Hei-
ligen überhaupt verleiht.
Der König mmit diesem ethischen Synkretismus auf hlbare Widerstände gestoßen
sein. Gegen politische Auflehnung blieb das bisherige Kriminalrecht in seiner vollen
Grausamkeit in Wirksamkeit, und die von ihm vorgeschriebene dreitägige Frist vor je-
der Hinrichtung, damit der Verbrecher durch Meditation wenigstens die Seele retten
könne
3
), wird kaum als Milderung empfunden worden sein. Ein Edikt klagt, daß der
König diejenigen, die er r wahr gehalten, als untreu erfunden habe
4
). Und es scheint
auch erkennbar, von welcher Seite der Widerstand ausging. Der König sagt in einem
anderen Edikt
5
): kein Ruhm tauge etwas, der nicht durch Frömmigkeit gewonnen sei,
zu der man nur durch vollständigen Verzicht auf die Güter der Welt gelange: dieser
aber sei für H o c h g e s t e l l t e sehr schwer. Und im Rupnath - Edikt
6
) hält es der
König für nötig, besonders zu betonen, daß nicht nur die Großen, sondern auch der
kleine Mann durch Verzicht auf die Welt das himmlische Heil erlangen könne. Daß der
König diese für die Herrenschichten peinlichen Feststellungen als Konsequenzen aus
dem Buddhismus ansah, zeigt das Rupnath - Edikt selbst durch seine Datierung: es ist
diejenige Urkunde, durch deren Datum
7
) der Zeitpunkt der Weltflucht Buddhas ge-
schichtlich festgelegt ist. Hier wird also allerdings der Buddhismus höchst absichtsvoll
als eine
1
) Großes Felsen - Edikte Nr. V, XII.
2
) So scheint “parisa” übersetzt werden zu müssen.
3
) Säulen - Edikt Nr. IV.
4
) Kleines Felsen - Edikt Nr. I. Allerdings ist fraglich, ob es sich hier um Menschen oder tter han-
delt und die Rupnath - Version würde wohl die Uebersetzung: “die tter, die er (der König) für
wahr gehalten habe, erwiesen sich als falsch”, bedingen. Indessen liegt der Gegensatz des Königs
gegen die Herrenschichten in der Sache selbst.
5
) Großes Felsen - Edikt Nr. X.
6
) Kleines Felsen - Edikt Nr. I, Rupnath - Version.
7
) 256 Jahre nach der Weltentsagung.
261
Hinduismus und Buddhismus. [260]
spezifisch nivellierende und in diesem Sinn “demokratische” Religiosität behandelt,
zumal im Zusammenhang mit der ganz geringschätzigen Behandlung des Rituals, also
auch des Kastenrituals. Mindestens jener absichtsvolle Gegensatz gegen die Herren-
schichten fehlte dem alten Buddhismus durchaus. Er lag nur als Möglichkeit in seiner
Entwertung der weltlichen Ordnungen überhaupt. Und die Möglichkeit ist nicht ganz
von der Hand zu weisen, daß gerade die Verbindung mit dem Patrimonial - Königtum
diese inneren Möglichkeiten im Buddhismus erst entbunden oder, wenn dies nicht,
dann doch verstärkt hat. Denn für das Patrimonial -Königtum schien er offenbar gerade
als Mittel der Massen - Domestikation wertvoll.
Der Eifer des Königsr den Buddhismus scheint allmählich zugenommen zu haben; er
fühlte sich auch selbst in ähnlicher Art als Herr und Patron der buddhistischen, wie die
byzantinischen Monarchen der christlichen Kirche. Im sogenannten Sanchi - Edikt
wendet er sich gegen Schismatiker in der Gemeinschaft (samgha) und schreibt vor, daß
sie nicht gelbe, sondern weiße Kleider tragen sollen:denn die samgha soll einig sein”.
Die formell größte Neuerung aber, welche höchstwahrscheinlich auf diesen vermutlich
zuerst zur systematischen Schreiberverwaltung übergegangenen König und auf das un-
ter ihm gehaltene Kirchenkonzil (angeblich das dritte) zurückgeht, war die schriftliche
Fixierung der bis dahin, 2
1
/
2
Jahrhunderte lang, nur mündlich überlieferten Tradition.
Der chinesische Pilger Fa - Hien, vom Kaiser ausgeschickt, um authentische Abschrif-
ten der heiligen Bücher zu besorgen, fand in ganz Indien nur in den Klöstern von Pata-
liputra (dem Sitz des Königs und - angeblich - des Konzils) und in Ceylon Nieder-
schriften, sonst nur mündliche Tradition. Es ist klar, was die Niederschrift für die Wah-
rung der Einheit der Kirche, ebenso aber: was sie r die Mission bedeutete. In einem
Literatenland wie China konnte der Buddhismus nur als eine Buchreligion überhaupt
Ffassen. Und tatsächlich geht die Inszenierung oder wenigstens die programmati-
sche Verkündigung der buddhistischen Weltmission auf Açoka zurück. Mit Feuereifer
warf er sich gerade darauf. Durch ihn erhielt der Buddhismus den ersten großen An-
stoß, eine internationale Weltreligion zu werden. Zunächst sollten die wilden Stämme
bekehrt werden
1
). Aber dann machte sich der König daran,
1
) Kalinga - Felsen - Edikt.
262
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [261]
durch Gesandtschaften an fremde Mächte, vor allem auch an die hellenistischen
Großmächte des Westens bis Alexandria, die reine Lehre in aller Welt bekanntzuma-
chen, und eine vom König gestützte Mission wendete sich den ceylonesischen und hin-
terindischen Gebieten zu. Einerlei welches der unmittelbare Erfolg war, - und er war
zunächst nur in Ceylon und nach Norden zu bedeutend -, so hat jedenfalls die große in-
ternationale Expansion des Buddhismus in Asien damals ihren ideellen Anfang ge-
nommen. Er ist offizielle Konfession in Ceylon, Birma, Annam, Siam und andern hin-
derindischen Staaten und Korea, in umgewandelter Form später in Tibet geworden und
geblieben und hat geraume Zeit sowohl China wie Japan religiös beherrscht. Um frei-
lich zu dieser Rolle berufen zu sein, mußte die alte Intellektuellensoteriologie tiefgrei-
fende Umwandlungen durchmchen. Zunächst war schon dies eine vollkommen neue
Situation r den Orden: daß ein weltlicher Herrscher als solcher Rechte innerhalb ih-
rer Angelegenheiten in seine Hand nahm. Diese Rechte und ihre Einwirkung waren
nicht unbedeutend. Insbesondere die später klassischen Gebiete des alten, orthodoxen
(Hinayana-) Buddhismus geben von der eigenartigen Theokratie der buddhistischen
Monarchen eine deutliche Vorstellung. Durchweg ernennt oder (mindestens) bestätigt
der König einen Patriarchen” der buddhistischen Landeskirche (in Siam Sankharat, in
Birma Thatanabaing genannt, stets einen Abt eines charismatisch ausgezeichneten
Klosters.) Es ist - freilich: entgegen der Tradition - immerhin möglich, daß, diese Wür-
de zuerst unter Açoka aufkam; denn vorher scheint einfach die Anciennität (des Klo-
sters und innerhalb dieses des Mönchs) entscheidend gewesen zu sein. Der König ver-
leiht ferner (so in Siam) ausgezeichneten Mönchen Titel: dies ist offenbar aus der Stel-
lung des Königs - Kaplans hervorgegangen
1
). Er revidiert die Klöster auch durch welt-
liche Beamte auf ihre Disziplin hin und zieht Mönche, die sich gegen diese vergehen,
zur Verantwortung. Er hat also eine offizielle Stellung mindestens in der Kirchendiszi-
plin. Daß der König selbst das Mönchsgewand nimmt, kommt vor. Allein er läßt sich
alsdann von seinem Guru von der vollen Innehaltung der Gelübde dispensieren: eben
dies ist vielleicht (obwohl kein Zeugnis vorliegt) gleichfalls eine Schöpfung Açokas
oder
1
) Der Titel heißt in Siam: “Lehrer des Königs”.
263
Hinduismus und Buddhismus. [262]
seiner Nachfolger. Es diente dazu, ihm den kirchlichen Mönchsrang zu sichern. Es hat
dazu geführt, daß in den orthodoxen (hinayanistischen) Gebieten überhaupt der zeit-
weise Eintritt, in die Mönchsgemeinschaft als vornehme Sitte und Teil der Erziehung
ngerer Leute galt, und daß die zeitweise oder teilweise Erfüllung von Mönchspflich-
ten seitens der Laien ein spezifisch verdienstliches, die Wiedergeburtschancen för-
derndes Werk wurde. Dadurch wurde eine gewisse äußere Annäherung der Laien-
Frömmigkeit an die mönchische Heilssuche herbeigeführt
1
). Viel weittragendere Fol-
gen hätte die im Anschlan die Klostererziehung der Vornehmen und in deren Nach-
ahmung r die Massen der Laien geschaffene Volksschulerziehung durch die Mönche
haben können, wenn sie rationalen Charakter gehabt hätte. Denn wenigstens in Birma
war die Volksschulerziehung nahezu universell. Sie umfte dort und in Ceylon, ihrem
Zweck entsprechend, Lesen und Schreiben (in der Landes - und in der Sakralsprache)
und religiöse Unterweisung (aber z. B. kein Rechnen, da dies ja religiös nutzlos war).
Es ist wiederum nicht unwahrscheinlich, daß Açokas Eifer auch für die innere Missi-
on” zuerst den Anstoß zu dieser dem Altbuddhismus zunächst keineswegs naheliegen-
den Arbeit an den Laien gegeben hat. Zum erstenmal im Gebiet hinduistischer Kultur
trat die Idee des Wohlfahrtsstaats”, des allgemeinen Besten” (von dessen Förderung
Açoka als von der Pflicht des Königs redet), auf. Wohlfahrt” wurde aber dabei teils
geistlich: als Förderung der Heilschancen, teils karitativ verstanden, n i c h t aber: ra-
tional ökonomisch. Die gewaltigen Bewässerungsbauten der Ceyloneser Könige ande-
rerseits waren wie die nordindischeri (schon Tschandraguptas) durchaus fiskalisch, auf
Vermehrung der Steuerzahler und der Steuerkraft, orientiert, nicht wohlfahrtspolitisch.
Indessen mit diesen theokratischen Konsequenzen waren die Umwandlungen des alt-
buddhistischen Mönchtums nicht erschöpft. Die alte Mönchsgemeinschaft mußte, zu-
nächst schon infolge des Gewichts der Massen, welche ihr zuströmten, ihren
1
) Es wurde im allgemeinen außer den Grundgeboten: nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen,
nicht lügen, nicht Alkohol trinken, noch die Meidung von Tanz, Gesang und Theater, von Salben
und Parfüms und eine gewisse Nahrungsreglementierung verlangt. Als besonders verdienstlich
galt gutwillige völlige Keuschheit. - Der früher zitierte Laien - Dekalog dürfte dieser Laienethik
entspringen.
264
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [263]
streng weltfchtigen Charakter mildern und weitgehende Konzessionen machen an die
Leistungsfähigkeit des Durchschnittsmönchs und auch an die Erfordernisse der Exi-
stenz von Klöstern, welche nicht Stätten der Heilssuche vornehmer Denker, sondern
Zentren religiöser Mission und Kultur sein sollten. Im übrigen aber mußte den Bedürf-
nissen der Laien, welche im alten Buddhismus dessen Natur nach eine wesentlich zu-
fällige Rolle spielen, entgegengekommen, also die Soteriologie in der Richtung der
magischen und der Heilandsreligiosität umgebogen werden. Die erste der beiden Ten-
denzen tritt uns in den Quellen zuerst deutlich zutage.
Ein Edikt Açokas spricht von Schismatikern” innerhalb der Samgha. Die mahayani-
stische Tradition
1
) läßt das gre Schisma zuerst auf dem Konzil (Sanghiti) von
Vaiçali (angeblich dem zweiten) zum Ausbruch kommen, welches angeblich 110 Jahre
nach Buddhas Tode, vielleicht
2
) aber erst unter Açoka und auf seine Veranlassung
stattfand. Unabhängig von der historischen Korrektheit der Einzelheiten ist der Grund
der ältesten Spaltung sowohl nach der Tradition wie nach der Natur der Sache selbst
im wesentlichen klar. Die berühmten 10 Thesen” der Vajji Mönche, über welche eine
Einigung nicht stattfand, waren durchweg disziplinärer, nicht dogmatischer Natur. Ne-
ben einigen Einzelheiten der klösterlichen Lebensführung, die sämtlich auf Erleichte-
rung der Disziplin hinzielten, aber wesentlich formales Interesse haben und einer orga-
nisatorischen Frage, die mit den Präludien des Schisma zusammenhing
3
), gab es einen
fundamental wichtigen Punkt. Genau den gleichen, an welchem sich seinerzeit die
Scheidung der Konventualen und Observanten im Franzis-
1
) Tchullavaggha XII.
2
) Die Gründe, welche L. de Millo(Annales du Musèe Guimet, Bibl. de Vulgarisation, Conférence
v. 18. XII. 1904) dafür geltend macht, daß der inschriftlich und auch sonst nicht nachweisbare
König Kalaçoka (der schwarze Açoka) mit dem bekannten buddhistischen Monarchen und daher
auch das unter diesem König angesetzte Konzil von Pataliputra (242 v. Chr.) mit dem Konzil von
Vaiçali identisch ist, haben manches für sich. Die Schwierigkeiten liegen in der Tradition. Nach
der Mahayana - Tradition müßte der Verlauf des Konzils von Vaçiali ein anderer gewesen sein als
nach den Hinayana - Berichten. Das wäre nicht verwunderlich. Aber es sind die Fragen, welche
dem Konzil von Pataliputra unter Açoka vorlagen, überliefert und sie sind nicht nur disziplinärer
Natur.
3
) Nämlich: ob in der Diözese mehrere Upasatha - Versammlungen zulässig seien.
265
Hinduismus und Buddhismus. [264]
kaneroden vollzog: den ökonomischen. Die Anordnungen des Stifters verboten jegli-
chen Geldbesitz, also auch die Annahme von Geldspenden. Als nun - erzählt die Tradi-
tion - einer der strengen Observanz infolgedessen Geldspenden zurückwies, erklärte
dies die Mehrheit für eine Beleidigung der Laien. Die ihm gewährte Gelegenheit zur
öffentlichen Abbitte benutzte er, um sein Recht zu vertreten, worauf er, weil er ohne
Auftrag der Gemeinde gepredigt habe”, gebüßt wurde. Im übrigen soll nach hinayani-
stischer Tradition das Konzil die altorthodoxe Lehre bestätigt haben. Eine Einigung
fand jedenfalls nicht statt.
Neben die disziplinären traten aber sehr bald auch dogmatische Kontroversen. Und
zwar zunächst im Zusammenhang mit der Lehre von der diesseitigen Erlösung. Es ist
überliefert, daß dem unter Açoka abgehaltenen Konzil vom Vorsitzenden drei Fragen
vorgelegt worden seien, nämlich 1. ob ein Arhat aus der Gnade fallen könne, - 2. ob
die Existenz (der Welt) real sei, - 3. ob Samadhi (die Gnosis) auf dem Wege des fort-
gesetzten Denkens zu erreichen sei. Die erste Frage hatte eine gewichtige ethische Sei-
te: der Anomismus (das auch von Paulus bekämpfte παντα µοι εξεστιν”) wäre Fol-
ge der Bejahung. Die beiden anderen hingen mit, der Heilslehre zusammen. Sie zeigen
vor allen Dingen deutlich das Eindringen der Spekulation, - entsprechend dem Eindrin-
gen des Hellenismus in die alte Christenheit. Der Mahimsashasaka - Schule stand
schon damals die Sarvastivada - Schule gegenüber, welcher der Vorsitzende des Kon-
zils beitrat und welche das Eindringen der Spekulation abzudämmen suchte. Vergeb-
lich. Die späteren Konzilien befaßten sich mit Dogmatik, wurden von der jeweiligen
Minderheit als tendenziös zusammengesetzt nicht anerkannt und das Schisma war da-
mit in aller Form da. Geographisch verteilten sich die Parteien im Laufe der Zeit im
wesentlichen so, daß die altbuddhistische, strenge Observanz (Hinayana) schließlich in
dindien , die laxere Richtung (Mahayana, das große Schiff”, d.h. die Universalkir-
che) seit 1. Jahrh. nach Chr.
1
) im Norden vorherrschte.
Die Ueberlieferung macht es wahrscheinlich, daß die Laien entweder von Anfang an
oder doch später auf seiten der laxeren, ursprünglich Mahasamghika (große Gemeinde)
genannten Richtung, des Mahayana, und im Gegensatz zu den Sthaviras, den
1
) Nicht jedoch dauernd, z. B. offenbar nicht in der Zeit von J - tsings Reise nach Indien (7. Jahrhun-
dert).
266
III. Die Asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [265]
Aeltesten”: erprobten charismatischen Arhats, standen. Denn als Spezialität der Ma-
hasamghika; ist die Mitwirkung der Laien auf den Konzilien überliefert
1
). Es handelt
sich natürlich nicht um die unteren” Klassen - von denen überhaupt als aktiv treiben-
dem Element nie die Rede ist und sein konnte - sondern gerade um Herrenschichten.
Auch vornehme Damen sollen sich als Parteigängerinnen der Mahayana - Schule her-
vorgetan haben: Dies ist ebenso begreiflich wie die Parteinahme der Kurie im 14. Jahr-
hundert für die Konventualen und gegen die strenge Observanz der Franziskaner. Die
Abhängigkeit der Mönche von den Herrenschichten war um so größer, je weniger
welltablehnend” sie waren. Die fast schrankenlose klerikale Herrschaft der Hinayana
- Orthodoxie in Ceylon und Birma über die Laien, gegen welche die weltliche Gewalt
der Herrscher oft vollkommen ohnmächtig war, hatte - wie die bald zu erwähnenden
Berichte der chinesischen Pilger zeigen - auch in Nordindien unter der Vorherrschaft
des Altbuddhismus vielfach bestanden. Der gleiche Kampf zwischen der Laiengewalt
und dem Mönchtum, der im byzantinischen Reich jahrhundertelang bestand, ist auch in
Indien geführt worden, nur in anderen Formen. r die weltliche Gewalt bestand das
Interesse, die Mönche als Domestikationsmittel der Massen zu gebrauchen. Denn
wenn auch die Massen” nie die aktiven Träger der buddhistischen Religiosität waren,
so haben sie doch selbstverständlich, als Objekt der Beherrschung durch die Mittel des
religiösen Glaubens, hier wie bei allen religiösen Stellungnahmen der Herrenschichten
eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Im Wege der Hagiolatrie aber haben die budd-
histischen Mönche vielfach auch die Massen stark an sich gefesselt.
Zu diesem politischen Grund trat der immer stärkere Einfluß der schulmäßigen brah-
manischen Spekulation und ihrer Begriffe auf das buddhistische Denken. Noch die
Schilderungen J - tsings aus dem 7. Jahrhundert
2
) lassen erkennen, daß man an die
brahmanische Tradition zunächst vor allem im lehrtechnischen Interesse anknüpfte.
Die Technik der Erlernung der Veden gilt ihm als unerreicht zur formalen Schulung
des
1
) Der Name wird schon von Hiuen Tsang davon abgeleitet. (Bei S. Julien, Hist. de Hiuen- Tsang
p. 159.)
2
) Ch. 34 der Uebersetzung von Takakusu bei Nr. 9.
267
Hinduismus und Buddhismus. [266]
Geistes, vor allem r das Behalten der eigenen Argumente, aber auch der des Ge-
gners. Das Literateninteresse verlangte eben die Pflege der Wissenschaft und die 5 Vi-
dya: Grammatik (wie stets die wichtigste), Medizin, Logik, Philosophie und auch be-
reits die von den literarischen nstler - und Techniker - Kreisen verlangte theoreti-
sche Pflege der schönen nste” (Silpasthanavidya) tauchten auf - selbst in der Hi-
nayana - Schule - und mußten sich wohl oder übel der alten brahmanischen Sprache
bedienen. Klosterschulen für Laien und Kinderfibeln entstanden. Daß in dieser ganzen
Entwicklung, vor allem aber im Mahayana, die vornehmen Schichten in besonderem
Maße die Führung hatten, wird nicht nur durch das ausdrückliche Anerkenntnis der
Kastengliederung
1
), welche vorher ignoriert worden war, hinlänglich dargetan, sondern
auch durch den äußerlichen Umstand, daß jene Schule im Gegensatz zu den alten Hi-
nayana - Buddhisten die später zu besprechende von Kaschmir ausgehende Renais-
sance des Sanskrit mitmachte: ihre heiligen Schriften wurden in der älten Gelehrten-
sprache abgeft, der Pali - Kanon blieb im Besitz der südlichen Buddhisten. Die hei-
lige Literatur schied sich nun allmählich ebenso vollständig, wie zwischen den beiden
Jaina - Sekten. Denn in jeder Hinsicht wuchs der Gegensatz der Schulen sehr bald über
die anfänglichen disziplinären Anlässe hinaus. Das Bild, welches man in der Reise-
schilderung Fa Hiens erhält (um 400 nach Chr.)
2
), - der, selbst Mahayanist, doch zwei
Jahre in Ceylon, dem Hort der Orthodoxie, verweilte, - ist noch ein relativ friedliches.
Weithin nach Turkestan hat sich die Lehre verbreitet. Ganz entsprechend den Edikten
Açokas halten die dortigen
3
) Könige die nfjährliche Versammlung ab. In Nagrak (bei
Jelladabad) ist der König jeden Morgen im Gottesdienst. Aehnlich in Takshasila. Ein
Jahrhundert spätere Nachrichten
4
) zeigen, daß die Könige im Pandjab teilweise noch
1
) Ein Bodhisattva, lehrte schon das Lalita Vistara, kann nicht nur nicht bei Barbaren- und Grenzvöl-
kern (sondern nur auf dem heiligen Boden Indiens), sondern auch nur in einer vornehmen Kaste
(Brahmanen oder Kschatriya) geboren werden, nicht im niederen Volk. Die älteren Mahayana -
Sutras (übersetzt im Band 49 der Sacred B. of the East) behandeln es auch als selbstverständlich,
daß nur ein “Sohn aus guter Familie” die Erlösung erlangen könne.
2
) Ausgabe von S. B e a l (Travels of Fah Hien and 5ung Yun, transl. from the Chinese, London
1869).
3
) Im Königreich “Kie - che” a. a. O. ch. V, p. 15.
4
) Sung Yun bei St. Julien a. a. O. p. 188.
268
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [267]
im 6. Jahrhundert als strenge Vegetarier lebten, und keine Todesstrafen verhängten.
Für die Gegend von Mathura berichtet Fa Hien
1
), daß die Beamten des Königs feste
Einnahmen haben, keine Schollenfestigkeit, niedrige Steuern und nicht das im indi-
schen Patrimonialgroßstaat übliche System der Kopf- und Steuerlisten bestand, alle
Kreaturen geschont, kein Fleisch gegessen, keine Schweinehaltung und kein Viehhan-
del geduldet, keine geistigen Getränke und nur von der (unreinen) Tschandala - Kaste
Zwiebeln und Knoblauch genossen wurden, auch die Todesstrafe fehlte. Açokas Reich
war längst zerfallen. Aber relativ pazifistische Kleinkönigreiche herrschten in Nordin-
dien vor. In Oudiana (zwischen Kaschmir und Kabul) dominierte die hinayanistische
Schule. Ebenso in Kanauj. In der in Ruinen liegenden Hauptstadt Açokas, Pataliputra
(Patna), waren Klöster beider Schulen vorhanden und in der Gegend von Farakhabad
duldeten sie einander am gleichen Aufenthaltsort
2
). In der Gegend von Mathura, von
deren politischen Verhältnissen soeben berichtet wurde, herrschte die Mahayana -
Schule, aber nicht ausschließlich. Buddhistische Brahmanen werden als Gurus der Kö-
nige der Gegend von Pataliputra erwähnt
3
). Bei Sung Yun wird sogar gesagt, daß,
während ein Erobererkönig in Gandhara seinerseits den Buddha verachte, das Volk
der Brahmanenkaste angehöre” und großen Respekt vor dem Gesetz des Buddha ha-
be
4
). Der Buddhismus war nach wie vor eine Lehre der vornehmen Intellektuellen. Es
interessierte alle diese Pilger, ganz ebenso wie den über 2 Jahrhunderte später nach In-
dien pilgernden Hiuen - Tsang, lediglich das Verhalten der Könige und ihrer Hofbeam-
ten. Im übrigen aber hat sich in der Zeit Hiuen - Tsangs (628 und folgende Jahre) sicht-
lich manches geändert. Zunächst der Gegensatz der Mahayana - Schulen gegen die hi-
nayanistische Orthodoxie. Ein Hinayanist wird von schwerer Krankheit befallen, weil
er Mahayana geschmäht hat
5
). Es ist überhaupt eigentlich nur vom Mahayana die Rede
und Hiuen Tsang hält es auch nicht r nötig, nach Ceylon zu gehen. Dazu: gesteiger-
tes Eindringen spezifisch brahmanischer Elemente in die zunehmend
1
) A. a. O. (Beal) p. 537.
2
) A. a. O. p. 67.
3
) A. a. O. p. 103 f.
4
) A. a. O. p. 197.
5
) Bei St. Julien p. 109.
269
Hinduismus und Buddhismus. [268]
vorherrschende Mahayana - Lehre. Indien heißt bei Hiuen - Tsang das Reich der
Brahmanen(To - lo - man). Statuen von Brahma und Indra stehen in Heiligtümern des
Gangestales neben dem Standbild Buddhas
1
). Die Veden (Wei ho) werden zwar als
subalterne” (d. h. laienhafte) Lektüre
2
) bezeichnet, aber eben doch gelesen. Der Kö-
nig von Kosala verehrt den Buddha, daneben aber in brahmanischen Tempeln die hin-
duistischen Devas
3
). Wenn es auch noch Könige gibt (Ciladitya), welche alljährlich
das gre Konzil des Buddhistenklerus einberufen
4
), so ist dies doch offenbar nicht die
Regel. Zunehmende Schärfe der Schulgegensätze, Zurückdrängung des Hinayana in
Nordindien, aber auch Rückgang des Buddhismus überhaupt ist der Eindruck.
Für die Verschärfung des Gegensatzes zwischen Mahayana und Hinayana waren die
alten disziplinären Unterschiede damals nicht mehr mgebend.
Auch im Hinayana wurde das alte Geldbesitz - Verbot der strengen Observanz mit den
gleichen Mitteln umgangen, wie bei den Franziskanern. Laienvertreter empfingen das
Geld und verwalteten es für die Mönche, und selbst in der alten orthodoxen Kirche
Ceylons herrschte schließlich der Klingelbeutelbetrieb. Klostergrundherrschaften und
dauernde, nicht, wie ursprünglich, auf die Regenzeit beschränkte Klosterseßhaftigkeit
der Mönche bestanden hier wie dort, im allergrößten Umfang zeitweise - wie noch zu
erörtern - gerade in Ceylon, dem Sitz der strengen Observanz. Gegentze und Anpas-
sungsbedürfnisse anderer, religiöser, Art haben vielmehr in der Mahayana - Kirche die
weitere Fortentwicklung von der alten Soteriologie bestimmt. In erster Linie die reli-
giösen Laieninteressen, welche aus propagandistischen Gründen zu berücksichtigen
waren. Die Laien begehrten Nirwana nicht und konnten mit einem nur exemplarischen
Propheten der Selbsterlösung wie Buddha nichts anfangen. Sondern sie verlangten
nach Nothelfern für das diesseitige Leben und nach dem Paradies für das jenseitige. Es
setzte daher im Mahayana jener Prozeß ein, welchen man gewöhnlich als die Erset-
zung des Pratyeka - Buddha- und Arhat- (Selbsterlösungs-) durch das Bodhisattva-
(Heilands-) Ideal bezeichnet. Während die Hinayana -
1
) Ebenda p. III.
2
) “Livres vulgaires” übersetzt St. Julien.
3
) Ebenda p. 185.
4
) Ebenda p.205.
270
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [269]
Schule ihre Anhänger in Çravakas (Laien), Pratyeka - Buddhas (Selbsterlöser) und
Arhats (Erlöste) als religiöse Stände teilte, wurde das Bodhisattva - Ideal der Mahaya-
na - Sekte eigentümlich und gemeinsam. Es setzte eine innere Umwandlung der Erlö-
sungstheorie voraus. In der Frühzeit des Buddhismus wurde der Streit zwischen den
Aeltesten” (Sthaviras), d.h. den charismatischen Trägern der Gemeindetradition und
den Mahasamghika”, den schulmäßig spekulativen Denkern: den Intellektuellen, ge-
führt, wie wir sahen. Von den Fragen der Disziplin und der praktischen Ethik griff er
auf spekulative Fragen über: die sattva- Probleme, die Fragen nach der Naturdes
Erlösungszustandes und folglich zunächst: über die Person des Erlösers. Die alte Schu-
le hielt an seiner Menschlichkeit fest. Die Mahayanisten entwickelten die ”Trikaya” -
Theorie: die Lehre von dem übernatürlichen Wesen des Buddha. Er hat drei Erschei-
nungsformen: einmal die Nirmana Kaya, den Verwandlungsleib”, in welchem er auf
Erden wandelte. Dann die Sambhoga Kaya, den, etwa dem Heiligen Geist” entspre-
chenden, alldurchdringenden Aetherleib, der die Gemeinde bildet, endlich die Dharma
Kaya, von der später zu reden ist.
Auf diesem Wege vollzog sich zunächst an Buddha selbst der typische hinduistische
Vergottungsprozeß. Damit verband sich nun die hinduistische Inkarnationsapotheose.
Der Buddha war eine in einer Serie von Wiedergeburten stets erneut zur Erde steigen-
de Verkörperung der (unpersönlichen) göttlichen Gnade, für welche vielfach auch ein
ewig dauernder Träger: ein Adibuddha, als existierend gedacht wurde. Von da war der
Weg nicht weit, den Buddha zu einem Typus: dem Repräsentanten des zur vollen Erlö-
sung gelangten und dadurch vergotteten Heiligen zu machen, der in beliebig vielen Ex-
emplaren erschienen sein und noch erscheinen konnte: Selbstvergottung”, der alte in-
dische Sinn der Askese und Kontemplation und damit: der lebende Heiland waren in
den Glauben eingeführt. Der lebende Heiland aber ist der Bodhisattva. Formell war der
Bodhisattva mit dem Buddha zunächst durch die Wiedergeburts- und die aus der hin-
duistischen Philosophie übernommene Weltepochentheorie verknüpft. Die Welt ist
ewig, verläuft aber - wie früher erwähnt - in immer neuen endlichen Epochen. Es gab
nun in jeder Weltepoche einen, im ganzen also unendlich viele Buddhas. Der histori-
sche Gautama Buddha der jetzigen Epoche hat 550 Wieder-
271
Hinduismus und Buddhismus. [270]
geburten vor dem Eingang nach Nirwana durchgemacht. Bei der vorletzten Geburt hat
der bei der nächsten zum Buddha sich durchringende heilige Arhat die Stufe des Bod-
hisattva (“dessen Wesen: sattva, Erleuchtung: bohdi, ist”) erreicht und weilt im Tuschi-
ta - Himmel, in welchem daher jetzt schon der künftige Buddha, Maitreya, sich als
Bodhisattva aufhält. Aus dem Tuschita - Himmel hat sich auch der historische Gauta-
ma Buddha durch wunderbare Inkarnation im Leib seiner Mutter Maya zur letzten Er-
denfahrt begeben, um vor dem Eingang im Nirwana den Menschen seine Lehre zu
bringen. Es ist klar, daß mit seinem “Verwehen” das Interesse sich dem k o m -
m e n d e n Heiland: dem Bodhisattva, zuwenden mußte. Ebenso ist klar, daß in je-
nem an sich einfachen und rationalen Schema des Tuschita -Himmels und der Vielheit
der Buddhas und Bodhisattvas die geeigneten Anknüpfungspunkte r eine Pantheon-
bildung, Wiedergeburtsmythologien und Mirakel aller Art gegeben waren. Uns sollen
diese zu fabelhaftem Umfang geschwollenen Mythologeme hier nicht beschäftigen,
sondern ihre ethisch - soteriologische Seite. Ein Bodhisattva war, wie wir sahen, nach
dem ganz korrekten Begriff ein zur Vollendunggelangter Heiliger, der bei der näch-
sten Wiedergeburt ein Buddha werden und nach Nirwana gelangen kann. Daß dies nun
nicht geschieht, daß er vielmehr ein Bodhisattva bleibt, galt als ein Akt der Gnade, den
er vollzieht, um als Nothelfer der Gläubigen wirken zu können. Er wurde infolgedes-
sen das eigentliche Objekt der mahayanistischen Hagiolatrie und es ist klar, wie weit-
gehend diese Wandlung den Heilsinteressen der Laien entgegenkam.
Aktive Güte (paramita) und Gnade (prasada) sind die Attribute des Bodhisattva. Er ist
nicht nur zu seiner Selbsterlösung, sondern zugleich und vor allem um des Menschen
willen da: der Buddha war nicht nur ein Pratyekabuddha, sondern auch ein Samma-
sambuddha, drückt die mahayanistische Terminologie dies aus. Er vermöchte gar nicht
den Entschlzu fassen, aus dieser Welt des Leidens sich in einsamer Selbsterlösung
zu retten, solange noch andere da sind, die leiden. Upâya (die Pflicht, eigentlich: in
charakteristisch zeremoniöser Terminologie: Schicklichkeit”) hindert ihn daran. Die
in der Mahayana - Schule entstandene spekulative Trinitslehre erleichterte dies: nur
in der ersten seiner Existenzformen, der Nirwana Kaya, ist er in das Nirwana einge-
gangen. Der Unterschied der buddhisti-
272
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [271]
schen gegen die christliche Trinität ist charakteristisch: der Buddha wird Mensch, wie
die zweite Figur der christlichen Trinität, um die Menschen zu erlösen. Er erlöst sie
aber nicht durch Leiden, sondern durch die bloße Tatsache, daß auch er nun vergäng-
lich ist und als Ziel nur das Nirwana vor sich hat. Und er erlöst sie exemplarisch, nicht
als stellvertretendes Opfer r ihre nden. Denn nicht die nde, sondern die Ver-
gänglichkeit ist das Uebel.
Alle diese Beispiele zeigen die dritte Richtung jenes Anpassungsprozesses, welche die
Mahayana - Entwicklung bedeutete. Neben der Anpassung an die ökonomischen Exi-
stenzbedingungen in der Welt und an die Bedürfnisse der Laien nach einem Nothelfer
war es die Anpassung an das theologisch - spekulative Bedürfnis der brahmanisch ge-
schulten Intellektuellenschicht. Die einfache Ablehnung alles Spekulierens über Dinge,
welche zum Heil nichts tze sind, wie der Buddha sie konsequent geübt hatte, konnte
nicht aufrecht erhalten werden. Eine ganze religionsphilosophische Literatur entstand,
bediente sich zunehmend ausschließlich wieder der Gelehrtensprache (des Sanskrit”),
schuf Universitäten, Disputationen, Religionsgespräche und zeitigte vor allen Dingen
eine ziemlich komplizierte Metaphysik, in welcher alle alten Kontroversen der klassi-
schen indischen Philosophie wieder auflebten. Damit aber war der Riß zwischen den
wissenden Theologen und Philosophen und den nur als exoterische Mitläufer gewerte-
ten Illiteraten ganz in brahmanischer Art in den Buddhismus getragen. Nicht die per-
sönliche Gnosis, sondern das geschulte Buchwissen war wieder die herrschende Macht
in der Gemeinschaft. Wie in den Literatenkreisen Chinas Indien nur als “Land der
Brahmanengewertet wurde, so war der Standpunkt der Mahayana - Literaten in Indi-
en unter Hiuen - Tsang der: daß China ein Barbaren-(Mlechcha-) Land sei - deshalb
eben sei ja der Buddha auf Indiens Kulturboden inkarniert worden und nicht dort oder
anderswo -, und Hiuen - Tsangs charakteristischer Gegenbeweis ging davon aus: daß
auch in China die Alten und Weisen die ersten seien, die Wissenschaft, einschließlich
der Astronomie, blühe und die Macht der Musik bekannt sei.
1
). Dieser Begriff war
ganz auf brahmanische - sagen wir: auf asiatische oder vielleicht sogar: auf antike -
1
) Bei St. Julien, Hiuen - Tsang p. 230 f.
273
Hinduismus undBuddhismus. [272]
Intellektuellentheologie zugeschnitten. Es waren altbrahmanische Begriffe, und zwar
nunmehr auch vedantistische, vor allem der für das Vedanta zentrale Begriff Maya”
(kosmische Illusion), nur in Umdeutungen, welche der Theologie des Mahayana -
Buddhismus zugrunde gelegt wurden. Es ist eben kein Zufall, daß der Mahayana -
Buddhismus sich in Nordindien in unmittelbarer Nachbarschaft mit den alten Zentren
brahmanischer Philosophie und Soteriologie zunehmend entwickelte, während die or-
thodoxe Hinayana - Lehre sich schlilich, nach mancherlei Schwankungen, auf dem
Missionsgebiet im Süden: Ceylon, Birma, Siam, behauptete, - ähnlich wie den Hort
gegen die Einbrüche des Hellenismus in die alte christliche Kirche stets, auf allen Kon-
zilien, Rom und der Westen bot, hrend im Orient die Nachbarschaft der hellenisti-
schen Philosophie die dogmatische Spekulation entfesselte.
Reminiszenzen der Samkhya - Lehre finden sich vielleieht in der Mahayana - Theorie
von der Alaya - vijñana, der streng allem nicht Geistigen entgegengesetzten Seele. Und
hier stoßen wir auf einen fundamentalen Gegensatz gegen den alten Buddhismus. Denn
eben die Ablehnung des Seelen” - Begriffes hatte ja grade zu seinen wesentlichsten
Eigentümlichkeiten gehört. Aber diese Vorstellung war sicherlich alsbald wieder ver-
lassen worden. Wie die Seelenwanderungdes Buddhismus die brahmanische wurde
und nicht die der alten reinen Lehre blieb, so die göttliche Potenz. Sie ist - wie im Ve-
danta - eine Allseele und die extreme Spiritualisierung der als Emanation gedachten
Welt streift dicht an die Maya - Lehre, die auch gelegentlich ausdrücklich auftaucht: es
ist alles nur subjektiver Schein und das höchste Wissen löst ihn auf. An das Bhagavad-
gita endlich erinnert die nun wieder beginnende organische Relativierung der Ethik.
Der Bodhisattva erscheint, wie Krischna, stets erneut auf der Erde und kann - der
Trikaya” - Doktrin entsprechend - ganz nach den jeweiligen ethischen Bedürfnissen
der Welt in jeder Form und jedem Beruf, je nach Bedarf, auftreten. Nicht nur als
Mensch, auch als Tier, - zur Erlösung der in Tiere verschlagenen Seelen, - und wenn
als Mensch, dann in jedem rituell anständigen Beruf. Also vor allem auch: als Krieger.
Nur wird er seiner Natur nach nur in einen gerechten” und guten Krieg gehen, in die-
sen aber unbedenklich. Es ist diese Theorie praktisch wohl die weitestgehende Anpas-
sung an die Bedürfnisse der “Welt”.
274
M a x W e b e r, Religionssoziologie lI.
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [273]
Theoretisch hatten diese Akkommodationen die Einführung irgend eines überweltli-
chen göttlichen Wesens zur Vorbedingung, und wir sehen ja auch, daß schon in der
Vergottung Buddhas selbst eine solche vollzogen wurde. Allein Buddha war im Nir-
wana r immer der Welt entschwunden und konnte nicht selbst oder gar allein die
höchste Weltgottheit darstellen. Und dem einmal kanonisch festgelegten Ausgangs-
punkt der Lehre entsprechend konnte der Weltgott auch kein persönlicher Welt - Gott
nach Art Vischnus oder Çivas sein. Die absolute Endlosigkeit und Uebernatürlichkeit
des Göttlichen wurde ergänzt durch seine streng unpersönlichen Prädikate: Bhutatatha-
ta
1
), das So - Seinund durch die Entgegensetzung des Açunya (des Leeren”, des
Nichtrealen) als des spezifisch Heiligen, gegeber dem Çunya (demVollen”,
Realen”), ganz nach Art occi- dentaler mystischer Versuche und auch der Upanischa-
den, den Gottbesitz zu beschreiben. Das letztlich unaussagbare Göttliche zeigte dabei
naturgemäß, entsprechend dem Triratna” des alten Buddhismus, in welchem sich ja
das Dharma” als göttliche Potenz fand
2
), Neigung, ge des chinesischen Tao” an-
zunehmen: Ordnung und Realgrund der Welt zu werden, ewige Norm und ewiges Sein
in Eins zu setzen. Jenseits des schroffen Dualismus von ewigem Sein und durch ewige
(Karman-) Normen geordneter absoluter Vergänglichkeit der Erscheinungswelt mußte
das Absolute gefunden werden, Die Unverbrüchlichkeit des Karman war dabei die
Stelle, an der allein es r eine hinduistische Metaphysik greifbar werden konnte. Das
mystische Erlebnis aber enthielt hier wie überall nicht Norm”, sondern im Gegenteil
ein gefühltes Sein” in sich. Das höchste Göttliche des Mahayana - Buddhismus, das
Dharmakaya” war, wegen dieses rational nie überbrückbaren, aber ganz unvermeid-
baren Gegensatzes, nicht nur, wie selbstverständlich, jenseits jeder “Worte”, sondern
1
) Da es absolut unmöglich wäre, im Rahmen dieser Darstellung eine Analyse der Theologie der (zu J
- tsings Zeit) nach der Mindestzählung 18 buddhistischen Schulen und ihrer Verzweigungen zu
geben, wurde nach mancherlei Erwägungen der Weg gewählt, den auch asiatische buddhistische
Modernisten” einschlagen: eine von den Extremen der bestehenden Gegensätze etwa gleichweit
abliegende Schultheologie in einer möglichst rationalen Form vorzutragen. Wie jeder Kenner der
Literatur leicht sehen kann, ist nachstehend in der Form der Darstellung vielfach Anschlge-
sucht an das besonders gut, aber “westlichen” Bedürfnissen angepaßt, geschriebene Buch von
S u z u k i , Outlines of Mahayana , Buddhism, London 1907.
2
) Im Christentum ist der seiner Natur nach leicht unpersönlich gedachte Heilige Geist” in der Trini-
tät eine entsprechende Konzeption.
275
Hinduismus und Buddhismus. [274]
die Beziehung zu ihm enthielt auch rational heterogene Prädikate in sich. Daß Karu-
na”, höchste Liebe und Bodhi”, höchste Gnosis, sich in der Beziehung des Heiligen
zum Göttlichen vereinen, ist nur aus psychologischen Qualitäten der mystischen Eksta-
se erklärlich. Wenn also nun Nirwana”, - ein Zustand, der jetzt in eine abgeleitete,
sekunre Stellung rückte -, zugleich negativ: Zerstörung allen Begehrens und, positiv:
All -Liebe wurde, blieb nach wie vor Avidya, die Dummheit, die Quelle alles Uebels.
Dies ist aus der streng intellektualistischen Herkunft dieser Soteriologie erklärlich. Das
Mahayana ist so wieder eine letztlich esote-rische Erlösungslehre für die Gnostiker,
nicht r die Laien. Der praktisch so überaus wichtige Grundsatz der Lehre des Budd-
ha: daß die Spekulation über unlösbare Probleme vom Uebel und heilsschädlich sei, ist
in charakteristischer Art aufgegeben. Er wirkte nur darin nach, daß nach der orthodo-
xen Mahayana - Lehre das letzte große kosmische Rätsel: die Frage, wie denn nun ei-
gentlich die gre Wurzel alles Uebels, die “Avidya” (Dummheit, Stumpfheit oder
kosmische Illusion) in die Welt habe kommen können, für menschliches Wissen unlö-
sIich blieb und ebenso wie das Warum ?” der spezifischen Qualitäten des Bhutatatha-
ta nur der letzten und höchsten, in Worten nicht kommunikablen, Gnosis eines Bodhi-
sattva sich erschl.
Die erlösende Gnosis aber trägt selbst die eigentümlichen dualistischen Züge einer
Kombination praktischen Liebeshlens und beherrschter Konzentration des Denkens.
Sie verläuft nach der orthodoxen Mahayana - Lehre durch fortwährende exercitia, spi-
ritualia aufsteigend in den zehn Stadien der warmen Liebe (pramudita), der Reinigung
des Herzens (vimalâ), der Klarheit der kosmischen Einsicht (prabakhari), des Strebens
nach Vollendung (arcismati), der Meditation über das Wesen des Tathagata (sudur-
jaya), über die Art der Weltemanationen (abhimuki), der Erzeugung der Weltfremdheit
trotz des innerweltlichen Tuns (durangama, das Gehen in die Ferne”: - der inneren
Haltung des Bhagavata, die wir kennen, nahe verwandt), der Erringung der vollen Ge-
lassenhait als einer zur Natur gewordenen unbewußten und mühelos geübten persönli-
chen Qualität (achala), der vollen Gnosis der transzendenten Wahrheiten (sadhumati),
und endlich des Hinschwindens in die Wolken des Dharma” (Dharmamegha): der
Allwissenheit. Man bemerkt leicht die Kreuzung gnostischer und praktisch liebesa-
kosmistischer
276
III. Die asiatische Sekten- nnd Heilandsreligiosität. [275]
Elemente. Die Nirwana - Konzeption der Mahayana - Schule trägt gleichfalls die Spu-
ren dieser Kreuzung. Unterschieden wurden, neben dem absoluten Aufgehen im
Dharmakaya mit dem Tode, welches jetzt, in vedantistische Art, das gänzliche Erlö-
schen ersetzte, zunächst zwei Arten von diesseitigem Nirwana: 1. das Upadhiçesa
Nirwana, die Freiheit von Leidenschaft, welche aber noch nicht von Samsara befreit
ist, weil die intellektualistische Gnosis fehlt: - das überall charakteristische rationale
Element im Buddhismus
1
), - 2. das Anupadhiçesa Nirwana: das Upadhi-
(Materialisations-) freie Nirwana, welches, durch volle Gnosis, ein von Samsara be-
freiter diesseitiger Seligkeitszustand des Jivanmukti ist. Aber das für die Mahayana -
Schule Charakteristische ist, daß der Begriff des innerweltlichen Nirwana auch damit
nicht ausgeschöpft ist. Sorndern neben der weltfchtigen Mystik gibt es 3. die inner-
weltliche Mystik, das weltindifferente, sich gerade innerhalb der Welt und gegen sie
bewährende Leben in der Welt und ihren Hantierungen, innerlich welt- und tod- ent-
ronnen, welches Geburt, Tod, Wiedergeburt und Wiedertod, Leben und Handeln mit
all seinen Scheinfreuden und Scheinleiden hinnimmt als die ewigen Formen des Seins
und sich gerade darin: in seiner weltindifferenten Heilsgewißheit behauptet. Als Wis-
sen und Fühlen der absoluten Nichtigkeit dieser Vorgänge gegenüber dem zeitlosen
Wert der bewußten Einheit mit dem Dharmakaya und dadurch mit aller Kreatur, die
mit akosmistischer erbarmender Liebe umfaßt wird, ist es die buddhistische Wendung
der im Bhagavadgita, wie wir sahen, gelehrten Form der innerweltlichen Weltindiffe-
renz. Spuren dieses Standpunkts reichen weit zurück
2
), und es ist begreiflich, daß ge-
rade er gegenwärtig als der eigentlich mahyanistische vertreten wird
3
), weil er das
Bodhisattva - Ideal im Sinn einer sehr modernen Mystik zu interpretieren gestattet.
Jedenfalls scheint etwa im 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung Vasubandus Weckung
des Bodhicitta” schon ins Chinesische übersetzt gewesen zu sein und die entscheiden-
den Lehren für diese Wendung des Bodhisattva - Ideals zu enthalten. Das Bodhicit-
ta”
4
) ist die in jedem Menschenherzen schlum-
1
) Sehr nachdrücklich hervorgehoben von Suzuki a. a. O. S. 344.
2
) Wenigstens dies dürften die Quellenzitate Suzukis dartun, so äußerst fraglich der Grad der
Verbreitung solcher Auffassungen in älterer Zeit ist.
3
) So von Suzuki.
4
) Etwa gleich Gnosis - Liebesherz.
277
Hinduismus und Buddhismus. [276]
mernde Fähigkeit wissender Liebe”, welche, geweckt, pranidhâna weckt: den uner-
schütterbaren Willen, heißt das, durch die ganze Folge der eigenen Wiedergeburten
hindurch zum Heil der Brüder als Tathagata (Heiland) zu wirken. Der Bodhisattva,
welcher diese Qualität erlangt hat, gewinnt dadurch die Fähigkeit, nicht nur sein eige-
nes Heil zu erzeugen, sondern - worauf es ihm ankommt - einen Thesauros von Ver-
dienst anzuhäufen, aus welchem er Gnade spenden kann. Er ist also in diesem Sinn
souverän gegenüber der ehernen Macht der Karman - Vergeltung.
Damit war theoretisch die Grundlage r das gewonnen, was man für die religiösen
Bedürfnisse der aliterarischen Laienschichten benötigte und was der alte Buddhismus
nicht hatte bieten können: lebende Heilande (Tathagatas und Bodhisattvas) und die
Möglichkeit der Spendung von Gnade. Selbstverständlich zunächst von magischer,
diesseitiger, und erst daneben von jenseitiger, auf die Wiedergeburt und das Jenseits-
schicksal bezüglicher Gnade. Denn wenn hier die spiritualistische Form der Mahayana
- Lehre, wie sie die nordindischen Philosophenschulen erzeugten, wiedergegeben wor-
den ist, so liegt es doch auf der Hand, daß in der Praxis des religiösen Lebens alsbald
die überall gegewohnten Laienvorstellungen die Oberhand gewannen. Nagarjuna, der
im ersten nachchristlichen Jahrhundert lebende erste Begründer der Mahayana - Lehre,
hat in seinem Prajnaparamiha (Ans Jenseits - Ufer gelangtes Wissen) zwar die “Leere”
als spezifische Existenzform (sattva) des Erlösten gelehrt. Neben einer als “Mittelweg”
(Madhyamika)
1
) bezeichneten Kombination von allen Mitteln der Selbstentäußerung
(darunter vor allem: Almosen und Todesbereitschaft für den leidenden Nächsten), galt
ihm die anhaltende Meditation und Erkenntnis (prajna) als letztes und höchstes Mittel
der Heilsgewinnung. Aber schon ihm hat der Wissende magische Gewalt. Mit dem
Bannwort (dharani) und der mystischen Fingerstellung zwingt er Menschen und Natur-
geister. Mit der Lehre Vasubandhus vollends, vier Jahrhunderte später, wurde neben
dem hinduistischen Pantheon die volkstümliche Tantra - Magie, die Erringung des ek-
statischen samadhi - Zustandes,
1
) Nämlich zwischen der alten klassischen Lehre der Sarvastavida, welche die Realität der Außenwelt
(nach Art der Samkya - Schule) behauptete und vedantistisch beeinflten Schulen, welche sich der
Lehre von der kosmischen Illusion näherten.
278
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [277]
der Wunderkraft (siddhi) verleiht, eingeführt. Damit schl die Entwicklung ab: Vasu-
bandhu galt als letzter Bodhisattva.
Eine rationale innerweltliche Lebensführung war auch auf der Basis dieser philoso-
phisch vornehmen spiritualistischen Soteriologie des Mahayana nicht zu begründen.
Der Ausbau der alten Laienethik geht über die Empfehlung der landläufigen Tugenden
und der speziell hinduistisch -buddhistischen Ritualgebote nicht heraus und es lohnt
wenigstens hier für unsere Zwecke nicht, sie im einzelnen zu analysieren. Denn die
Obedienz gegenüber den durch übermenschliche wundertätige Leistungen qualifizier-
ten Bodhisattvas, und die Magie wurden selbstverständlich der beherrschende Zug.
Magische Therapeutik, apotropäische und magisch - homöopathische Ekstatik, Idola-
trie und Hagiolatrie, das ganze Heer der Götter, Engel und Dämonen zogen in den
Mahayana - Buddhismus ein. Vor allem: Himmel, Hölle und Messias
1
). Im siebenten
Himmel droben thront, jenseits vomDurst” (nach Leben)
2
) und von “Name und
Form (Individualität)
3
) der Bodhisattva Maitreya, der nftige Heiland, der Träger
des spezifisch buddhistischen messianischen Glaubens
4
). Und ebenso stehen die
Schrecknisse der Hölle zur Verfügung. Und endlich wurde ein Teil der mahayanisti-
schen Stufen r die Erlösung in eine förmliche Heils - Karriere verwandelt: unterhalb
des Arhat selbst gab es drei Stufen deren höchste die Wiedergeburt im Himmel als
Arhat, deren nächst niedere die Wiedergeburt als Arhat nach noch einem Tode und
1
) Die ersteren beiden waren ja nie beseitigt. Aber sie spielten für das Interesse des alten Buddhismus
gar keine Rolle.
2
) Dieser herrscht noch in den untersten Himmeln, wo z. B. vedische Gottheiten und die durch Kar-
man zeitweise in den Himmel versetzten Seelen leben.
3
) Diese herrschen noch in den höheren Himmeln, die von buddhistischen Heiligen bewohnt werden.
4
) Die mahayanistische Literatur zeichnet sich durch ein üppiges Schwelgen in gehäuften Wonnen,
Wundern und Heiligen aus. So namentlich schon die ziemlich alte mahayanis-tische Buddha - Le-
gende des Lalita Vistara (übersetzt von Lefmann), wo - gegenüber der relativ noch schlichten
Schilderung bei Açvagosha - in der denkbar unkünstlerischsten, aber spezifisch mystisch - magi-
schen Art die Wunder gehäuft und in einer Art in Juwelen, Lichtstrahlen, Lotos und allen Arten
von Pflanzen und Parfüms gewühlt wird, welche an die Dekadentenliteratur nach Art von Wilde
(Dorian Gray) und Huysmans erinnert. In Wahrheit ist es mystische Kryptoerotik, die da wirksam
wird. Die Schilderung der Schönheit der Theotokos im Lalita Vistara und die Vorschriften der
Amithaba - Meditation im Amitayur - Dhyana - Sutra geben Gelegenheit zu glühender erotischer
Inbrunst, immer mit Heranziehung von Geschmeide, Blumen und schwüler Schönheit aller Art.
279
Hinduismus und Buddhismus. [278]
deren niederste die Wiedergeburt als Arhat nach noch 7 Toden gewährleistete
1
).
Der Mahayanismus ist es auch gewesen, der zuerst durch formelhafte Gebetsandacht,
schließlich durch die Technik der Gebetsmühlen und in den Wind gehängten oder an
das Idol gespuckten Gebetspapiere das absolute Höchstmvon Mechanisierung des
Kults erreicht und mit der Verwandlung der ganzen Welt in einen ungeheuren magi-
schen Zaubergarten verbunden hat. Nicht übersehen werden dürfen dabei jene ge
von Innigkeit und karitativem Erbarmen mit aller Kreatur, welche der Buddhismus, und
in Asien nur er, wohin immer er kam, in das volkstümliche Empfinden hineingetragen
hat. Darin ähnelte seine Wirkung derjenigen der Bettelmönche des Occidents. Sie tre-
ten auch und gerade in den Tugenden der Mahayana - Religiosität typisch zutage. Aber
sie sind keineswegs ihr im Gegensatz zur Hinayana - Schule eigentümlich.
Gänzlich dagegen fehlt jeder Ansatz zur Erzeugung einer rationalen Lebensmethodik
der Laien im Mahayana. Weit entfernt, eine solche rationale Laienreligiosität erzeugt
zu haben, hat der Mahayana - Buddhismus eine esoterische, dem Wesen nach brahma-
nische, Intellektuellen - Mystik mit grober Magie, Idolatrie und Hagiolatrie oder Ge-
betsformelandacht der Laien verknüpft
2
). Die Hinayana - Schule hat ihren Ursprung
aus einer vornehmen Laien - Soteriologie wenigstens insofern nicht verleugnet, als sie
eine Art von systematischer klösterlicher Laien -
1
) Die Lehre ist für die Entstehung gewisser wichtiger Vorstellungen im Lamaismus (der Lehre von
den Khubilganen), wohl nicht ohne Einfl gewesen. Davon später.
2
) Die ethischen Anforderungen, welche ein für die Mahayana - Mission in China und Japan wichtiges
Werk wie das Amitayur - Dhyana - Sutra (S. B. of the East vol. 49) stellt, sind bescheiden und
nach Bedarf abgestuft. Zwar wer übel tut und überdies dumm ist, fällt äußerstenfalls in die lle,
vor der ihn jedoch die Anrufung des Buddha Amitayür rettet. Wer übel tut, aber wenigsten nicht
schlecht von der Mahayana - Lehre spricht, ist schon günstiger daran. Wer sich zu seiner Familie
gut verhält und Wohlwollen ausübt, noch besser. Wiederum besser, wer die rituellen Verbote in-
nehält und sich zu gegebener Zeit kasteit. Eine höhere Seligkeit erlangt, wer an die richtige Lehre
(Karman - Determinismus) glaubt, nicht schlecht von der Mahayana - Doktrin spricht und nach
den höchsten Qualitäten strebt. Noch günstiger gestaltet sich das Schicksal dessen, der den Sinn
der Mahayana - Lehre im Kopf hat und nicht schlecht von ihr spricht. In das reine Land - das
westliche Paradies der spätbuddhistischen Religiosität - wird gelangen, wer entweder die Medita-
tion pflegt oder die Sutras der Mahayana - Schule studiert oder endlich das “Liebesherz” der rei-
nen Lehre besitzt (s. die Stufen der Vollendung a. a. O. § 22 - 30).
280
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [279]
Erziehung entwickelte, die freilich bald konventionell entartete. Die Söhne guter Fami-
lien pflegten - vermutlich seit Açokas Eintritt in den Orden - und pflegen in korrekt hi-
nayanistischen Ländern noch jetzt einige Zeit - freilich jetzt zuweilen nur vier Tage, al-
so wesentlich symbolisch - im Kloster das Leben eines Bhikkshu zu führen. Aber auch
eigentliche Klosterschulen für Laienbedürfnisse nach Art der Volksschulen waren bei
der Hinayana - Schule eine vermutlich seit Açoka bestehende Erscheinung. Derglei-
chen ist vom Mahayana - Buddhismus, wenigstens als systematisch gepflegte Einrich-
tung, nur bei einzelnen Sekten in Japan überliefert. Es ist doch wohl anzunehmen, daß
der klerikale Eifer König Açokas der Hinayana - Schule diesen Zug zur inneren Mis-
siondauernd aufgeprägt hat.
So sehr die eigentliche Heilslehre des Buddhismus vornehme Intellektuellensoteriolo-
gie war, so ist doch nicht zu leugnen, daß seine Gleichgültigkeit gegen die Kasten auch
praktische Konsequenzen gehabt hat: Von einigen seiner alten Schulen ist ausdrücklich
überliefert, daß sie von Çudra gestiftet seien
1
). Und in der mit der Entstehungszeit
gleichzeitigen Epoche der Gildenmacht ist zweifellos auch ein literarisches Bildungs-
bedürfnis der bürgerlichen Schichten vorhanden gewesen. Der Unterricht war freilich,
soviel bekannt, keine Schule rationalen Denkens und Lebens, sondern wohl von jeher
lediglich auf Verbreitung der nötigsten religiösen Kenntnisse gerichtet: immerhin konn-
te dazu gerade bei der Hinayana - Schule, deren Schriften in der Volksmundart abge-
faßt waren, unter Umständen das Lesen gehören.
Eine unmittelbare Stiftung des Hinayanismus, - vielleicht richtiger: der vorschismati-
schen altbuddhistischen Orthodoxie, ist die singhalesische (c e y l o n e sische) Kir-
che
2
). Wenige Jahrhunderte erst waren seit der arischen Eroberung (345) verflossen,
als (angeblich) Malinda, ein Sohn Açokas, dort als Missionar
1
) Von den Schulen der Grenzländer Nordindiens in der Zeit der chinesischen Pilgerfahrten galten die
Samatya und Mahasthavira als von Çudras gestiftet. Beide waren Unterabteilungen der Vaibachia,
welche die alte Kirche darstellten. (Außerhalb ihrer standen nicht nur die Madhyamika - Schule
Nagarjunas, sondern auch die Sutrantika (Ritualisten) und Yogachara.)
2
) Das s. Z. grundlegende Werk über Ceylon von Tennant (5. Auflage 1860) war mir z. Z. leider
nicht zugänglich. In Kerns Geschichte des Buddhismus findet man die Klostergeschichte darge-
stellt. Ueber die Organisation der Klöster unterrichtet der amtliche Bericht von Bowles Daly (Fi-
nal Report on the Buddhist Temporalities Ordinance 1894). Im übrigen ist Spence Hardys Eastern
Monachism grundlegend.
281
280 Hinduismus und Buddhismus. [280]
auftrat. Trotz häufiger Rückschläge, wiederholter Eroberungen durch Malabaren und
besonders die südindischen Tamils und einmal auch durch die Chinesen, hat sich die
Herrschaft der buddhistischen Klosterhierarchie doch auf die Dauer behauptet. Ge-
stützt wurde sie durch das auf einem großartigen Bewässerungssystem, welches Cey-
lon zur Kornkammer Südasiens machte, und der dazu erforderlichen rokratie ruhen-
de Königtum, und diesem wieder diente sie zur Domestikation der Bevölkerung. Sehr
gre Landschenkungen und die Einschärfung der Autorität der Klosterhierarchie l-
len fast die ganze epigraphische
1
) und chronistische
2
) Hinterlassenschaft der Zeit der
ceylonesischen Herrscher. Der entscheidende Zug des ceylonesischen Buddhismus wa-
ren die Klostergrundherrschaften, welche etwa ein Drittel des Landes umfaßten. Durch
ihre Einrichtung wurde es vor allem ermöglicht, dem kanonischen Verbot des Geldbe-
sitzes wenigstens formell nachzukommen. Der in den charakteristischen alten vorneh-
men Formen geübte tägliche Bettelgang war demgegeber offenbar praktisch zum ri-
tuellen Akt geworden. Denn der gesamte Bedarf des Klosters und des r die Laien
eingerichteten Kults und Tempelunterhalts war in einer an die Einrichtung altkarolingi-
scher Fisci und Klostergrundherrschaften etwa nach Art des Kapitulare de villis erin-
nernden, sie aber an konsequenter Durchführung der Naturalwirtschaft weit übertref-
fenden Art auf die als Erbpächter auf den verliehenen Landlosen sitzenden Bauern in
spezifischen Abgaben von Nahrungsmitteln und gewerblichen Produkten aller Art so
umgelegt, daß ein Ankauf von irgendwelchen Bedarfsartikeln nicht erforderlich war
(oder doch nicht erforderlich sein sollte). Die Belastung der Erbpächter war dabei so
leicht, daß auch die englische Herrschaft nach eingehender Untersuchung von einer
Ablösung, und zwar in Uebereinstimmung mit den Erbpächtern selbst, zunächst absah.
Anpassungen im einzelnen sind selbstverständlich immer wieder vorgekommen. Im
ganzen haben die Darstellungen sowohl früherer wie moderner Reisender aber das
Bild bestätigt: daß das Leben der Mönche in den Klöstern, vor allem ihre Behausung
(pansala) ein bescheidenes, bescheidener als etwa in einer italienischen Certosa, war
und sich an die wesentlichen Vorschriften des Pratimokkha band; ihre berüchtigte
Habgier war im wesentlichen auf Vermehrung
1
) Mir sind leider vorläufig die Uebersetzungen Gregorys nicht zugänglich gewesen.
2
) Namentlich das Mahavamsa.
282
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [281]
der ter des Ordens als solchen gerichtet. Die Laienfrömmigkeit war, soweit sie
überhaupt als buddhistisch zu gelten hatte, dem Schwerpunkt nach Reliquienkult (vor
allem der Kult des Zahns des Buddha) und Hagiolatrie, ganz entsprechend der Natur
der Beziehungen des Buddhismus zu den Laien. Der Einfluß des Klerus auf die Laien,
als deren Gurus, Exorzisten, Therapeuten
1
) sie fungierten, muß jedenfalls politisch
recht bedeutend gewesen sein, soweit nicht hinduistische (heterodoxe) Kasten, wie die
Kammalars (Königshandwerker) sich ihm entzogen. Nirgends, außer in Birma, dürfte
die Durchhrung der buddhistischen Laienregeln so weitgehend sich den theoretischen
Anforderungen genähert haben wie hier. Allein diese Regeln r Laien stellten eben an
die Laien ganz geringe und wesentlich formalistische Ansprüche. Der Lese- und
Schreib - Unterricht, das Anhören der Predigt, die zeitweise Askese, die Mantristik
und die Konsultation der Mönche als Magier erschöpften den buddhistischen Inhalt
des Lebens. In der Praxis beherrscht der Dämonenglaube das Leben der Laien und es
bestanden heterodoxe Magier (besonders Exorzisten für Krankheiten). Die Mönchs-
gemeinschaft selbst hat freilich stets als terin der reinen Tradition und der kanoni-
schen Schriften in hohen Ehren gestanden.
H i n t e r i n d i e n gilt meist als rein hinayanistisches Missionsgebiet. Das ist nicht
unbedingt zutreffend. Die verschiedenen politischen Gebilde, welche durch wechseln-
de Eroberungen dort entstanden, sind sowohl hinduistischer (brahmanischer), als hi-
nayanistischer, als - offenbar - auch mahayanistischer Einwirkung ausgesetzt gewesen.
Brahmanen, vedische Bildung und wenigstens Ansätze zur Kastenbildung (Handwer-
kerkasten) fanden sich. Wohl nur die he von Ceylon als Missionszentrum hat be-
wirkt, daß schlilich in der Tat die Hinayana - Schule das Feld behauptete, nachdem
vor allem die mongoloiden Erobererfürsten, deren Vorstoß im Mittelalter die bis zur
europäischen Okkupation herrschende politische Machtverteilung der Einzelstaaten
bestimmte, sich ihr angeschlossen hatten. Indessen schwankte auch dann, wie die In-
schriften zeigen, alles immer wieder. Das Bedürfnis nach Domestikation der Unterta-
nen und nach rationaler Schriftverwaltung war der regelmäßige Anl r die Könige,
Schriftgelehrte ins Land zu rufen,
1
) Wie in Tibet, so wurde such in Ceylon die apotropäische und exorzistische Spruchpraxis systema-
tisch gelehrt.
283
Hinduismus und Buddhismus. [282]
je nachdem brahmanische, mahayanistische oder - zuletzt - hinayanistische. Samsara
und Karman wurden sehr bald allgemein selbstverständliche Voraussetzungen auch im
Volksglauben. Im übrigen aber findet sich lange Zeit nebeneinander brahmanische und
buddhistische Bildung. Im 8. Jahrhundert werden in einer buddhistischen Inschrift in
Siam Brahmanen erwähnt und noch im 16. Jahrhundert unterstützt ein König die
buddhistische und die brahmanische Religion”
1
), obwohl inzwischen der ceylonesische
Buddhismus in aller Form Staatsreligion geworden war
2
). Gurus und Acharyas (Leh-
rer) erwähnt ein königliches Edikt aus dem 10. Jahrhundert
3
), große Schenkungen von
Sklaven und Terrain an Klöster finden sich zu verschiedenen Zeiten. Aber erst seit
dem 15. und 16. Jahrhundert ist wirklich eindeutig, daß es sich um buddhistische und
zwar hinayanistische Klöster handelt
4
). Wie es inzwischen stand, zeigt eine große sia-
mesische Königsinschrift des 14. Jahrhunderts ziemlich deutlich
5
). Der König bezeich-
net sich als Kenner der Veden. Er sehnt sich, wie er sagt, nach dem Himmel Indras,
aber er strebt auch nach Nirwana als dem Ende der Seelenwanderung. Daher stiftet
und baut er - dies letztere durch seine eigenen Handwerker - gewaltig. Aber die
Hauptobjekte der Bautigkeit sind trotz des buddhistischen Charakters der Inschrift
zwei Statuen und Tempel der großen Hindugötter Çiva (Paramesvara) und Vischnu.
Der König schickt dann, um seinen Verdiensten die Krone aufzusetzen, nach Ceylon
und läßt durch einen dortigen Weisen den ersten Tripitaka - Kanon importieren. Er er-
klärt dabei, auf den Himmel Indras und Brahmas zu verzichten und ein Buddha werden
zu wollen, der allen seinen Untertanen die Wohltat der Erlösung von der Welt bringe
6
).
Er
1
) S. beide Inschriften bei F u r n e a u , Le Siam ancien (Annales du Musèe Guimet 27 p. 129 bzw.
187).
2
) S. die später noch zu erwähnende Inschrift a. a. O. S. 233 (13. Jahrhundert).
3
) A. a. O. S. 141.
4
) A. a. O. S. 144 (15. Jahrhundert) ist ein Mahasangharaya (Kongregationsvorstand), S. 153 (16.
Jahrhundert) das korrekte Tri ratna: “Buddha, Dharma, Sangha” inschriftlich erwähnt.
5
) A. a. O. S. 171. Auch sie liegt n a c h der großen Inschrift des 13. Jahrhunderts, welche die Ein-
führung der Schrift und des korrekten Buddhismus berichtet (S.233).
6
) Ein anderer König, der den Heiligen - Titel (Shri) führt (S. 214 a. a. O.), hat den Wunsch, als
Lohn für seine Verdienste als Bhodisattva wiedergeboren zu werden. Sei ihm aber dies versagt,
dann als frommer und vollkommener Mensch und frei von Körperkrankheit.
284
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [283]
tritt persönlich in den Orden ein, - zweifellos um nun als Pontifex die Kirche und dem-
gemäß durch sie die Untertanen zu leiten. Es geschahen aber nach dem Bericht der In-
schrift im Gefolge seiner übermäßigen Frömmigkeit so gefährliche Wunder, daß die
Großen des Reichs ihn baten, aus dem Orden wieder auszutreten und das Reich als
Laie zu regieren, was er mit Zustimmung des genannten Seelenhirten auch tat. - Man
sieht, es handelt sich ganz wesentlich um Erwägungen machtpolitischer Art und bei
dem Eintritt in den Orden um die übliche hinayanistische Rezeption und Dispensation.
Korrekt hinayanistisch war wohl von jeher die Klosterorganisation und ist es auch ge-
blieben. Der nach dem Noviziat (Shin) ales u pyin - sin rezipierte Mönch wird nach
etwa zehnjähriger Bewährung, während deren er lediglich als Pfründner im Kloster den
geistlichen Uebungen obliegt, Vollmönch, Bonze, birmanisch: pon - gyi (“Großer
Ruhm”) und hat nun die Qualifikation zur Seelsorge als Guru. Inschriften schon des
13. Jahrhunderts aus Siam zeigen, daß dieser Grundsatz der Abstufung der Würde und
Titulatur des Mönchs nach der Anciennität schon damals ganz ebenso korrekt, dem
altbuddhistischen Prinzip entsprechend, bestand. Die Mönche wurden darnach in Siam
mit den Titulaturen Guru, Thera, endlich Mahathera ausgezeichnet und waren teils Cö-
nobiten, teils Eremiten. Ihre Funktion war aber immer dieselbe: Gurus, geistliche Bera-
ter, der Laien und Lehrer des heiligen Wissens zu sein. Ein Ober - Guru, Sankharat
(Lehrer) genannt, stand damals, vom König ernannt, über ihnen als Kirchenpatriarch
1
).
Der König nahm hier, wie einst Açoka, die Stellung als weltlicher Patron, membrum
eminens (Tschakravati) der Kirche, in Anspruch. Der König behielt aber im übrigen
den alten Kult der Berggeister ausdrücklich bei, weil seine Unterlassung gefährlich für
das Wohl der Untertanen sei
2
). Das
Königtum hatte die buddhistischen Weisen vor allen Dingen auch herbeigerufen, um
eine nationale Schrift zu erfinden
3
), zweifellos weil sie im Verwaltungsinteresse er-
wünscht war. Es zeigt sich in den Monumenten deutlich, daß speziell das siamesische
Königtum zur Zeit der Rezeption (oder Wiederrezeption) in kriegerischer Expansion
nach allen Seiten und im Kampf mit
1
) S. die großen Inschriften König Rama - Komhengs aus dem Ende des 13. Jahrhunderts bei F u r -
n e a u , a. a. O. p. 133 f. v. 85, 109).
2
) Ebenda v. 78.
3
) Ebenda v. 106.
285
Hinduismus und Buddhismus. [284]
chinesischen Expansionsversuchen begriffen
1
), zum stehenden Heer und zur bürokrati-
schen Verwaltung überging, “Kabinettsjustiz” übte
2
) und die Macht der - vermutlich
feudalen - Notablen
3
) zu brechen trachtete. Hierzu hatte der unter dem Patronat des
Monarchen stehende hinayanistische Klosterbuddhismus zu helfen und hat dies zwei-
fellos auch mit Erfolg getan. Die Bedeutung der alten Sippenzusammenhänge wurde
durch die Macht der Hierokratie stark entwertet. In gren Teilen Hinterindiens fand
offenbar die Macht des Königtums an ihnen keine Schranke mehr, wie sonst in Asien.
Um so mehr dafür: an der Macht der Mönche. Denn die Gewalt der Mönchspriester-
schaft über die Bevölkerung war unter den buddhistischen Herrschern fast absolut auch
in politischen Dingen. Namentlich die ziemlich straffe (äußere) Disziplin ermöglichte
das, die in den Händen des Abts (Sayah) lag. Ein wegen Uebertretung eines der vier
gren Gebote oder Ungehorsam exkommunizierter Mönch war schlechthin boykot-
tiert und konnte nicht existieren. Auch die Obedienz der Laien gegen die Mönche war
grenzenlos. Diese geistliche Schicht war - namentlich in B i r m a - der eigentliche
Träger der einheimischen Kultur und sie war daher einer der heftigsten Gegner euro-
päischer Herrschaft, die ihre Stellung bedrohte. Jeder junge Laie aus guter Familie in
Birma wurde und wird zeitweise - wie bei uns die Tochter in eine Pension -, in ein
Kloster geschickt, lebt dort kurze Zeit (1 Tag bis 1 Monat) als Mönch und erhält nun
einen neuen Namen: die Wiedergeburt” der alten magischen Askese ist auf diese rein
rituelle Klosterinternierung übergegangen. - Im Laienleben ist aber die Herrschaft der
Nal (Geister) ungebrochen. Jeder Haushalt hat seinen Nal” (Schutzdämon); im übri-
gen entsprechen sie den deva” der Hindus. Der König geht nach dem Tode noch im-
mer in das Geisterdorf(Nal - Ya - tsan - thee).
Oekonomisch dürfte die Herrschaft des Hinayanismus in Hinterindien das ungeheure
Uebergewicht des traditionalistischen Ackerbaus und die, mit Vorderindien verglichen,
sichtliche Unterlegenheit der technischen und gewerblichen Entwicklung mit veranlaßt
haben. Stätten rationaler Arbeit waren die buddhistischen so wenig wie irgendwelche
asiatischen Klöster. Da-
1
) S. den Eingang der genannten Inschrift. Die Eroberungen des Königs an deren Schl.
2
) A. a. O. V. 32.
3
) Ebenda S. 26: Man soll direkt an den König, nicht an die Notablen gehen.
286
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [285]
bei entwertete der Hinayanismus immerhin in stärkerem Maß als der Mahayanismus
das Kasten - Dharma oder li es - wo er auf Neuland eingeführt wurde - gar nicht erst
entstehen. Damit fielen alle im Kastenwesen liegenden Antriebe zur (traditionalisti-
schen) “Berufstreue” fort. Denn das ble theoretische Lob des berufstreuen Arbei-
ters, wie es auch die unter hinayanistischem Einfluß stehende süd- und hinterindische
Literatur kannte, entbehrte jenes starken psychologischen Antriebs, den, wie wir sa-
hen, die Kastenheilsordnung enthielt. Dies scheint in der Wirkung des Buddhismus z.
B. in Birma direkt spürbar zu sein. Die hinayanische Klostererziehung in Birma hat
zwar ein Maß von Elementarbildung erzeugt, welches prozentual für indische und
überhaupt für asiatische Verhältnisse sehr groß, qualitativ freilich, an europäischen
Maßstäben gemessen, sehr bescheiden ist (s. darüber den Census Report von 1911,
Vol. IX ch. VIII), entsprechend dem rein religiösen Zweck der Schulung. Der Grad der
lokalen Vorherrschaft des Buddhismus ist immerhin entscheidend für den Grad des
Alphabetentums. r moderne intensive Arbeit jedoch (Baumwollentkörnen, Oelraffi-
nerie) haben Hindus niederer Kasten importiert werden müssen (ebenda ch. XI, XII): -
ein Beweis sowohl für das starke Training zur Arbeit, welches die in Birma selbst feh-
lenden Kasten dargeboten haben, wie andererseits freilich auch dafür, daß das Kasten-
regime aus eigener Kraft moderne Arbeitsformen nicht e r z e u g t . Siam ist fast rei-
nes Agrarland geblieben, trotz nicht ungünstiger Vorbedingungen r gewerbliche
Entwicklung. In ganz Hinterindien schwand ferner mit der Eliminierung des Brahma-
nentums und der Kasten durch die Einführung des Buddhismus als Staatsreligion (14.
Jahrhundert) die alte Kunsttradition der kastenmäßig - geschulten Königshandwerker,
und die durch buddhistische Einfsse angeregte Kunstübung hat wirklich Gleichwerti-
ges nicht zu erzeugen vermocht, so erheblich immerhin auch ihre Leistungen waren
1
).
Der korrekt hinayanistische Buddhismus konnte eben seiner inneren Natur nach nicht
wohl anders als gegnerisch oder allenfalls duldend zum Gewerbe stehen. Nur die fast
ausschließlich auf diesen Weg der Erwerbung von Verdienst verwiesenen Laienbe-
dürfnisse haben auch im Hinayanismus die für den Buddhismus typische religiöse
Kunst entstehen lassen und erhalten. Die religiösen Interessen der korrekt bud-
1
) Vgl. L. F u r n e a u , a. a. O. S. 57.
287
Hinduismus und Buddhismus. [286]
dhistischen Laien sind in Birma, wie sonst, vor allem den Wiedergeburtschancen zu-
gewendet, wie die monumentalen Quellen der Neuzeit
1
) zeigen. Die Königin - Mutter
bittet, stets als eine hohe Persönlichkeit mit guten Qualitäten und gläubig wiedergebo-
ren zu werden. Wenn der nftige Buddha Maitreya kommt, möchte sie mit ihm ins
Nirwana gehen
2
). Der Wiedergeburt in schlechter Familie wünscht jemand zu entge-
hen
3
). Es wird gewünscht, stets als reicher Mann und Anhänger des Buddha wiederge-
boren zu werden, schließlich Allwissenheit zu erlangen und dann ins Nirwana zu ge-
langen
4
). Jemand möchte jedesmal mit seiner jetzigen Familie zusammen (Eltern, Brü-
dern, Kindern) wiedergeboren werden
5
). Ein anderer wünscht in einem künftigen Le-
ben eine bestimmte Frau als seine Frau zu besitzen
6
). Mönche möchten, falls sie als
Laien wiedergeboren werden müßten, bsche Frauen haben
7
). Daneben sollen gute
Werke auf Tote, insbesondere solche, die in der Hölle sind
8
), übertragen werden: - die
bekannte spätbuddhistische, aber auch im Hinduismus vorkommende Durchbrechung
der Karmanlehre.
Die eigentlich große Missionsreligion Asiens war nicht die Hinayana-, sondern die
M a h a y a n a - Kirche.
Auch der Mahayana Buddhismus, gewann, wie seinerzeit die Hinayana Schule, seine
missionierende Tendenz
9
) zuerst
1
) Vgl. die Inschriften, welche Aymonier im Journal Asiat. 9. Ser. 14. 1899 S. 493 ff. und besonders
ebenda 15. 1900 S. 146 ff., publiziert hat (aus dem 15. bis 17. Jahrhundert). Einige der Beispiele
wurden schon oben verwertet.
2
) A. a. O. S. 16 f.
3
) A. a. O. S. 164.
4
) A. a. O. S. 153.
5
) A. a. O. S. 154.
6
) A. a. O. S. 170.
7
) A. a. O. S. 150.
8
) A. a. O. S. 151.
9
) Es ist allerdings eigentlich ungenau, den Mahayanismus allein aIs Träger der Mission nach Ostasi-
en anzusehen. China lernte heilige Schriften des Buddhismus zuerst in der Form kennen, welche
sie in der Schule der Sarvastivadas, einer Sekte der alten (hinayanistischen) Vaibachika - Lehre
angenommen hatten, und gerade die älteren, teilweise den Seeweg benutzenden Pilgerfahrten
machten wenig Unterschied zwischen Mahayana und Hinayana. Aber der Umstand, daß Nordindi-
en zunehmend mahayanistisch wurde und infolgedessen die später nach China von dort allein,
über Land, importierten Werke in Sanskrit geschriebene Mahayana - Schriften waren, rechtfertigt
doch die übliche Behauptung, China war eben inzwischen reiner Kontinentalstaat geworden. An-
dererseits ist die Vorherrschaft der Hinayana - Schule in Hinterindien nichts Ursprüngliches. Im
Gegenteil war hier meist die Mahayana - Mission die ältere, und erst spätere Revivals gaben An-
l an die Tradition der altorthodoxen und nächstgelegenen Kirche, der Ceyloneser, anzuknüpfen.
288
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [287]
durch einen König: Kanischka von Kaschmir und Nordwesthindustan, kurz nach Be-
ginn unserer Zeitrechnung. Unter ihm ist das, angeblich dritte und letzte der kanoni-
schen Konzilien welche der Mahayana - Buddhismus anerkennt, in einer Stadt in
Kaschmir gehalten worden. Offenbar zuerst durch die Macht dieses Königs wurde der
Mahayanismus im Norden Indiens, wo einst Açoka das orthodoxe Konzil abgehalten
hatte, verbreitet und schlilich vorherrschend und der Hinayanismus eine südliche
Richtung. Der dazu führende Prozeß war freilich schon im Gange und die Entwicklung
der esoterischen Mahayana - Soteriologie hatte schon lange vorher begonnen.
Açvagosha schrieb seine allerdings noch maßvoll, mahayanistischen Werke minde-
stens 1 Jahrhundert vor dem Konzil. Nagarjuna gilt als die treibende Kraft des Konzils
selbst. Die anderen von den Mahayanisten als Autoritäten zitierten Philosophen lebten
fast mtlich in den nächsten Jahrhunderten nach dem Konzil, keiner nach dem ersten
Jahrtausend unserer Zeitrechnung. Die Hauptexpansionsepoche des Mahayanismus
liegt in der Zeit bis zum 7. Jahrhundert. Allein schon seit dem 5. Jahrhundert begann
der Stern des Buddhismus in Indien langsam zu erbleichen. Zu den Gründen gehörte
außer den schon angeführten Momenten vielleicht auch jener Verpfründungs - Prozeß,
welcher r alle Religionen irgendwann einzutreten pflegt und den gerade die Mahaya-
na - Schule fördern konnte. Gnadenspendende seßhafte Hierokraten, also: Pfründner,
traten an die Stelle der wandernden Bettelmönche. Es scheint auch, daß der spätere
Buddhismus ebenso wie der Jainismus sich für den eigentlichen Tempeldienst sehr
vielfach mit Vorliebe rituell geschulter Brahmanen, welche ihm anhingen, bedienten.
Denn diese spielen in zahlreichen Legenden eine bei der ursprünglichen Brahmanen-
feindschaft zunächst überraschende Rolle und kommen auch in buddhistischen In-
schriften vor. So dürfte sich auch in Indien ziemlich bald eine verheiratete, die Kloster
- Pfründen erblich appropriierende buddhistische Weltpriesterschaft entwickelt haben.
Wenigstens zeigt Nepal und das nordindische Randgebiet deutlich diese Entwicklung
noch heute. Sobald eine straffe, für Missionszwecke eingerichtete Organisation kon-
kurrierend auftrat, mußte außer der äußeren auch die innere Schwäche des Buddhis-
mus: das Fehlen einer so fest umrissenen Laien - Ethik, wie der brahmanische Kasten-
ritualismus und auch die jainistische Gemeindeorgani-
289
Hinduismus und Buddhismus. [288]
sation sie darboten, hervortreten. Die Reiseberichte der chinesischen Pilger, zeitlich
miteinander verglichen, lassen deutlich den inneren Verfall der jeder hierarchischen
oder ständischen Einheit entbehrenden buddhistischen Organisation erkennen. Die Re-
naissance des Hinduismus fand offenbar ein leicht zu bestellendes Feld und hat, wie
erwähnt, heute in Vorderindien fast jede Spur der alten buddhistischen Kirche ausge-
rottet. Ehe wir uns aber diesem neuen Aufstieg des orthodoxen Brahmanentums zu-
wenden, ist in Kürze der, erst seit König Kanischkas Zeit mit gewaltigem Erfolg be-
triebenen Expansion des Mahayanismus über Indien hinaus zu gedenken, welche ihn
Zu einer “Weltreligion” hat werden lassen.
Die großen Expansionsgebiete des Mahayana - Buddhismus sind China, Korea und Ja-
pan.
Der Mahayana - Buddhismus hat dabei im allgemeinen politisch insofern mit anderen
Verhältnissen zu rechnen gehabt wie die Hinayana - Schule, als er in jenen Kulturlän-
dern, die er missionierend wenigstens teilweise eroberte, auf Dynastien stieß, die ent-
weder mit einer unbuddhistischen Literatenschicht (China und Korea) oder mit einem
unbuddhistischen Staatskult (Japan) fest verwachsen waren und daran festhielten
1
).
Hier nahm also die weltliche Gewalt im allgemeinen mehr die Stelle einer Religions-
polizei” als eines Schutzpatronats” gegenüber der Kirche auf sich. Die theokratische
Klerikalisierung war infolgedessen weit geringer.
Ueber die Schicksale des Buddhismus in China mußte im anderen Zusammenhang
schon einiges gesagt werden, was hier zu ergänzen ist. Er wurde nach einigen vergeb-
lichen Missionsversuchen zuerst importiert unter der Herrschaft und auf Veranlassung
des Kaisers Mingti kurz nach Beginn unserer Zeitrechnung durch Mönchsmissionare,
faßte aber erst etwa im 4. Jahrhundert Wurzel, was sich durch das häufigere Auftreten
eigener chinesischer Mönche äußert. Er ist dann im 5., 6. und 7. Jahrhundert durch
zahlreiche Pilgerfahrter und Gesandtschaften, amtliche Uebersetzungen buddhistischer
Schriften, Eintritt einzelner Kaiser in den Mönchsorden, schließlich - 526 unter Kaiser
Wuti - Uebersiedelung des “Patriarchen” Bodhidharma aus
1
) Der Hof des Kaisers in Kyoto z. b. war korrekt shintoistisch. Der rein weltliche Shogun in Yedo
aber konnte nie die Stellung eines “tschakravatieinnehmen, wie Açoka, da er ausdrücklich den
Kaiser als die sozial höhere Macht anerkannte.
290
Max Weber, Religionssosiologie II.
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [289]
Indien nach Nanking und weiter nach Honanfu offiziell in Staatspflege genommen
worden. Mit dem 8. und endgültig mit dem 9. Jahrhundert wurde durch die gewaltigen
von den Konfuzianern angeregten Kirchenverfolgungen, von denen ebenfalls schon ge-
sprochen ist, die Blüte des Ordens in China gebrochen, ohne doch ihn dauernd ganz
vernichten zu können. Das Verhalten der chinesischen Regierung war vielmehr von
Anfang an und ist auch nach den gren Verfolgungen bis zum heiligen Edikt Kang
Hi's beständig schwankend gewesen. Die entschiedensten Gegner waren selbstver-
ständlich die konfuzianischen Literaten. Ihren Einwänden: daß Pflicht, und nicht die
Furcht vor der jenseitigen Strafe oder die Hoffnung auf jenseitige Belohnung, die Quel-
le der Tugend zu sein habe und daß Frömmigkeit um der Vergebung der nden Wil-
len kein Ausdruck echter Pietät sei, Nirwana als Ideal aber das Nichtstun idealisiere, -
setzten die Apologeten des Buddhismus den Hinweis entgegen: daß der Konfuzianis-
mus nur das Diesseits, allenfalls das Glück der Nachfahren be- rücksichtige, nicht aber
die jenseitige Zukunft. Sie wiesen auf Himmel und Hölle als allein wirksame Zuchtmit-
tel für den Menschen zur Tugend hin
1
). Namentlich dieses Argument rfte auf die
Kaiser Eindruck gemacht haben. Daneben der Glaube, die magische Macht auch der
buddhistischen Literaten. Denn als vornehme Literatenlehre kam die buddhistische Re-
ligion zuerst nach China. Die Erlaubnis Mönch zu werden wurde zuerst in einem Teil-
staat der Zeit des großen Interregnums 335 nach Chr. erteilt. Die Idole wurden 423 im
Sang- und 426 im Wei - Königreich zerstört, 451 wieder zugelassen. Um 400 suchte
der Kaiser Yao hing durch Aussendung eines Heeres sich einen literarisch voll qualifi-
zierten Priester zu beschaffen und gleichzeitig ging Fa Hien in amtlichem Auftrag nach
Indien, Uebersetzungen zu beschaffen. Nachdem ein Kaiser der Ling - Dynastie gera-
dezu Mönch geworden war, drang mit der Uebersiedelung des Patriarchen nach China
neben der Disziplin auch die eigentliche Mystik des indischen Buddhismus ein. 515
noch war Todesstrafe auf den Betrieb magischer Künste gesetzt. Indessen
1
) Die Diskussionen und Argumente sind namentlich aus den Annalen der Sung - Dynastie von Ed-
kins zusammengestellt. Mit großer Konsequenz hat die konfuzianische Annalistik jede Nachgie-
bigkeit gegen die Buddhisten als verächtliche und feige Schwäche und Furcht vor dem Tode
gebrandmarkt. Dies tut namentlich auch die von dem Mandschukaiser Kuangti geschriebene Ge-
schichte der Ming - Dynastie bei jeder Gelegenheit.
291
Hinduismus und Buddhismus. [290]
hinderte dies nicht, daß die Magie hier, wie überall, überwucherte. Seitdem hat die Po-
litik der Regierung geschwankt zwischen Beförderung oder Duldung und Schliung
aller Klöster, der Kontingentierung der Mönchszahl, dem Zwang r den Ueberschuß
zum Wiedereintritt in den weltlichen Beruf (714), der Konfiskation der Tempelschätze
für Münzzwecke (955). Sie adoptierte unter der Ming - Dynastie vorwiegend das
schon vorher die Regel bildende System der Duldung unter Einschränkung des Boden-
besitzes, Begrenzung der Klöster und der Zahl der Mönche und Kontrolle der Auf-
nahme durch staatliche Prüfung. Kang Hi's “heiliges Edikt” schließlich verbot (Ende
17. Jahrhunderts) den weiteren Bodenerwerb gänzlich und verwarf die buddhistische
Lehre als unklassisch. Dabei ist es geblieben.
Innerlich hatte der Buddhismus in China vor allem die Wandlung zu einer reinen Buch-
religion, entsprechend dem Schriftgelehrten - Charakter der ganzen chinesischen Kul-
tur, durchzumachen. Die Disputationen und Religionsgespräche, welche Indien eigen-
mlich waren, verschwanden: die chinesische Regierung hätte sie nicht gestattet, und
der Natur des chinesischen Schrifttums widersprachen sie durchaus. Immun blieb fer-
ner der chinesische Buddhismus, - ebenfalls entsprechend der streng antiorgiastischen
Religionspolizei des chinesischen Beamtentums, - gegen jedes Eindringen der Sakti -
Religiosität, welche den indischen Mahayanismus immerhin nicht ganz unberührt ge-
lassen hatte.
Der chinesische Buddhismus
1
) ist von Anfang an reine Klosterkirche ohne Wander-
mönche gewesen. Das buddhistische Kloster - im Gegensatz zum konfuzianischen
Tempel (Miao) und den taoistischen Heiligtümern (Kuan) mit “Si” bezeichnet - enthielt
auch den Tempel mit den Bildern des ursprünglichen und der 5 sekunren Buddhas
(Fo), 5 Bodhisattvas (Pu sa), die Arhats und Patriarchen und eine ganze Schar aus der
Volksshagiolatrie der Chinesen rezipierter Schutzgötter (darunter auch der als Kriegs-
gott apotheosierte früher genannte Kuanti). Chinesisch ist dabei vor allem das Auftre-
ten eines weiblichen Bodhisattva: Kwan Yin, der Schutzherrin der Caritas. Und zwar
scheint diese Figur ihren weiblichen Charakter erst im Laufe der Zeit empfangen zu
haben
2
), wahrscheinlich unter dem Einfluß der Konkur-
1
) Vgl. dazu auch: R. F. Johnston, Buddhist China, London 1913.
2
) Immerhin ruft schon der Pilger Fa - Hien (um 400) in Seenot die Kwan - yin an.
292
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [291]
renz der Sekten, welche - wie apolitische Konfessionen meist - auf weiblichen Zulauf
reflektierten. Die Gestalt ist Gegenbild der occidentalen Muttergottes als Nothelferin
und war die einzige Konzession, die der Sakti -Frömmigkeit in China gemacht wurde.
Die Klöster waren ursprünglich offenbar nach dem typisch hinduistischen Filiationssy-
stem gegliedert. Nachdem aber die chinesische Regierung ihrerseits besondere Beamte
für die Aufsicht über die Klöster und die Handhabung der Disziplin eingesetzt hatte,
bestand später eine von dieser Hierarchie gesonderte Organisation nicht. Auch die An-
sätze des Patriarchentums haben sich nach der großen Verfolgung nicht weiter entwik-
kelt, zweifellos aus politischen Gründen. Es blieb aber die Gemeinschaft der Klöster
dadurch erhalten, daß jeder Mönch das Recht auf die Gastlichkeit in jedem Kloster
hatte. Im übrigen blieb nur das charismatische Prestige einzelner Klöster als altbekann-
ter Stätten ritueller Korrektheit bestehen.
Ganz nach indischer Art spalteten sich die Klöster nach Schulen. Und zwar offenbar
wesentlich entsprechend den Wellen von Mahayana - Revivals, welche unter dem Ein-
fluß grer Lehrer von Indien aus über das Missionsgebiet hingingen. Beim ersten Im-
port und selbst noch zur Zeit der Uebersiedelung des Patriarchen Bodhidharma war die
Mahayana - Doktrin noch nicht in ihren späteren Konsequenzen (durch Nagarjuna und
Vasubandhu) ausgearbeitet. Die älteste Schule, das Tschan sung, hat infolgedessen
noch einen stark hinayanistischen Charakter in der Art der Heilssuche. Die alte Medi-
tation (dhyana), das Suchen nach Entleerungdes Bewußtseins, die Ablehnung aller
äußeren Kultmittel blieb ihr in starkem Maße eigentümlich. Sie galt wohl schon wegen
der Verwandtschaft mit der Wu - wei - Lehre - lange als die vornehmste und war ge-
raume Zeit die größte der chinesischen Buddhasekten. Die früher dargestellten ma-
hayanistischen Lehren Nagarjunas und Vasubandhus haben in den Sekten der Hsien -
schon - tsung und Tsi - jen - tsung ihre Vertreter gefunden. Die Phantastik des Schwel-
gens in überirdischen Herrlichkeiten bei der ersten, der Liebesakosmismus des durch
die achtfache Stufenfolge der Konzentration vollendeten Bodhisattva bei der anderen
sind hier übernommen. Die zweitgenannte Sekte ist demgemäß in starkem Maße die
Trägerin der spezifisch buddhistischen Karität in China geworden.
Von den sonstigen Sekten hat die Tien - tai - tsung wohl die
293
Hinduismus und Buddhismus. [292]
größte literarische Popularit erlangt durch Uebertragung und Kommentierung des
mahayanistischen Saddharma pundarika
1
): sie war dem Wesen nach eklektische Mi-
schung der hinayanistischen Meditation mit Ritus und Idolatrie. Die Lutsung - Sekte
war demgegenüber die am strengsten (im Sinn des Vinaya pitaka) ritualistische, die
Tsching - tu - tsang - Sekte dagegen die den Laienbedürfnissen am weitesten entge-
genkommende. Die Verherrlichung des Paradieses im Westen unter Leitung des Budd-
ha Amithaba und der Kwan - yin, vermutlich auch die Rezeption dieser Figur über-
haupt, war ihr Werk.
Der chinesische Buddhismus hat teilweise versucht, durch Rezeption der gren Heili-
gen der beiden andren Systeme, eine Einheitsreligion (San chiao i ti) herzustellen. Im
16. Jahrhundert finden sich Buddha, Laotse und Konfucius auf Monumenten vereinigt
und Aehnliches soll schon viele Jahrhunderte früher sich nachweisen lassen. Indessen
zum mindesten der offizielle Konfuzianismus hat diese Versuche abgelehnt und den
Buddhismus stets mit den gleichen Augen angesehen, wie dar antik römische Amtsadel
die orientalischen Superstitionen”.
Der Charakter des späteren chinesischen Buddha - Mönchtums wurde ganz wesentlich
bestimmt durch seinen zunehmend plebejischen Charakter. Ein Mann von Rang und
aus guter Familie wird heute nicht in ein Mönchskloster eintreten. Dies rfte schon
seit dem Jahrhundert der großen Verfolgung, endgültig jedenfalls seit dem heiligen
Edikt Kang - his so gewesen sein. Die Mönche rekrutieren sich aus aliterarischen
Schichten, namentlich aus den Bauern und Kleinbürgern. Dies hat zunächst zu einer
durchaus ritualistischen Ausgestaltung des Mönchslebens selbst geführt. Verstöße des
Mönchs gegen das Zeremoniell und die Disziplin scheinen - wie dies ja dem Charakter
des chinesischen Formalismus entspricht - oft ziemlich streng geahndet, in unserem
Sinn des Wortes sittliche” Verfehlungen verhältnismäßig leichter genommen zu wer-
den. Hasard, Trunk, Opium, Weiber spielten - angeblich - in manchen Klöstern eine
beträchtliche Rolle. Von irgendwelchen Ansätzen zu einer systematischen ethischen
Rationalisierung der Lebensführung der Laien konnte gar keine Rede sein. Kloster-
schülen für Laien existierten, wenigstens als verbreitete Erscheinung, wenig, und die
1
) Uebersetzt in den S. B. of the East XXI von Kern (The Lotus of the True Law).
294
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [293]
literarische Bildung, welche der Novize, ehe er zum Mönch und dann zum Anrter
auf die Bodhisattva - Würde aufsteigt, hat sehr wenig rationalen Charakter. Der
Schwerpunkt des Mönchslebens liegt in dreierlei. Zunächst im täglichen Kultus, einem
Vorlesen heiliger Schriften, herausgewachsen aus der alten Uposatha - Feier. Ferner in
der einsamen oder, charakteristischer, gemeinsamen Entleerungs - Meditation, der sit-
zenden und der in China als Spezialität gepflegten laufenden
1
). Endlich in asketischen
Virtuosenleistungen, welche der Mahayanismus der alten hinduistischen Volksaskese
der Magier entlehnt hat. Die höhere Weihe alter Mönche, zum Bhodisattva - Anwärter,
war mit einer Brandmarkung verbunden. Und als Virtuosenleistung kam und kommt
2
)
es vor, daß ein Mönch sich entweder einzelne Körperteile verbrennen läßt oder sich in
einen Holzverschlag in der vorgeschriebenen Haltung eines Betenden niedersetzt und
die um ihn zur Selbstverbrennung aufgehäuften Brennstoffe selbst entzündet, oder end-
lich, daß er sich lebenslänglich einmauern läßt. Derartige Virtuosen werden nach dem
Tode große Heilige des Klosters.
Die zuweilen recht bedeutenden, von einer Schar von Beamten verwalteten buddhisti-
schen Klöster in China waren, alles in allem, Stätten teils irrationaler Askese, teils irra-
tionaler Meditation, nicht aber Pflegestätten rationaler Erziehung. Der in ganz China
gewaltige und magisch gedeutete Nimbus des Literatentums fehlte ihnen je länger je
vollständiger, obwohl (zum Teil : weil) gerade sie, im Interesse der Propaganda,
Hauptstätten des Buchdrucks waren, der sich wesentlich auf erbauliche Schriften und
magisch wichtige Tafeln erstreckte. Die Chinesen wendeten sich an buddhistische
Gottheiten, tote oder auch lebende buddhistische Heilige als Nothelfer in Krankheit
oder bei anderem Mißgeschick, die Totenmessen wurden auch von hochgestellten
Kreisen geschätzt und das primitive Losorakel in den Sanktuarien spielte bei den
Massen eine nicht unerhebliche Rolle. Aber das war alles. Die Mönche haben dem
Laienglauben die verschiedensten Konzessionen machen müssen, unter anderem auch
durch Anbringung korrekter Ahnentafeln und Darbringung von Ahnenopfern für tote
Mönche. Auch ist die chinesische Pagode,
1
) Umlaufen eines Tisches mit Kultobjekten auf ein gegebenes Zeichen mit zunehmender Schnellig-
keit und eventuell unter Geißelantrieb.
2
) Nach Hackmann S. 23. a. a. O. aus persönlicher Anschauung gegen de Groot a. a. O. S. 227.
295
Hinduismus und Buddhismus. [294]
die aus Indien in alle hinduistisch beeinflußten Gebiete mit den nötigen Modifikationen
übernommene Form des Tempels, in China durch Verbindung mit der Fung - Schui -
Lehre aus einer buddhistischen Kultstätte zu einem apotropäischen Mittel gegen die
Luft- und Wasser-Dämonen geworden, welches zu diesem Behuf an geeigneten, von
den Magiern ermittelten Stellen aufgeführt wird. Die starke Bedeutung der Zeremonien
buddhistischer Provenienz im Volksbrauch wurde schon früher erwähnt. Der ethische
Vergeltungsglauben ist durch den (älteren) Taoismus und den Buddhismus in die
Massen getragen worden und hat zweifellos stärkend auf die Innehaltung der alten
nachbarschaftsethischen und der speziellen Pietätsgebote der chinesischen Volksethik
gewirkt. Darüber hinaus ist, wie ebenfalls schon erwähnt, wohl fast alles, was an In-
nigkeit, karitativem Empfinden r Mensch und Tier und stimmungshafter Sinnigkeit in
China überhaupt zu finden ist, irgendwie durch die massenhaft übersetzte und bekannt
gewordene buddhistische Legendenliteratur erzeugt. Aber einen beherrschenden Ein-
fluß auf die Lebensführung hat der Buddhismus nicht gewonnen.
Er hat dies in K o r e a
1
) in offenbar noch geringerern Umfang getan. Die koreanische
Sozialordnung war ein verblaßtes Abbild der chinesischen. Kaufmannsgilden (Pusang)
und Handwerkerzünfte existierten wie in China. Der Feudalismus war auch dort durch
das Mandarinentum ersetzt. Sowohl die Beamtenanstellung und das Avancement nach
sukzessiven literarischen Prüfungen wie die Propaganda des Buddhismus als Domesti-
kationsmittel waren in Korea das Werk der mongolischen Dynastie in Peking. Der
schon vor der mongolischen Unterwerfung, seit dem 6. Jahrhundert, von China aus
missionierende Buddhismus erstieg daher nach dem 10., besonders aber im 13. Jahr-
hundert die Hochblüte seiner Macht. Die Mönchsklöster haben gelegentlich als Zen-
tren der Organisation kriegerischer Orden gedient. Denn das buddhistische Mönchtum
hatte in Korea ganz die gleichen Gegner wie in China: die Literaten. Sie hatten zwar
hier nicht das Prestige erlangt, wie in China. Denn sie hatten einerseits - wie dort - mit
den Eunuchen, andererseits mit den (zuletzt sechs) Generälen” der Armee, d. h. den
Condottieren, welche die Anwerbung der Armee in Entreprise nahmen, zu
1
) Ueber Korea s. neben der gangbaren Literatur die Reiseschilderung von Chaillè - Long - Bey in
den Annales du Musèe Guimet Band 26.
296
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [295]
ringen. Die Rente, welche die längst ganz unkriegerische Soldatenstellung eintrug,
wurde sehr begehrt und die Zugehörigkeit zur Armee Gegenstand des Kaufes. Die Ar-
mee - Chefs standen fast gleichberechtigt neben dem Monarchen, mit dem sie die Ein-
künfte teilten. In religiöser Hinsicht scheint die urwüchsige Magie der Berufszauberer,
vor allem die ekstatische, in starkem Maße von Frauen (Mudang) betriebene Magie
des therapeutischen und apotropäischen Tanzes, nahezu beziehungslos neben den nur
durch die einstige Protektion der Herrscher hochgekommenen buddhistischen Klöstern
gestanden zu haben. Ein zweifelles von den Konkurrenten der Mönche geschürter Auf-
stand brach schlilich die Macht der Kirche und damit alle Ansätze einer eigenen
Kultur in Korea. Die neuerlich berichtete Initiative der japanischen Regierung in der
Gründung Von großen Klöstern scheint auf den ersten Blick in Widerspruch mit der im
japanischen Inland, antibuddhistischen Politik. Indessen dürfte dabei der Gedanke der
pazifistischen Domestikation des unterworfenen Landes durch diese Religion des Frie-
dens ebenso mitspielen, wie bei der Unterstützung der alten offiziellen Riten im eige-
nen Lande der Wunsch, den kriegerischen Geist zu stützen.
In J a p a n
1
) war, wie in Korea, aller Intellektualismus Chinesischen Ur-sprungs. Der
Konfuzianismus scheint auf die Prägung des japanischen Gentleman - Ideals seinerzeit
einen nicht ganz unbeträchtlichen Einfluß gehabt zu haben, freilich gekreuzt durch die
bald zu besprechenden heterogenen Bedingungen des japanischen Ständewesens. Der
chinesische Soldatengott ist in Japan rezipiert. Daneben sind auch unmittelbar hindui-
stische Importe spürbar. Aber im ganzen hat sich das ältere Japan der Vermittlung
Chinas für alle Kulturrezeptionen bedient. So war auch dei in den ersten Jahrzehnten
des 6. Jahrhunderts dort auftretende Buddhismus
2
) auf dem Wege der koreanischen;
1
) Die beiden deutschen Schriftsteller, welche aus eigener Anschauung in genauer Kenntnis der japa-
nischen Sprache die Entwicklung der geistigen und materiellen Kultur Japans am zuverlässigsten
geschildert haben, sind (für die erstere) K. Florenz und (mehr für die letztere) K. Rathgen. Das
verdienstvolle (Buch von Nachod ft auf Uebersetzungen, namentlich der alten Kojiki- und Ni-
hongi - Annalen” (erstere von Chamberlain ins Englische, letztere von Florenz ins Deutsche
übertragen), die für japanische Kulturgeschichte grundlegend, aber für unsere speziellen Zwecke
nicht wesentlich sind. Einige Einzelzitate weiterhin. Von den Rechtsguellen hat Otto Rudorff im
Supplementheft zu Band V der Mitteil. der D. Ges. f. Natur- und lkerkunde Ostasiens (1889)
die großen bekannten Tokugava - Edikte publiziert.
2
) Sehr schöne Skizze von Florenz in der “Kultur der Gegenwart”. Recht
297
Hinduismus und Buddhismus. [296]
dann, etwa seit dem 8. Jahrhundert, der direkt chinesischen Mission importiert und zu-
nächst wesentlich chinesischer Buddhismus. Wie ursprünglich die gesamte japanische
höfische Literatur, so war auch seine heilige Literatur lange Zeit an die chinesische
Sprache gebunden. Die wirkliche Rezeption erfolgte hier wie überall sonst auf Initiati-
ve der Regierung und aus den typischen Gnden. Der vielgefeierte Regent, Prinz Sho-
toku - Taishi, der sie durchführte, bezweckte damit sicherlich vor allem die
Domestikation und Disziplinierung der Untertanen. Ferner die Verwendung der
schriftkundigen buddhistischen Priester im Beamtendienst, den sie bis Ende des 18.
Jahrhunderts oft monopolisierten. Endlich auch die weitere Anreicherung Japans mit
chinesischer Kultur, der er, einer der erstenLiteraten” Japans, ergeben war. Die
zahlreichen Frauen, welche in der nächsten Folgezeit auf dem Thron saßen, waren
sämtlich leidenschaftliche Anhängerinnen der sich an das Gefühlsleben wendenden
neuen Religiosität. Wenn der japanische Buddhismus und die japanische Religion überhaupt, trotz des
sehr bedeutenden Interesses, welches sie an sich bietet, hier nebenher und in kurzer
Skizze erledigt werden, so deshalb
1
), weil die r unsere Zusammenhänge wichtigen
Eigentümlichkeiten des Geistes” der japanischen Lebensführung durch einen gänzlich
anderen Umstand als durch religiöse Momente erzeugt worden sind. Nämlich: durch
den f e u d a l e n Charakter der politischen und sozialen Struktur. Nachdem Japan
zeitweise eine auf streng durchgeführtes Gentilcharisma gegründete soziale Verfassung
gehabt und einen sehr reine Typus des “Geschlechterstaats” dargestellt hatte, gingen
die Herrscher, wesentlich um die unelastische Stereotypierung dieser Sozialordnung zu
überwinden, zur Verlehnung der politischen Aemter über, und es entwickelte sich jene
soziale Ordnung, welche das mittelalterliche Japan bis an die Schwelle der Gegenwart
beherrscht hat.
Der Feudalismus war es hier, welcher die Erdrosselung
lesenswert, weil auch auf Selbstanschauung ruhend, ist die populäre Darstellung von Hackmann in
den Religionsgeschichtl. Volksbüchern (III. Reihe 7. Heft).
1
) Neben dem entscheidenden im Text erwähnten sachlichen Umstand übrigens auch deswegen, weil
das für die Beurteilung stets ausschlaggebende epigraphische Material mir in Uebersetzungen
nicht zugänglich war. Leider haben mir auch die Transactions der Asiatic Society of Japan, welche
offenbar sehr wertvolle Arbeiten enthalten, nicht vorgelegen.
298
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [297]
des Außenhandels (durch Beschränkung auf Passivhandel in einem Vertragshafen) und
die Hemmung der Entwicklung irgendwelcher im europäischen Sinn “bürgerlicher”
Schichten herbeiführte. Der Begriff der Stadt” als eines Trägers autonomer Rechte
fehlte in Japan völlig. Es gab gre und kleine Ortschaften mit Dorf- und Stadtviertel-
vorständen. Die Städte waren aber weder königliche Festungen - nur zwei machten ei-
ne Ausnahme - noch die typischen Sitze der rstlichen Verwaltung, wie dies in China
der Fall war. Es war im Gegensatz zu China rechtlich zufällig, ob ein Vasallenfürst in
einer Stadt” oder auf einer ländlichen Burg seinen Sitz hatte. Es fehlte der bürokrati-
sche Apparat der chinesischen Verwaltung, die von Amt zu Amt versetzte Mandari-
nenschicht, ihr Prüfungswesen und die patriarchale Theokratie mit ihrer Wohlfahrts-
staatstheorie überhaupt. Das theokratische Oberhaupt s seit der Tokugava - Herr-
schaft endgültig in hierokratischer Klausur in Kyoto. Der primus inter pares der Kron-
vasallen: der Shogun (Kronmarschall und Chef derVasallen, also: Hausmeier) war der
unmittelbare Herr innerhalb seines Hausmachtgebietes und führte die Kontrolle der
Verwaltung der Vasallenfürsten. In der Lehenshierarchie
1
) bestand vor allem ein
Schnitt zwischen den als Landesfürsten mit voller Regierungsgewalt ausgestatteten,
ebenso wie der Shogun als Vasallen des Kaisers, selbst geltenden Daimyo einerseits,
und den Vasallen und Ministerialen dieser Landesfürsten (einschließlich des Shogun):
den Samurai der verschiedenen Rangklassen, unter denen im Rang voranstanden die zu
Pferde dienenden Ritter. Die zu Fuße dienenden Mannen (Kasi) waren einfache Mini-
sterialen, die oft ein roamt versahen. Die Samurai waren, als allein zum Waffentra-
gen berechtigt und lehensfähig, von den Bauern und den nach feudaler Art im Rang
noch hinter diesen stehenden Kaufleuten und Handwerkern streng geschieden. Sie wa-
ren freie Leute. Das erbliche Lehen (han) war ihrerseits ndbar und wurde durch Fe-
lonie oder schwere Mißverwaltung kraft Richterspruchs des Lehenshofs verwirkt.
Auch auf Versetzung in ein niederes Lehen konnte dabei erkannt werden. Dies und vor
allem die zur Bestimmung der Zahl der zu stellenden Kombattanten vorgenommene
Katastrierung der Lehen nach der Höhe ihrer
1
) Dafür eine gute zusammenfassende Darstellung von M. C o u r a n t (Les Clans japonais sous les
Tokugava) in den Annales du Musèe Guimet (Bibliothèque de Vulgarisation, T. XV, 1904).
299
Hinduismus und Buddhismus. [298]
traditionell schuldigen Reisrente (der Kokudaka”), welche auch den Rang ihrer Inha-
ber bestimmte, stellt das japanische Lehen in die Nachbarschaft jener typisch asiati-
schen Militär - Pfründen, die wir namentlich in Indien fanden
1
). Jedoch blieb die per-
sönliche Treue- vnd Heerfolgepflicht (neben traditionellen Ehrengeschenken) das Ent-
scheidende. Der Standpunkt der Bestimmung des Ranges nach der Höhe der Reisrente,
nach welcher sogar entschieden werden sollte, ob jemand zu den Daimyo zu zählen sei
oder nicht, ist natürlich die auch sonst gelegentlich eingetretene gerade Umkehrung des
ursprünglichen gentilcharismatischen Standpunkts, wonach der überlieferte Rang der
Sippe den Ansprueh auf den zu verleihenden Amtsrang und die damit traditionell ver-
bundenen Machtbefugnisse verlieh
2
). Die Kanzlei (bakuhu) des Shogun kontrollierte
3
)
die Verwaltung der Daimyo und ihre Politik und politisch wichtigen Privathandlungen
(z. B. ihre Eheschließungen, die konsensbedürftig waren), die Daimyo diejenige ihrer
Lehensträger. Der alternde oder durch Richterspruch dienstunfähig erklärte Lehens-
mann hatte ins Altenteil (inkyo) zu gehen. Der Nachfolger hatte die Investitur einzuho-
len; das gleiche galt r den Herrenfall”. Das Lehen war unveräußerlich und nur auf
Zeit antichretisch verpfändbar. Als Bestandteile der fürstlichen Oiken existierten Han-
delsmonopole und gewisse luxusgewerbliche Ergasterien. Bedeutende Gilden existier-
ten im Vertragshafen Nagasaki, Berufsverbände wohl überall. Irgendeine als politische
Macht beachtliche Schicht, welche Träger einer bürgerlichen” Entwicklung im occi-
dentalen Sinn hätte sein können, bestand aber nicht, und der durch die Reglementie-
rung des Außenhandels aufrechterhaltene hochgradig statische Zustand der Wirtschaft
ließ auch eine kapitalistische Dynamik nicht entstehen. Politischer Kapitalismus:
Staatslieferanten- und Staatsgläubiger- oder Steuerpächter-
1
) Tatsächlich gab es neben den Landlehen (hado) auch die einfache Rentenpfründe, angewiesen ent-
weder (als tsyga - Lehen) auf die Einkünfte eines Bezirkes, oder (als hyomono) auf die herrschaft-
liche Kammer.
2
) Dies drückte sich sehr deutlich, auch noch unter der Tokugava - Herrschaft, in dem Anspruch be-
stimmter Familien auf die kündbaren hohen Beamten- (Karo-) Posten aus. Ebenso bestimmte sich
im Heere die Kommandogewalt, die einem Offizier gegeben werden konnte, nach seiner Kokuda-
ka. Nur ein Mann aus einer Samurai - Familie konnte ferner mit dem Blutbann belehnt werden.
3
) Namentlich auch, indem er die angestellten Minister (Karo) der Kronvasallen direkt zur Verant-
wortung zog, - während andererseits der persönliche Charakter der Lehenshierarchie sich darin
ausdrückte, daß die direkte Beziehung der Untervasallen zum Oberlehensherrn nicht bestand.
300
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [299]
Schichten fehlten fast ganz, da die finanzpolitischen Voraussetzungen fehlten. Denn
der Heeresbedarf wurde im wesentlichen durch feudale Selbstequipierung und Aufge-
bot der Vasallen und Ministerialen, also ohne Trennung des Kriegers von den Kriegs-
betriebsmitteln, gedeckt, und die lange Friedensära unter den Shogunen der Tokugava
- Dynastie li - überdies keine Gelegenheit zu rationaler Kriegführung entstehen. Nur
die Privatfehde blühte, wie in unserem Mittelalter. Die Unterklasse der Vasallen und
Ministerialen: die Samurai und Kasi, stellte die r Japan typisehe Schicht. Der hoch-
gespannte, rein feudale, Ehrbegriff und die Vasallentreue waren die zentralen Empfin-
dungen, um die sich zum mindesten in der literarischen Theorie letztlich alles drehte.
In der Praxis war die Reisrente die typische Form der materiellen Versorgung dieser
Klasse.
Politisch rechtlos war nicht nur der Kaufmann und Handwerker, sondern auch die brei-
te Schicht der Bauern (no), welche dazu da waren, die Steuern r den Herrn aufzu-
bringen und bei welchen, wenigstens zum Teil, das Prinzip der Neuumteilung - im Zu-
sammenhang mit der Steuerpflicht - bestand. Der Abschlder Dörfer gegen Außen-
geborene war, da der Pflicht zum Lande auch hier das Recht auf Land entsprach,
streng: der midzunomi (der Wassertrinker”, d. h. der Fremdbürtige, der kein Recht
auf Land hatte) war im Dorf rechtlos. Das Gemeinbürgschaftssystem (Gonungumi, je 5
Sippen) war durchgeführt, die Würde des Dorfvorstandes gentilcharismatisch erblich.
Ueber ihm stand der Daikwan, ein Samurai, der mit dem Gerichtsbann beliehen war.
Bei wichtigen Angelegenheiten berief jeder rst das Plenum der Lehensmannen zu-
sammen. Solche Versammlungen der Samurai waren es, welche in einigen der Teilr-
stentümer in der großen Krisis der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts den Uebergang
zur modernen Form des Heeres und die Richtung jener Politik überhaupt bestimmt ha-
ben, die zum Sturz des Shogunates hrte. Der weitere Verlauf der Restauration hrte
dann zur Einführung der bürokratischen an Stelle der Lehensverwaltung nicht nur im
Heer, sondern auch im Staatsdienst und zur Ablösung der Lehensrechte. Diese ver-
wandelte breite Schichten der Samurai - Klasse in einen kleinen Rentner - Mittelstand,
teilweise geradezu in Besitzlose. Der hohe Ehrbegriff der alten Feudalzeit war unter
der Einwirkung des
301
Hinduismus und Buddhismus. [300]
Reisrentepfründenwesens, schon vorher in der Richtung der Rentnergesinnung tempe-
riert worden. Irgendeine Beziehung zu einer Ethik des bürgerlichen Erwerbs hätte aber
von da her aus eigener Kraft nicht hergestellt werden können. Wenn europäische Ge-
schäftsleute in der Zeit nach der Restauration oft die niedrige Geschäftsmoral” der ja-
panischen im Gegensatz zu den großen chinesischen Händlern beklagt haben, so wür-
de sich die Tatsache - soweit sie eine solche gewesen sein sollte - leicht aus der allge-
meinen feudalen Einschätzung des Handels als einer Form der gegenseitigen Uebervor-
teilung, wie sie Bismarcks “Qai trompe - t - on ?” wiedergibt, erklären.
Der Gegensatz gegen China, mit dessen feudaler Teilstaatenperiode sich der Zustand
des feudalen Japan am meisten berührte, lag vor allem darin: daß in Japan nicht eine
unmilitärische Literatenschicht, sondern eine Berufskriegerschicht sozial am stärksten
ins Gewicht fiel. Rittersitte und Ritterbildung wie im Mittelalter des Occidents, nicht
Prüfungsdiplom und Scholarenbildung wie in China, innerweltliche Bildung wie in der
occidentalen Antike, nicht Erlösungsphilosophie wie in Indien bestimmte das prakti-
sche Verhalten.
Eine Bevölkerung, in welcher eine Schicht vom Typus der Samurai die ausschlagge-
bende Rolle spielte, konnte - von allen andern Umständen (dem Abschlnach außen
vor allem) abgesehen - aus Eigenem nicht zu einer rationalen Wirtschaftsethik gelan-
gen. Immerhin bot das ndbare, feste kontraktliche Rechtsbeziehungen schaffende
Lehensverhältnis eine weit günstigere Basis für “Individualismus” im occidentalen
Sinn des Worts dar, als etwa die chinesische Theokratie. Japan konnte den Kapitalis-
mus als Artefakt von außen relativ leicht übernehmen, wenn auch nicht seinen Geist
aus sich schaffen. Ebensowenig konnte es aus sich heraus die Entstehung einer mysti-
schen Intellektuellensoteriologie und die Herrschaft von Gurus nach indischer Art er-
zeugen. Der feudale Standesstolz der Samurai mußte vielmehr gegen diese absolute
Obedienz gegen klerikale Leitung revoltieren. So geschah es auch.
Funktionsgeister - und darunter auch Phalloskulte - so sorgsam auch der prüde moder-
ne Rationalismus heute die Spuren der letzteren verwischt -, Amulette und ähnliche
magische apotropäische und homöopathische Prozeduren und, als Hauptbestandteil der
Religiosität, der Kult der Ahnengeister - der
302
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [301]
eigenen Ahnen und derjenigen apotheosierter Heroen - als der Mächte, vor welchen
der Vornehme sich r sein Leben verantwortlich hlte, bildeten zur Zeit der Rezepti-
on des Buddhismus in Japan die herrschende Religiosität. Der offizielle Kult trug
durchaus den Typus vornehmen Ritualismus einer Ritterschicht: Rezitation von Hym-
nen und Speiseopfer waren seine wesentlichen Bestandteile. Die Orgiastik und Eksta-
tik hatte zweifellos das Standeswürdegefühl der Ritterschaft eliminiert, der kultische
Tanz war nur in Resten erhalten. Rituelle Unreinheit - darunter neben Gebrechen auch
solche durch Blutschuld und Incest -, nicht aber ethische nde”, schl von der
Teilnahme am Kult (ähnlich wie von den eleusinischen Mysterien) aus. Sehr strenge
Reinheitsvorschriften aller Art ersetzten daher die fehlende religiöse Ethik”. Jegliche
Art von jenseitiger Vergeltung fehlte: die Toten wohnten, wie bei den Hellenen, im
Hades. Der Souverän, abstammend vom Sonnengeist, war, wie in China, Oberpriester.
Ordale und Orakel fungierten bei politischen Entschlüssen ähnlich wie überall. Von der
Masse der Götter sind auch heute die große Mehrzahl apotheosierte Heroen und Wohl-
täter. Die Priesterstellen in den zahlreichen schmucklosen Tempeln waren und sind
meist erblich in den Sippen der in acht Rangklassen geteilten staatlichen “Gottesbeam-
ten”. Rangverleihungen an bewährte Götter kamen wie in China vor und ebenso stand
die Rangordnung der Tempel fest. Neben dem offiziellen Tempelkult stand der Privat-
kult im Hause. Die alte Form des Kults der eigenen Ahnengeister wurde später fast
ganz durch die buddhistische Totenmesse verdrängt. Hier wie überall hatte der Budd-
hismus in der Lehre von der Jenseitsvergeltung und dem jenseitigen Heil seine Domä-
ne, während die erst im Gegensatz zu dieser fremden Lehre als “Shinto” (Kult der
Landesgötter, der Kami) bezeichnete alte Religiosität allen Kult, auch der Ahnengei-
ster, nur in den Dienst eigener Diesseits - Interessen stellte.
Der Buddhismus hielt unter höfischer Protektion zunächst als eine vornehme Literaten
- Soteriologie seinen Einzug. Der Mahayanismus hat dann auch hier die verschiedenen
Möglichkeiten, die in ihm lagen, durch Schul- und Sektenbildung
1
) sehr bald aus sich
entwickelt. Was er im Gegensatz zu all jenen
1
) Ueber diese s. H a a s in der Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft. 1905.
303
Hinduismus und Buddhismus. [302]
dem Wesen nach animistischen und magischen, jeglicher unmittelbar ethischen Anfor-
derungen entbehrenden, Kulten brachte, war, seiner Natur entsprechend, eine - relativ -
rationale religiöse Lebensreglementierung, außerweltliche Heilsziele und Heilswege
und eine Anreicherung des Gefühlsgehalts. Alles was über den feudalen Ehrbegriff
hinaus an Sublimierung des Trieb- und Empfindungslebens in Japan entwickelt wurde,
ist unbestritten sein Werk gewesen. Die kühle Temperierung der indischen Intellektuel-
lensoteriologie hat er auch hier beibehalten, und sie verschmolz offenbar mit dem in
Japan wieder ganz ins Feudale zurücktransponierten konfuzianisehen Gebot der Hal-
tung” und Schicklichkeit” zu jenem auf Würde der Geste und höfliche Distanz ge-
stimmten Gentleman - Ideal, als dessen Repräsentanten, gegenüber der ungebrochenen
Derbheit oder gefühlsseligen Distanzlosigkeit des Europäers, sich gebildete Japaner zu
fühlen pflegen. Wie stark sein Anteil daran im einzelnen ist, vermöchte nur fachmänni-
sche Analyse zu sagen. Immerhin zeigt der japanische Buddhismus trotz der Ueber-
nahme der meisten Sekten aus China einige nur ihm eigene Entwicklungsrichtungen.
Von den buddhistischen Sekten (shu), deren Anzahl die üblichen Aufzählungen gern
auf runde Ziffern zu bringen suchen
1
), interessieren hier nur einige. Von den bis in die
Gegenwart bestehenden größeren Sekten ist die Schingon die älteste (gestiftet im 9.
Jahrhundert). In ihr ist die Gebetsformel (die hinduistische Mantra) zugleich magische
Zauberformel und esoterisch gedeutetes mystisches Mittel der Einigung mit dem Gött-
lichen
2
). Die Jodo -shu
3
) (gestiftet gegen Ende des 12. Jahrhunderts)
1
) Es pflegen davon 10 aufgezählt zu werden: die dabei mitgezählten kleinen Sekten wechseln jedoch.
2
) Zu ihren Büchern pflegt das Vagrakhedika gerechnet zu werden (S. B. of the East Vol. 49).
Dharma” und Samgñas”, ersteres hier als ειδος, Form, Individualität, gedeutet, letzteres: “Na-
me”, die Bezeichnung für “Begriff”, sind die Stichworte der Argumentation. Es gibt keinen
Hund”, sondern nur diesen” Hund. Da also die Begriffe nur Abstraktionen sind, die Dinge
Namen”, so ist alles nur Schein. Nur die Seele hat Realität und nur die Bodhisattvas kennen die
Wirklichkeiten. In der Scheinwelt des empirischen Daseins aber hat eben deshalb das Wort magi-
sche Kraft.
3
) Zu ihren heiligen Büchern gehören das große und das kleine Sukhavati - Vyuha (in den Sacrad B.
of the East Vol. 49). Das westliche Paradies wird in den glühendsten Farben geschildert. Absolute
Voraussetzung ist aber “Glaube”. Nach dem großen Sukhavati -Vyuha 41) kommt kein Zweif-
ler ins Paradies, selbst zweifelnde Bhodisattvas (!) schädigen ihre Seligkeit. Das kleine Sukhavati -
304
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [303]
verheißt nach chinesischer mahayanistischer Art das westliche Paradies (indisch: Sak-
havati) und empfiehlt als Mittel dazu die formelhafte inbrünstig gläubige Anrufung des
Amida, des in ganz Ostasien populärsten Schülers des Buddha, der hier zu den fünf
höchsten Göttern (Buddhas) gehört. Wichtiger als beide waren die etwas später als die
Jodo - shu gestiftete Zen- und die Schin - Sekte.
Die Zen - Sekte, aus drei selbständigen Zweigen bestehend, pflegte eine vornehmlich
in mystisch gedeuteten Exerzitien bestehende, die Schin - Sekte umgekehrt eine von al-
len solchen Virtuosenleistungen freie innerweltliche Andachts- und Glaubens - Reli-
giosität. Die religiösen Uebungen der Zen - Sekte standen dem alten hinduistischen
Typus der buddhistischen Kschatriya - Religiosität verhältnismäßig am nächsten.
Dementsprechend waren ihre Zweige auch lange Zeit die von dem Samurai - Stande
bevorzugten vornehmen, daher an Tempeln besonders reichen Formen des japanischen
Buddhismus. Wie der alte Buddhismus verwarf sie alles Buchwissen und legte den
entscheidenden Nachdruck auf die Disziplinierung des Geistes und die Erringung der
Indifferenz gegen die Außenwelt, vor allem auch den eigenen Körper. Für das Zen -
Mönchtum war der Sinn dieses Training die Befreiung von der Welt durch kontempla-
tive Vereinigung mit dem Göttlichen. Die Laien, vor allem die Berufskrieger, schätzten
die Uebungen als Mittel der Abhärtung und Disziplinierung für ihren Beruf, und es
wird, auch von berufenen Japanern, behauptet, daß die Sektendisziplin zur militäri-
schen Verwertbarkeit der Japaner durch chtung einer Stimmung der Nichtachtung
des Lebens als solchen erheblich beigetragen habe
1
).
Im scharfen Gegensatz zu den Zen - Sekten kann die Anfang des 13. Jahrhunderts ge-
stiftete Schin - Sekte wenigstens insofern dem occidentalen Protestantismus verglichen
werden, als sie alle Werkheiligkeit ablehnte zugunsten der alleinigen Bedeutung der
gläubigen Hingabe an den Buddha Amida. Sie gleicht darin der bald zu besprechenden
bhakti - Religiosität
Vyuha lehnt ausdrücklich (§ 10) die Werkgerechtigkeit als Weg zur Seligkeit ab. Nur gläubiges
Gebet zu Amitâya, tagelang vor dem Tod und bis zum Tode, sichern die Seligkeit.
1
) Der Protektor des nach der Verfolgung durch Ota Nobunaga restaurierten Buddhismus freilich,
der Tokugawa - Schogun Yieyasu, scheint für seine Soldaten wesentlich die Hoffnung auf das
buddhistische Paradies als Heldenhimmel geschätzt zu haben.
305
Hinduismus und Buddhismus. [304]
Indiens, die aus dem Krischna - Kult herauswuchs, unterscheidet sich jedoch von die-
sem durch die allen aus der alten hinduistischen Intellektuellen - Soteriologie hervor-
gegangenen Religiositäten eigene Ablehnung jeglicher orgiastisch - ekstatischen Ele-
mente. Amida ist Nothelfer, das Vertrauen auf ihn das allein heilbringende innere Ver-
halten. Als einzige buddhistische Sekte hat sie daher nicht nur den Priesterzölibat, son-
dern überhaupt das Mönchtum beseitigt. Die busso (von den Portugiesen in Bonze
korrumpiert): verheiratete, nur im Amt eine Sondertracht tragende Priester, deren Le-
bensführung im übrigen mit derjenigen der Laien übereinstimmt, sind, hrend sie bei
den anderen buddhistischen Sekten innerhalb und außerhalb Japans ein Produkt des
Verfalls der Disziplin waren, hier vielleicht zuerst als absichtsvoll gewollte Erschei-
nung aufgetreten. Predigt, Schule, Belehrung, volkstümliche Literatur wurden, in vie-
lem ähnlich der abendländisch - lutherischen Art, entwickelt, und die in bürgerlichen
Kreisen überaus zahlreiche Sekte gehörte zu denjenigen Schichten, welche der Auf-
nahme abendländischer Kulturelemente, am freundlichsten gegenüberstanden. Eine ra-
tionale innerweltliche Askese hat sie jedoch ebensowenig und aus den gleichen Grün-
den nicht entwickelt wie das Luthertum. Sie war eine Heilandsreligiosität, welche dem
feudal gebändigten soteriologischen und emotionalen Gefühlsbedürfnissen des Mit-
telstandes entgegenkam, ohne doch die orgiastische ekstatische und magische Wen-
dung der alten hinduistischen volkstümlichen oder auch nur die starke Gefühls - In-
brunst der späteren hinduistischen Frömmigkeit oder unseres Pietismus zu akzeptieren.
Ihre Temperierung war, scheint es, mehr auf Stimmung”, als auf Gefühl in unserem
Sinn angelegt, wie sie denn das Produkt vornehmer Priester gewesen war.
Die Nitchiren - Sekte endlich, Mitte des 13. Jahrhunderts, gestiftet, war eine mönchi-
sche Gegenreformations - Bewegung, eine Rückkehr zu Gautama dem wahren Budd-
ha, der als weltdurchdringende magische Kraft der Erleuchtung gefaßt wurde, unter
schroffer Verwerfung des Heilandes Amida als eines falschen Götzen. Sie suchte die
typische mahayanistische Verbindung von kontemplativer Mystik der Mönche mit Ge-
betsformelmagie und ritueller Werkheiligkeit (“hoben) der Laien wiederherzustellen.
Die der Mehrzahl aller Sekten, mit Ausnahme der Schin, eigene Beschränkung der
Laien auf teilweise höchst irrationale, fromme
306
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [305]
Gelegenheitsleistungen liegt weit ab von jeder Erziehung zu einer rationalen Lebens-
methodik. Tatsächlich haben diese Formen des Buddhismus unter den Laien nur eine
gewisse allgemeine Stimmung der Weltindifferenz, der Ueberzeugung von der Nich-
tigkeit des Vergänglichen: der Welt mit Einschldes Lebens selbst, erzeugt und im
übrigen die Lehre von der Vergeltung (Ingwa, annähernd dem Karrnan” entspre-
chend) und die rituelle Magie als Mittel, sich ihr zu entziehen, verbreitet. Die äußere
Organisation des Mönchtums unterschied sich zunächst nicht von anderen Missionsge-
bieten. Die scharfe Konkurrenz der Sekten untereinander, welche von den einzelnen
Vasallenfürsten und Adelsparteien protegiert, politisch benutzt und gegeneinander aus-
gespielt wurden, haben jedoch bei dem durch und durch feudalen Charakter des Lan-
des, namentlich wohl so lange die Mönche, wenigstens die Aebte, sich aus den Adels-
schichten rekrutierten, den Mönchsgemeinschaften in Japan nicht selten den Charakter
kriegerischer Gemeinschaften von Glaubenskämpfern: von mönchischen Ritterorden,
gegeben. Sie mpften zugleich r die eigene Machtstellung innerhalb der Bevölke-
rung. Zuerst im 11. Jahrhundert wurde von einem Abt, dessen Beispiel andere folgten,
ein Heer von disziplinierten Mönchssoldaten (tonsei) gebildet. Im 14. Jahrhundert
stand diese Entwicklung auf dem Höhepunkt. Mit Ausnahme einiger Zweige der Zen -
Sekte war die Gesamtheit des Mönchtums militarisiert, demgemäß die Klöster meist
erblich verpfründet und das Zölibat verfallen. Der Wiederhersteller der politischen
Gewalt, der Kronfeldherr Ota Nobunaga, setzte dieser Macht der ecclesia militans
Schranken. Eine ungeheure Schlächterei brach die politisch - militärische Macht der
buddhistischen Orden für immer, und ihr Besieger trug kein Bedenken, die Hilfe des
Christentums, vor allem der Jesuitenmissionare, zu diesem Beruf in Anspruch zu neh-
men. Die christliche Mission hat daher seit dem Jahre 1549, wo sie mit dem heiligen
Franz Xavier einsetzte, nicht unerhebliche Erfolge erzielt. Der Regierungsantritt der
Tokugawa - Schogune machte dem ein Ende. Man wollte nicht den buddhistischen
Klerikalismus gegen die Herrschaft eines von auswärts her geleiteten Klerus vertau-
schen, und die Angehörigen jener Hausmeier - Dynastie waren und sind bis zuletzt
persönlich Anhänger des Buddhismus, speziell der ritualistischen Jodo - Sekte, geblie-
ben. Das Religionsedikt von 1614 und die anschließende
307
Hinduismus und Buddhismus. [306]
Christenverfolgung machten dem Bestande der japanischen Christenmission ein Ende.
Der Klerikalismus in Japan war damit überhaupt gebrochen. Die buddhistische Kirche
wurde restauriert und erstmalig systematisch organisiert. Aber ganz und gar von Staats
wegen. Wie in der Spätantike nur durch das Kaiseropfer, so konnte man unter den To-
kugawa nur durch Einschreibung bei einem japanischen Tempel den Nachweis liefern,
kein Christ zu sein. Nach chinesischer Art durfte, seit dem Tokugawa Yiemitsu, kein
Priester amtieren, ohne eine Prüfung abgelegt zu haben. Das Auftreten als Prediger und
die Vorsteherschaft der Tempel war, anknüpfend an das buddhistische Ancienni-
tätsprinzip, an bestimmte lange Fristen mönchischen Lebens geknüpft. Das Filiati-
onsprinzip beherrschte die Rangordnung und die hierarchischen Rechte der Klöster
und ihrer Superioren. Die Mönchsdisziplin: Zölibat und Vegetarismus, wurde - ohne
dauernden Erfolg - staatlich r die Priester eingeschärft. Die Zahl der buddhistischen
Klöster und Tempel vermehrte sich zwar in kolossaler Weise, aber die soziale Macht
der Mönche sank. Die Käuflichkeit der Priesterämter scheint weit verbreitet gewesen
zu sein.
Was die Volksreligiosität anlangt, so näherte sie sich den allgemein asiatischen und an-
tiken Zuständen insofern, als shintoistische, konfuzianische, taoistische, buddhistische
Gottheiten und Nothelfer je nach Funktion und Gelegenheit angerufen wurden. Eine
förmliche Verbindung der shintoistischen mit der buddhistischen Religion wurde unter
höfischer Protektion unternommen. An sich nicht uninteressant, trägt sie doch für unse-
re Zusammenhänge nichts Wesentliches aus. Die vornehmen Schichten wendeten sich
in starkem Maße der konfuzianischen Ethik zu. Das hatte soziale Gründe. Eine stärke-
re innere Umwandlung des buddhistischen Mönchtums vollzog sich nämlich im Lauf
der Jahrhunderte insofern, als, wohl unter dem Druck der Propaganda - Konkurrenz
der Sekten, die Rekrutierurg der Mönche zunehmend demokratischer wurde und sie
schließlich, nach der staatlichen Verfolgung und Reglementierung, wie in China vor-
nehmlich den aliterarischen Unterschichten angehörten. Sie pflegten im allgemeinen
nur das r den praktischen Betrieb des Kults Erforderliche sich in den Klosterschulen
anzueignen
1
).
1
) Während dagegen das Amitayur Dhyana Sutra (§ 27) und z. B. auch das in Japan vielgelesene Va-
grakhedika (“Diamantschneider”), das Buch der Schin -
308
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [307]
.
Damit sank auch sozial das Prestige des Mönchtums und des Buddhismus überhaupt
bedeutend und es ist dies - neben politischen Gründen - wohl auch einer der Gründe
gewesen, welche bei der Restauration der legitimen Dynastie das disestablishment”
des Buddhismus (1868) und die systematische Restauration des Shintoismus als
Staatsreligion bedingten. Entscheidend war freilich, daß einmal dieser dem Buddhis-
mus gegenüber als nationale” Kultform galt, dann aber die Legitimität des Kaisers ga-
rantierte. Die Tatsache der Sonnenabstammung der legitimen Dynastie und also die
übermenschliche Qualität des Kaisers gehören auch im japanischen Verfassungsstaat
zu denjenigen Grundvoraussetzungen, die wenigstens der korrekte Japaner nicht be-
zweifeln oder über welche er seinen Zweifel jedenfalls nicht äußern darf.
Der Konfuzianismus, der, wie bemerkt, in den vornehmen Schichten zahlreiche An-
hänger besaß, konnte die gleiche Leistung der Legitimierung der Dynastie nicht voll-
bringen, da für ihn der chinesische Kaiser der Weltmonarch und Oberpontifex war.
Aber er hatte in Japan auch nicht, wie in China, den Rückhalt einer akademisch orga-
nisierten, durch das Prüfungswesen und vor allem durch die Verpfründung der Staats-
ämter politisch und ökonomisch fest organisierten einheitlich interessierten Schicht,
sondern war eine literarische Liebhaberei einzelner Kreise. Dem Buddhismus anderer-
seits fehlte hier jener sehr starke Rückhalt, den er ebenso wie die hinduistischen Sek-
ten in anderen asiatischen Gebieten hatte: der charismatische Guru als magischer Not-
helfer. Die Entwicklung dieses Instituts ist zweifellos aus politischen Gründen von der
japanischen Regierung - wie von der chinesischen - gehemmt worden und über relativ
bescheidene Anfänge im allgemeinen nicht hinausgekommen. So fehlte in Japan eine
Schicht von jenem magisch - soteriologischen Heilandsprestige, wie es die Literaten in
China, die Gurus der Sekten in den indischen Gebieten genossen. Als daher die Hee-
res- und verwaltungstechnische Revolution unter dem Druck des Gefühls äußerer Be-
drohung die feudale Militär- und Aemter - Organisation umstürzte, war sie in der, rein
politisch angesehen, angenehmen Lage, tabula rasa oder wenigstens keine magisch
oder soteriologisch festgewurzelte Macht des religiösen Traditionalismus sich
.
Gon-Sekte) von dem Sohn aus guter Familie” als dem für die Erlösung allein in Betracht kom-
menden spricht.
309
Hinduismus und Buddhismus. [308]
gegenüber zu finden, welche ihren Absichten auf dem Gebiet der ökonomischen Le-
bensführung in den Weg getreten wäre.
Ganz andere Formen als beim Vordringen im hinterindischen und ostasiatischen Mis-
sionsgebiet hat der Buddhismus bei der von Nordindien aus nordwärts gerichteten
Mission erzeugt. Zwar in der Nähe seines Ursprungsgebiets, in N e p a l
1
), ist er ein-
fach dem typischen Verpfründungsprozeß und daneben der Durchsetzung mit der tan-
trischen Magie und ihren blutigen Opfern unterlegen, hatte außerdem mit der hinduisti-
schen Propaganda der Çivaiten zu konkurrieren und ist, in mahayanistisch - nordindi-
scher Art, mit dem Kastensystem des Hinduismus verschmolzen. Von den drei Haupt-
klassen der Bevölkerung galten die Banhar (Priester) und die Udas (Gewerbetreiben-
de) als orthodox, der Rest der Bevölkerung als heterodox, weil tantristisch. Die Ban-
hars wohnten in Klöstern, jedoch ohne Zölibat, die Pfnden waren erblich. Ihre höch-
ste Klasse waren die Priester (Gubhaju), zu denen man nur durch Ordination nach Prü-
fung gehörte. Wer nicht ordiniert war, gehörte den einfachen Bhikkshu” an, welche
zwar als Laienhelfer bei gewissen Zeremonien dienten, im übrigen aber Gewerbe, na-
mentlich Goldschmiederei, trieben. Es folgten, immer noch zur ersten Klasse gehörig,
7 weitere Abteilungen, darunter Silberschmiede, Zimmerleute, Gießer, Kupferund Ei-
senarbeiter (offenbar alte Königshandwerker). Auch ordinierte Mönche wurden nach 4
Tagen Weihe vom Guru von den Gelübden dispensiert. Die Udas - Klasse zerfiel in
sieben Unterklassen, deren vornehmste Kaufleute, der Rest Handwerker waren. Unter
den Banhars bestand Konnubium und Kommensalität, mit den Udas nicht, von den
Udas -Handwerkern nahm der Banhar kein Wasser. Die untere Volksschicht brauchte,
je nachdem, buddhistische oder brahmanische Priester als Nothelfer. Buddha war mit
Çiva und Vischnu zu einer Trias vereinigt. Daneben wurden alle hinduistischen Gott-
heiten angerufen und bestand der alte Schlangenkult fort. Hier ist also in Fortsetzung
der Entwicklung, welche die Berichte der chinesischen Pilger in den Anfängen zeigen,
das Wesen des Buddhismus durch die Einbeziehung in die Kastenorganisation und
durch die Verpfründung völlig verloren gegangen. Anders in Zentralasien, wohin über
Nepal sehr alte Handelsbeziehungen bestanden, insbesondere in T i b e t .
Hier entstand, im schroffen Gegensatz gegen die Organi-
1
1) S. darüber den Census Report von Bengalen von 1901.
310
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [309]
sationslosigkeit jener Gebiete, eine Hierarchie von solcher Einheitlichkeit, daß man die
Religion ihrer Träger: der Lama - Mönche, geradezu als ein gesondertes Religionssy-
stem: L a m a i s m u s , zu bezeichnen sich gewöhnt hat
1
). Hinduistische und wohl
auch buddhistische Wandermönche müssen als Nothelfer schon früh nach Inner- und
Nordasien gelangt sein: der magische Ausdruck Schamane” r die magisch - ekstati-
schen Exorzisten ist eine ostturkestanische Abwandlung des indischen Sramana (Pali:
Samana). Die eigentlich buddhistische Mission in diesen Gebieten hat etwa mit dem 7.
Jahrhundert unserer Zeitrechnung begonnen, und wurde im 8. Jahrhundert offiziell be-
gründet. Wie üblich derart, daß ein König im Verwaltungsinteresse (zum Import der
Schriftkunde) und zur Domestikation der Untertanen einen Heiligen aus dem benach-
barten indischen Gebiet (in diesem Fall aus Udayana, welches Kaschmir benachbart
ist) als Guru importierte
2
). Der Missionar war ein Vertreter der rein tantristischen (ma-
gischen) Mahayana -Richtung: Alchemie, Zaubertränke und die übliche mahayanisti-
sche Formel - Magie scheinen bei ihm nebeneinander herzugehen. Die Mission hat
nach ihm, mit zahlreichen ckschlägen und Kämpfen der konkurrierenden Sekten,
nicht mehr geruht, und es sind zeitweise das östliche Persien und gre Teile von Tur-
kestan vom mahayanistischen Buddhismus gewonnen worden, bis die islamische
Reaktion der westlichen Mongolen - Khane diese Missionen wieder vernichtete. Das
Mongolenweltreich war es aber andererseits, dem die Konstituierung der heiligen Kir-
che Tibets, der Trägerin des “Lamaismus”, verdankt wurde:
Lama”, der Erhabene”, Heilige”, hi zunächst der Superior (Khan po) eines Klo-
sters, später, höflichkeitshalber, jeder voll ordinierte Mönch. Die buddhistische Klo-
stergründung ging anfangs ganz derz üblichen Weg. Die Machtstellung einiger der
Klostersuperioren steigerte sich aber im Gebiet von Tibet dadurch, daß die größeren
politischen Gebilde - dem Charakter des Landes als Weidegebiet entsprechend - wie-
der in kleine Stammes-
1
) Ueber den Lamaismus ist noch immer K ö p p e n s Religion des Buddha (Berlin 1857 /58, im 2.
Band) lesenswert. Die heut weitaus bedentendste Antorität ist Grünwedel (s. seine Darstellung in
der “Kultur der GegenwartI, 3, 1 und die später zu zitierende Schrift). Im übrigen ist die russi-
sche Literatur grundlegend, war mir aber nicht zugänglich.
2
) Der Name dieses “aus dem Lotos geborenen(Padmasambhava) “großen Lehrer”, wie er amtlich
genannt wurde, ist nicht bekannt.
311
Hinduismus und Buddhismus. [310]
fürstentümer zerfielen, und nun, wie im Occident in der Völkerwanderungszeit die Bi-
schöfe, so hier die Klostersuperioren die einzig rational organisierte Macht in der Hand
hielten. Die Erziehung der Superioren war demgemäß geistlich sowohl wie weltlich
1
).
Die Klöster waren längst reine Pfründnerstätten geworden, die “Mönche” beweibt und
also eine erbliche Kaste. Wie in Indien, war auch in Tibet wenigstens in einigen Klö-
stern, vor allem auch im Kloster Saskya, nahe den höchsten Höhen des Himalaya, die
Superioratswürde selbst gentilcharismatisch erblich. Die Lamas von Saskya knüpften
zuerst im 12. Jahrhundert Beziehungen zu der Dynastie Djingiz Khans an und im 13.
Jahrhundert gelang ihnen die Bekehrung des Mongolenkaisers Kublai Khan, des Ero-
berers Chinas, welcher nun der weltliche Patron (tschakravati) der Kirche wurde. Wie-
derum war das Bedürfnis nach Erfindung einer Schrift r die Mongolen, also ein poli-
tisches Verwaltungsinteresse, offenbar entscheidend.
Daneben das Interesse an der Domestikation der schwer zu regierenden innerasiati-
schen Bevölkerung. Den Lamas des Saskya - Klosters wurde zu diesem Beruf (und
weil sie Träger der Schriftkunde, also r die Verwaltung unentbehrlich waren) theo-
kratische politische Macht eingeräumt. Diese Domestikation der bis dahin ausschließ-
lich von Krieg und Raub lebenden Mongolenstämme gelang tatsächlich und hat welthi-
storisch wichtige Folgen gehabt. Denn die nun beginnende Bekehrung der Mongolen
zum lamaistischen Buddhismus hat den bis dahin unausgesetzt nach Ost und West vor-
stoßenden Kriegszügen der Steppe ein Ziel gesetzt, sie pazifiziert und damit die uralte
Quelle aller Völkerwanderungen- deren letzte Timurs Vorstoß im 14. Jahrhundert
war - endgültig verstopft. Mit dem Zusammenbruch der Mongolenherrschaft in China
im 14. Jahrhundert verfiel zunächst auch die Theokratie der tibetanischen Lamas. Die
chinesische nationale Ming -Dynastie trug Bedenken, einem Einzelkloster die Allein-
herrschaft zu lassen und spielte konsequent mehrere charismatische Lamas gegenein-
ander aus. Ein Zeitalter blutiger Klosterfehden brach an, die orgiastisch - ekstatische
(Sakti-) Seite des magischen Mahayanismus trat wieder in den Vordergrund, bis in
dem neuen Propheten Tson - ka - pa,
1
) G r ü n w e d e l , Mythologie des Buddhismus in Tibet und der Mongolei (Führer durch die la-
maistische Sammlung des Fürsten Uchtomski), Leipzig 1900. Das Buch gibt die bei weitem beste
Entwicklungsgeschichte des Lamaismus und ist hier überall benutzt.
312
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [311]
dem größten Heiligen des lamaistischen Buddhismus, ein Kirchenreformator großen
Stils entstand, der im Einverständnis mit dem chinesischen Kaiser die Klosterdisziplin
wieder herstellte, und, nachdem ihm im Religionsgespräch der Lama des Saskya - Klo-
sters unterlegen war, der mit der gelben Mütze ausgezeichneten und daher meist soge-
nannten gelben” Kirche, der Tugendsekte” (DGe - lugs - pa) die Suprematie sicher-
te. Disziplinär bedeutete die neue Lehre Herstellung des Cölibats und Entwertung der
tantristischen ekstatischen Magie, deren Ausübung den Mönchen der Tugendsekte
verboten wurde. Sie blieb, durch ein Abkommen, den mit roten Mützen versehenen
und - ähnlich wie der Taoismus vom Konfuzianismus - als Mönche niederen Rargs ge-
duldeten Anhängern der alten Lehre überlassen. Es verschob sich der Schwerpunkt der
Mönchsfrömmigkeit auf Meditation und Gebetsformel, ihrer Tätigkeit auf Predigt und
Mission durch Disputation, r welche sie in Klosterschulen ausgebildet wurden: eine
Quelle der Neuerweckung wissenschaftlicher Studien in den Klöstern. - r die cha-
rakteristisch lamaistische Hierarchie der Klosterorganisation aber war die Verbindung
einer besonderen Form der universell hinduistischen und insbesondere auch mahayani-
stischen Inkarnationslehre, in ihrer lamaistischen Fassung, mit dem Charisma gewisser
berühmter Klöster der gelben Kirche wichtig, welche sich in der Generation nach
Tsong - ka - pa deshalb vollzog, weil an Stelle der Erblichkeit der Superioren nun eine
andere Art der Nachfolgerbestimmung treten mußte.
Diese war aber nur ein Sonderfall einer allgemeingültigen Vorstellungsweise. Wesen
und Bedeutung der lamaistischen Inkarnationslehre sind an sich einfach
1
). Sie setzt al-
lerdings, darin in striktestem Gegensatz gegen alle altbuddhistische Philosophie, vor-
aus, daß die charismatischen Qualitäten eines Heiligen bei ihrer Wiedergeburt auf den
Träger derselben v e r s t ä r k t übergehen, zieht damit aber letztlich nur die Konse-
quenz aus dem Umstand, daß die mahayanistische Theorie vom Wesen des Buddha
dessen frühere Geburten bis zur vorletzten, der Bodhisattva - Geburt, als an Heiligkeit
ansteigende Vorstufen seiner letzten Geburt (als Buddha) behandelte. Die früher er-
wähnte Heilsstufen - Lehre des Mahayanismus, welche ganz allgemein den Grad der
1
) Das Folgende im wesentlichen nach Posdnjejews Otscherki byta buddijstch monastyriei bu-
dijstkawo duchowenstwaw Mongolii (mir nicht zugänglich gewesen, die entscheidenden Punkte
aber in zahlreichen übersetzten Zitaten bei Grünwedel a. a. O.).
313
Hinduismus und Buddhismus. [312]
Heiligkeit nach der Zahl der Tode bestimmte, die der Heilige vor der Erreichung der
Arhat - Würde noch vor sich hatte, war lediglich eine Konsequenz daraus. Dies wurde
nun konsequent durchgeführt: für jeden Lama, der als Asket, Zauberer, Lehrer, Anse-
hen und Beliebtheit genossen hatte, wurde nach seinem Tode die Wiedergeburt: der
Khubilgan”, gesucht und in irgendeinem Kinde gefunden und auferzogen. Jede fol-
gende Khubilgan Geburt des ursprünglichen Heiligen aber hatte und hat, normalerwei-
se, steigendes Heiligkeitsprestige. Also wird andererseits auch nach rückwärts er-
forscht, wessen Wiedergeburt denn der ursprüngliche Träger des Charisma gewesen
sei: stets irgendein Missionar, Zauberer oder Weiser der altbuddhistischen Zeit. Jeder
Khubilgan ist Nothelfer kraft magischen Charisma. Ein Kloster, welches einen aner-
kannten Khubilgan in seinen Mauern besitzt oder gar mehrere darin zu versammeln
verstanden hat, ist gewaltiger Einnahmen sicher, und die Lamas sind daher stets auf
der Jagd nach der Entdeckung neuer Khubilgane. Diese Heiligkeitstheorie nun liegt
auch der lamaistischen Hierarchie zugrunde.
Die Superioren der charismatisch hochqualifizierten Klöster sind Inkarnationen grer
Bodhisattvas, die nach dem Tode des jeweiligen Trägers sich neu in einem Kinde nach
7 mal 7 Tagen inkarnieren und also - etwa nach Art der Suche nach dem Apis - Stier -
nun nach bestimmten Orakeln und Merkmalen aufgefunden werden müssen. Die bei-
den höchsten derartigen Inkarnationen waren und sind der Superior des jetzt größten
Lama Klosters, der Potala bei Lhasa, der Gryal ba, später gemäß dem ihm vom Mon-
golenkhan nach der Neueinrichtung der lamaistischen Kirche in der Mongolei im 16.
Jahrhundert verliehenen Titel meist Dalai - Lama” genannt, und der Superior des ge-
wöhnlich als Teashoo loombo bezeichneten Klosters, der Pan - c'en, rin - po - ce, zu-
weilen nach seinem Kloster als Taschi Lama” bezeichnet, der erstere eine Inkarnation
des Bodhisattva Padmapani, also Buddhas selbst, der letztere des Amithaba.
Der Theorie nach liegt in den Händen des Dalai - Lama mehr die Disziplin, in denjeni-
gen des Taschi - Lama - entsprechend der spezifischen Bedeutung Amithabas als Ge-
genstand inbrünstiger mystischer Glaubensandacht - mehr die exemplarische Leitung
des religiösen Lebens. Die politische Bedeutung des Dalai - Lama ist die weitaus grö-
ßere, aber dem Taschi -Lama ist
314
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [313]
geweissagt, daß er nach dem Untergang der Machtstellung des ersteren die Religion
wiederherstellen werde. Die Inkarnation des Dalai Lama wird in Klausur erzogen, mit
7 Jahren als Mönch aufgenommen und in strenger Askese bis zur Vollhrigkeit wei-
tergebildet. Gegeber der göttlichen Würde namentlich des Dalai Lama, aber auch
der anderen in ähnlicher Art inkarnierten höchsten lamaistischen Charisma - Träger,
gaben der chinesischen Regierung die erforderlichen politischen Garantien: 1. die
Mehrheit der untereinander zwar ungleichwertigen, aber doch konkurrierenden Inkar-
nationen, vor allem des Dalai - Lama und Taschi - Lama, 2. die Residenzpflicht einer
Anzahl der höchsten Lamas (jetzt nur noch eines) in Peking, 3. die bei Inkarnationen
übliche hieratische Klausur des Dalai Lama, verbunden mit der hrung der weltlichen
Verwaltung durch einen Hausmaier, den sie einsetzte, 4. die Pflicht gewisser hoher In-
karnationen, beim Hofe in Peking zu erscheinen und aller: das Exequatur von dort zu
empfangen
1
). Die Neubekehrung und lamaistische Organisation der Mongolen erfolgte
im 16. Jahrhundert und es residieren seitdem dort als Stellvertreter das Dalai - Lama
mehrerer Inkarnationen grer Heiliger, von denen die bedeutendste der Maidari Hu-
tuktu, jetzt in Urga, ist. Bei der größeren Schwierigkeit, die Mongolei in Botmäßigkeit
zu halten, ist jedoch seit der Niederwerfung der Dsungaren durch China von der chine-
sischen Regierung für die Inkarnationen dieses Hierarchen vorgeschrieben worden,
daß sie nur in Tibet, nicht in der Mongolei selbst, stattfinden und gesucht werden dür-
fen. Die endgültige Einteilung der Rangklassen der Lamas, entsprechend den Rang-
klassen des mongolischen Adels, geschah ebenfalls bei der Neubekehrung des Mongo-
lenkhans durch diesen.
Die Rekrutierung der Lama Klöster
2
) - deren jedes normalerweise zwischen 200 und
1500 Lamas enthält, die größten mehr - erfolgt in starkem Maße (wie übrigens diejeni-
ge auch vieler buddhistischer Klöster in China) durch Hingabe von Kindern, teilweise
durch deren Verkauf, an das Kloster. In
1
) Diese Pflicht kommt für den Dalai - Lama praktisch in Wegfall, soweit das weit einfachere Verfah-
ren geübt wurde, den Dalai - Lama ger nicht erst völljährig werden, sondern vorher vergiften zu
lassen, wie z. B. 1874 geschah.
2
) Ueber die Potala von Lhasa liegt jetzt das große Werk von Perceval Landon, Lhasa (London
1905) vor, verfaßt auf Grund der Feststellungen der englischen Expedition. Gutes Anschauungs-
material für normale Klöster bringt die Reiseschilderung Filchners über das Kloster Kumhum am
oberen Hoangho (Wissenschaftliche Ergebnisse der Expedition Filchner I, 1906).
315
Hinduismus und Buddhismus. [314]
Tibet sorgt die feste Begrenzung des Nahrungsspielraums dafür, daß hinlängliche
Nachfrage nach Klosterunterkunft besteht
1
). Immerhin ist bei der hohen Machtstellung
der Lamaklöster der Zuflauch aus besitzenden Schichten nicht unbeträchtlich und
Mönche dieser Provenienz bringen oft ein erhebliches Privatvermögen mit. Es ist
selbstverständlich, aber anscheinend in den Lamaklöstern besonders stark ausgebildet,
daß der Tatsache nach eine stark plutokratische Gliederung der Lama's besteht
2
): die
mittellosen Mönche arbeiten für die besitzenden und bedienen sie, im übrigen pflegen
sie Korbflechterei und ähnliche Gewerbe, sammeln Pferdemist zur Düngung und trei-
ben Handel
3
). Keuschheit als Pflicht verlangt nur die orthodox - gelbe Kirche, Fleisch-
und Alkoholgengestattet auch sie. Der Unterricht wird auch in kleineren Klöstern
noch jetzt gepflegt und zwar in 4 Fakultäten: 1. der theologischen Fakultät, der wich-
tigsten, die zugleich die Leitung, des Klosters hat
4
), weil sie die Weihen erteilt, 2. der
medizinischen (empirische Kräuterkunde r den mönchischen Hausarzt), 3. Tsing Ko
(Ritual), die altklassische Lehre, hier im wesentlichen in die Beibringung der Kenntnis
der Regelnr Totenmessen abgewandelt
5
), 4. Tsu pa (Mystik), Schulung in der Tantra
- Askese für schamanistische Zwecke
6
). Im Unterricht spielen, ganz dem alten Charak-
ter aller indischen Erziehung entsprechend, noch heut Preisdisputationen (um eine Mo-
natspfründe) eine Rolle
7
). Die Weihen bringen den Studenten (dapa) vom Novizen
(getsul) zum Gelong (Vollmönch) und durch weitere Stufen (zusammen 5) bis zum
Khan po hinauf, der in der alten literarischen Hierarchie die höchste Stufe des niederen
Klerus darstellte und als Klostersuperior die Disziplin (Macht
1
) Filchner gibt an, daß etwa jeder dritte Sobn Lama wird und werden m.
2
) Hackmann berichtet, daß die Aufnahmen allzu vornehmer Novizen gelegentlich bei den Mönchen,
die deren soziale Uebermacht fürchten, auf Widerstand stoßen.
3
) Namentlich der sog. heilige Tauschhandelder Lamas ist bekannt, ein Kettenhandel, bei dem, ent-
sprechend der Obödienz der Laien, jedesmal ein wertvolleres Objekt eingetauscht wird, etwa: ge-
gen einen Seidenschleier ein Schaf, gegen dies ein Pferd usw., eine Art von umgekehrtem “Hans
im Glück” (vgl. Filchner a, a. O.).
4
) Den Unterricht leitet ein Hutuktu. Die Fakultätsbeamten wechseln alle 1-3 Jahre, jede Fakultät hat
3.
5
) Filchner fand in Kumbum dafür 15 Studenten.
6
) Filchner fand in Kumbum dafür 300 Studenten; das Geschäft ist sehr ertragreich.
7
) Die Themata sind oft von mehr als “talmudischer” Skurrilität (Filchner a. a. O.).
316
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [315]
über Tod und Leben) hatte. Der Rang des höheren Klerus, vom Khubilgan angefangen
(darüber die Hutuktus, schließlich der Dalailama und Pon c`en) sind nicht durch Wei-
hen zu erlangen, sondern nur durch Wiedergeburt. Die Mönche haben gegen den Islam
als Glaubenskämpfer mit Bravour gefochten und sind vielfach auch heute - im Gegen-
satz zu den Laien - wehrhaft. Im Uebrigen ist die Zeit der Lama's weit stärker als in ir-
gend welchen anderen buddhistischen Klöstern durch gemeinsamen Kult ausgefüllt.
Eine Darstellung des lamaistischen Pantheon hätte r unsere speziellen Zusammen-
hänge keinen Wert
1
). Es ist ein modifiziertes Mahayana -Pantheon unter noch stärkerer
Anreicherung durch nichtbuddhistische, vedische, hinduistische (namentlich çivaiti-
sche) und durch lokale tibetanische Götter und monen und insbesondere auch unter
Heranziehung der altindischen volkstümlichen weiblichen (Sakti-)Gottheiten, wie sie
der später kurz zu besprechende magische Tantrismus geformt hatte: auch den Budd-
has werden hier göttliche Gattinnen beigeordnet, teilweise die gleichen, welche im spä-
teren Hinduismus dem Vischnu beigegeben wurden. Der intellektualistische Mönchs-
charakter aller buddhistischen Religiosität hat immerhin auch hier die orgiastisch - ek-
statischen, namentlich sexualorgiastischen, ge des Tantrismus stark temperiert, wie
wir das im Hinduismus schon sahen und noch weiter sehen werden. Dagegen ist die
praktische, Religiosität, vor allem die Laienreligiosität, reine Hagiolatrie, vor allem
Anbetung der Lamas selbst
2
), magische Therapeutik und Divination ohne alle ethische
Rationalisierung der Lebensführung der Laien. Neben ihren Fronleistungen und Abga-
ben für die Klöster kommen die Laien nur als Wallfahrer und Spender von Gaben in
Betracht.
Die Heilssuche der Lamas selbst trägt buddhistische und also hinduistische Züge inso-
fern, als der höchste Heilsweg auch hier in methodisch geregelter Meditation besteht.
Praktisch ist sie fast reiner Ritualismus, speziell Tantrismus und Mantrismus geworden
und die Mechanisierung des Gebetsformelkults durch Gebetsmühlen und Gebetslap-
pen, daneben durch Rosenkränze und ähnliche Mittel ist erst im Lamaismus zu ihrer
vollen Konse-
1
) Bei weitem die beste Einführung gibt von deutschen Arbeiten auch hier Grünwedels mehrfach zi-
tierte Arbeit.
2
) Von diesen selbst glaubt Filchner nicht, daß auch nur einer an seine eigenen magischen Kräfte
glaube.
317
Hinduismus und Buddhismus. [316]
quenz entwickelt worden. Der jeweilige Grad der ethischen Klosterdisziplin hängt sehr
wesentlich von der Ordnung der politischen Verhältnisse ab und ist meist sehr gering
1
).
Die Bauten, wie das Berg - Kloster Potala bei Lhasa, die Existenz der - heute verfalle-
nen - Wissenschaft selbst in Klöstern zweiten Ranges und die Entstehung einer immer-
hin umfangreichen religiösen Literatur, sowie noch mehr einer Aufspeicherung von
Kunstwerken zum Teil ersten Ranges in diesen Weide- und Wüstengebieten, in meist
5000 Meter Höhe über dem Meer auf einem 8 Monate des Jahres gefrorenen Boden
und mit einer reinen Nomaden - Bevölkerung ist unter allen Umständen eine ein-
drucksvolle Leistung, die nur der hierarchisch straff organisierte lamaistische Kloster -
Buddhismus mit seiner schrankenlosen Macht über die Laien vollbringen konnte. Die
alte chinesische militärische Fronorganisation einerseits, die lamaistische mönchische
Asketen - Organisation mit ihren frondenden, steuernden und spendenden Untertanen
andererseits erzeugten hier Kultur auf Gebieten, welche vom kapitalistischen
Rentabilitätsstandpunkt aus teils zur allerextensivsten ewigen Weide, teils geradezu
zur Wüste, jedenfalls aber nicht zum Standort von großen Bauten und künstlerischer
Produktion bestimmt sein würden, und die mit dem Verfall jener Organisationen auch
vermutlich dem von jeher über ihnen schwebenden Schicksal ewiger Versandung
entgegengehen werden.
Wir kehren wieder nach Vorderindien zurück
2
). - Dort ist der Buddhismus in allen sei-
nen Formen im Lauf des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung schrittweise zu-
ckgedrängt und schlilich fast völlig ausgerottet worden. In Südindien hatte er zu-
nächst dem Jainismus zu weichen. Dies dürfte, wie fher ausgeführt, mit der überle-
genen Gemeindeorganisation dieser Konfession zusammenhängen. Aber auch der Jai-
nismus schrumpfte in seinem Verbreitungsgebiet zusammen, schließlich bis auf die
Städte Westindiens, in denen er noch heute fortlebt. Das Feld behauptete der Hinduis-
mus mit den Brahmanen an der
1
) Filchner a. a. O.
2
) Zur indischen Sektenreligiosität von neueren Werken vor allem E. W. H o p k i n s , The Reli-
gions of India. Boston, London 1895. Von modernen hinduistischen Werken namentlich Jo-
gendra Nath B h a t t a c h a r y a (präsidierender Pandit), Hindu Castes and Sects, Calcutta
1896 (extrem sektenfreundlich). Kurze Skizze: M. Philipps, The evolution of Hinduism, Ma-
dres 1903. Von ältferen Werken: Barth a. a. O. und die verdienstvollen Schriften von Wilson.
318
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [317]
Spitze. Es scheint fast, daß dessen Restauration ebenfalls von Kaschmir, dem klassi-
schen Lande der magischen Wissenschaft des Atharva - Veda ebenso wie der Ma-
hayana - Lehre, ausgegangen ist. Es weist schon der Verlauf der sprachlichen Sanskrit
- Renaissance - welche freilich keineswegs einfach mit der brahmanischen Renais-
sance parallel ging - auf dieses Ursprungsland
1
). Aber in Wirklichkeit war das Brah-
manentum, wie wir sahen, niemals verschwunden. Die Brahmanen sind nur selten
durch die heterodoxen Erlösungskonfessionen wirklich ganz verdrängt worden. Dies
hatte schon rein äußere Gründe. Der Jaina - Tirthankara und der buddhistische Arhat
verrichteten keinerlei Riten. Die Laien aber verlangten nach Kult und also auch nach
festen Trägern eines solchen. Das konnten, wo jenem Bedürfnisse nachgegeben wurde,
im allgemeinen nur entweder Mönche - die aber dadurch ihrer Meditationsspflicht und
der Aufgabe des Lehrens entzogen worden wären - oder geschulte Brahmanen sein,
welche sich der heterodoxen Soteriologie gten, ihrerseits aber die Riten r die Laien
versahen und also die Tempelpfnden sich aneigneten. Brahmanen fungierten daher
häufig als Tempelpriester der Jaina, wie wir sahen, und auch in manchen buddhisti-
schen Gemeinschaften finden sich Brahmanen in dieser Funktion. Die Kastenordnung
ferner hatte sich zwar gelockert, und gre Teile ihres heutigen Verbreitungsgebiets
hat sie erst seit der
1
) Darüber zu vgl. O. F r a n k e , Pali und Sanskrit (Straßburg 1902). Das Pali, die Sprache der
Altbuddhisten, des singhaleser Kanons, der Edikte Açokas und im 3. Jahrh, vor Chr. anscheinend
überhaupt der gebildeten “Arier” Nordindiens, stammt nach Franke vom vedischen Sanskrit und
hat seinen Ursprung in Ujjain, dem Gebiet, wo oka als Prinz Statthalter war und Geburtsland
seiner Frau. Franke sucht nachzuweisen, daß der Ursprung der Verbreitung des sekundären, nur
als Literatensprache fungierenden Sanskrit Kaschmir und der Himalaya gewesen sei, von wo es
dann in die Königsinschriften, die litetarischen und monumentalen Denkmälern der Mahayanisten,
Jainas und Brahmanen, zunächst der Gegend von Mathura (des Landes am Ganges und Jamuna)
etwa seit 1. Jh. v. Chr. vorgedrungen und dann weiter nach Süden und Osten aus politischen
Gründen mit dem Brahmanentum importiert worden sei. Sylvain L é v y ( Journal As. 1902, I p.
96 ff., übersetzt mit Bemerkungen von Burgeß Ind. Antiq. 33 p. 163 ff) weist darauf hin, daß bar-
barische Eindringlings - Dynastien, vor allem die (religiös indifferenten) Kschatrapas, im Gegen-
satz z. B. zu den brahmanisch - orthodoxen Satakarnis (welche im Prakrit dichteten und edizier-
ten) das Sanskrit pflegten, bis dann unter der (brahmanische Gottheiten anbetenden, aber konfes-
sionell toleranten) Gupta - Dynastie im 4. Jahrhundert Sanskrit in Nordindien die universelle Lite-
ratensprache wurde. Sei dem wie ihm wolle, so bleibt es höchst wahrscheinlich, daß die m a g i -
s c h e Bedeutung der alten heiligen Sprachen, welche gelegentlich auch von Buddhisten betont
wurde, bei ihrer Rezeption jene erhebliche Rolle gespielt hat, die auch Lévy annimmt.
319
Hinduismus und Buddhismus. [318]
Restauration gewonnen. Aber wirklich verschwunden war sie in ihrem alten nordindi-
schen Herrschaftsgebiet nie. Der Buddhismus insbesondere ignorierte sie zwar, focht
sie aber an sich nicht an. Es gibt keine Epoche indischer literarischer oder monumenta-
ler Denkmäler, in der sie nicht als in irgendeinem praktisch belangreichen Umfang be-
stehend vorausgesetzt würde. Aber wir sahen, wie die Macht der Gilden in den Städten
zu überwiegen begann. Und namentlich unter buddhistischem Einflhatte sich ein
wirkliches Staatsideal: das des Wohlfahrtsstaats, entwickelt. Zu den Dingen, welche
bei dem früher erwähnten behmten, im Vellala - Charita geschilderten Konflikt mit
König Vellala Sena ein bengalischer Händler dem König, der ein Kriegsdarlehen be-
gehrte, entgegenhielt, gehörte auch die durchaus heterodoxe Behauptung: das Dharma
des Königs bestehe nicht im Kriegführen, sondern in der Fürsorge für die Wohlfahrt
der Untertanen
1
). Diesen schüchternen Anfängen eines von der Kastengliederung ab-
sehenden Staatsbürger - Begriffs entsprachen ähnlich schüchterne Anfänge von Ur-
standslehren, welche dann auf den ganz unhinduistischen Gedanken einer ursprürgli-
chen Gleichheit und pazifistischen goldenen Freiheit der Menschen hrten. Die erstar-
kende rstenmacht suchte sich zugleich von den Fesseln der buddhistischen plebeji-
schen Hierokratie, - wie sie in Ceylon und Birma und auch in nordindischen Staaten
entwickelt war, wie wir sahen, - und von der Plutokratie des rgertums der Städte zu
befreien. Sie zog das Bündnis mit der brahmanischen Intellektuellenschicht und die
Kastengliederung dem altbuddhistischen Mönchtum und den Gilden vor und vollzog so
die Parteinahme zuerst für den Mahayanismus, dann für das rein rituelle orthodoxe
Brahmanentum. Durchweg ist es - wie die monumentalen Quellen zeigen - die Macht
der Könige gewesen, welche die Restauration der Neu - Orthodoxie entschied
2
). Die
brahmanische Hierokratie hatte diesem Prozeß, der sich in klassischer Form anschei-
nend besonders in Bengalen unter der Sena - Dynastie vollzog, durch äußere und inne-
re Neuorientierung
1
) Es findet sich, daß hinduistische Fürsten sich rühmen, niemals getötet zu haben, außer im Krie-
ge”, also: in ihrem Beruf. Der orthodox - indische Dualismus ist dabei aber nicht der zwischen
apolitischera und sprivater Ethika, sondern nur ein Spezialfall der allgemeinen Spezia.lisation des
Dharma je nach den Sphären des Handelns.
2
) Der Konfirmation eines Königssohns (Mahadagaputra) als Vischnu - Sekten - Mitglied wird aus
Anl einer Stiftung gedacht. Ep. Ind. IV p. 96 f.
320
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [319]
vorgearbeitet. Die Brahmanen waren ja, sahen wir, niemals verschwunden. Aber sie
waren in die subalterne Lage ritueller Tempelpriester herabgedrückt, soweit sie nicht
die buddhistische Mönchsregel auf sich genommen hatten. Es sind immerhin, seit Aço-
kas Zeit etwa 4 Jahrhunderte, in denen geradezu keine, und noch zwei weitere Jahr-
hunderte, bis gegen 300 nach Chr., in denen nur selten Stiftungen zugunsten vcn
Brahmanen inschriftlich vorkommen. Für die Brahmanen, als adlige Weltpriesterschaft,
kam es vor allem darauf an, sich von dieser subalternen Lage gegenüber der Mönchs-
kongregation zu befreien, die immerhin auch im Mahayanismus bestehen blieb, so sehr
er den brahmanischen Traditionen entgegengekommen war. Denn er war, vom brah-
manischen Standpunkt angesehen, dennoch ein Fremdkörper im sozialen System des
Hinduismus.
Die Restauration bestand in der Ausrottung der Heterodoxien der Intellektuellen - So-
teriologie einerseits, in der Stereotypierung des Kastenritualismus, wie sie namentlich
die Rechtsbücher der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung vollzogen, anderer-
seits, schlilich und namentlich aber in der Propaganda der im altklassischen Indien,
vor der Epoche der Großkönigreiche, noch nicht in unseren Gesichtskreis tretenden
Hindu - S e k t e n . Und zwar durch die gleichen Mittel, welchen die heterodoxen
Gemeinschaften ihre Erfolge verdankten: ein organisiertes Berufsmönchtum
1
). Diese
Sekten sind es, mit denen wir uns hier
1
) Der erbitterte Kampf, dessen Hergang hier nicht zu schildern ist und übrigens mit dem vorhande-
nen dokumentarischen Material auch nur höchst unvollständig geschildert werden nnte, hat in
den Monumenten zahlreiche Spuren hinterlassen. Er wurde nicht nur zwischen Buddhisten, Jaini-
sten und orthodoxen Sekten, sondern auch zwischen diesen und zwischen den einzelnen Brahma-
nenschulen geführt. Einige Beispiele müssen genügen.
Die Zerstörung von Jaina - Tempeln durch Çivaiten, welche an seiner Stelle das Linga aufrich-
ten, ist Ep. Ind. V p. 285 erwähnt.
Kaufleute und Händler einer Stadt stiften (Ep. Ind. I, p. 269) ein Kloster für Çiva-Asketen und
Ep. Ind. I p. 338 wird die Gründung einer Schule mit Landausstattung für die Verbreitung der
brahmanischen Weisheit erwähnt. Der betreffende Brahmane ist einzigartig in der Samkhya -
Doktrin”, ein unabhängiger Denker in der Tantristik”, “kennt die Veden”, ist bewandert in Me-
chanik, Künsten, Musik und Poetik und im Vaiçeshika - System. Der große Revival des Çivais-
mus unter der westlichen Chalukya -Dynastie wird ausführlich geschildert in Inschriften aus dem
12 - 13. Jahrhundert (Ep. Ind. V p. 213 ff.). Einem vom Großvater her erblichen Çivapriester,
Samasvara, wird nachgesagt, daß er Selbstbeherrschung, Meditation, unbewegliche Ekstase,
Schweigen, Gebetsmurmeln, tiefe Kontemplation verstehe, einen guten Charakter und tiefe Devo-
tion für Paramesvara (Çiva) habe. Während die meisten Leute nur entweder Logik, oder Rhetorik,
oder Dramatik, oder Poetik, oder Grammatik allein ver-
321
Hinduismus und Buddhismus. [320]
zu befassen haben. Auch ihr Aufschwung bedeutete eine Abwendung von den soterio-
logischen Interessen der alten, mit der Kschatriya - Zeit versunkenen Intellektuellen-
schichten und eine Pflege jener Religiosität, wie sie den plebejischen, das heißt: alite-
rarischen Schichten adäquat war, mit welchen das Brahmanentum nun als Klienten zu
rechnen hatte: den Radschputen” schied ja vom alten Kschatrya sein Analphabeten-
tum.
Literarisch äußerte sich die brahmanische Restauration theoretisch in den Endredaktio-
nen der Epen, praktisch aber, als Mission, in dem Aufkommen der Purana - Literatur.
Die Schlußredaktionen der Epen sind das Erzeugnis vornehmer brahmanischer Redak-
toren. Anders die Puranas. Es waren nicht mehr die alten gelehrten vornehmen Brah-
manen - Geschlechter, welche diese Gattung komponierten. Alte Bardendichtungen,
scheint es
1
), lieferten den Stoff. Er wurde von den Tempelpriestern und wandernden
Mönchen, von denen bald zu reden sein wird, beschafft und eklektisch zurechtgemacht
und enthielt die Heilslehren der eigentlichen Sekten, während die Epen, vor allem das
Maha-
stehen, beherrscht Samasvara sie alle. Er beherrscht das Nyaya- und das Samkhya - System. Es
werden an der Klosterschule gelehrt: Nyaya, Vaiçeshika, Mimamsa, Samkhya und - erstaunli-
cherweise - auch Bauddha (buddhistische Philosophie), ebenso die Puranas. Also eine universelle
interkonfessionelle” Bildungsanstalt. Ebenda p. 227 werden aber Disputationen mit Feinden er-
wähnt, und es findet sich ein Stifter einer Çiva - Sekte, von dem es heißt, daß er “ein Unterseefeu-
er im Ozean des Buddhismus”, ein “Donnerschlag im Gebirge des Mimamsa” sei, daß er die gro-
ßen Bäume der Lokayatas umgehauen, die große Schlange des Samkhya erschlagen, die Axt an
die Wurzel der Bäume der Advaita- (Vedanta-) Philosophen gelegt, die Jainas vernichtet, dagegen
die Nayagikas geschützt und sich als ein Vischnu in der Unterscheidung, ein Çiva in der Klarsatel-
lung der Dinge bewährt habe. - Ebenda p. 255 wird eine heftige Disputation mit den Jaina er-
wähnt, außerdem aber taucht der Gründer der Lingayat - Sekte Basava Ep. Ind. V p. 23 und a. a.
O. p. 239 seine Sekte in heftiger Gegnerschaft gegen alle andern, besonders die Jaina, auf.
Ep. Ind. IV p. 17 wird der vischnuitische Sektenstifter Ramannja als der Vertreter der “echten
Dravida - Lehre” genannt, der den Trotz derer bricht, welche die Lehre von der Illusion vertre-
ten(der Vedantisten).
Von Fürsten veranstaltete Religionsgespräche finden sich auch sonst in zahlreichen Inschriften.
Ein wichtiges Mittel der Propaganda waren die seit etwa dem 7. Jahrhundert in der südindischen
(Tamil-) Literatur in großer Zahl auftretenden, zum Teil nach dem Urteil der Kenner hervorra-
gend schönen heiligen Hymnen der Bhakti - Religiosität. Die heiligen Sänger und Lehrer, welche
die Höfe besuchten, waren fast stets die Träger der Bekehrung. Mit der Entziehung der nigli-
chen Gunst brach namentlich der Buddhismus, aber auch der in der Gemeindeorganisation stärke-
re Jainismus meist in kurzer Zeit, in Südindien fast überall seit etwa dem 9. Jahrhundert, geräusch-
los zusammen. Beide waren eben in der Wurzel Intellektuellensoteriologien.
1
) So Winternitz S. 448.
322
M a x W e b e r , Religionssoziologie II.
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [321]
bharatha, noch eine Art von interkonfessioneller ethischer Paradigmatik sein wollten
und als solche auch von allengroßen Sekten anerkannt geblieben sind. Sieht man zu-
nächst von den eigentlichen Sektengöttern und den spezifischen Heilsgütern der Sek-
tenreligiosität ab, so findet man schon in den Epen die Arten des offiziell rezipierten
Zaubers und der animistischen Züge stark erweitert. Sympathischer und symbolischer
Zauber, der an Fetischismus streift, Geister der heiligen Flüsse (vor allem des Ganges),
Teiche und Berge, der ganz ungeheuer angeschwollene Wortformel- und Fingergesten-
zauber, nach Einführung der Schriftlichkeit der Tradition auch der Schriftzauber, ste-
hen neben der alten Verehrung der vedischen Götter, vermehrt um die verschiedensten
vergöttlichten und als Geister aufgefaßten Abstraktionen. Verehrung der Ahnen, der
Priester und der Kuh stehen neben einander, wie Hopkins anschaulich gezeigt hat und
wie die heutige Folklore es als fortbestehend feststellt. Dazu aber treten seit der Ent-
wicklung des Großkönigtums die charakteristischen patriarchalen ge, welche jede
patrimonialbürokratische Monarchie bei den Untertanen fördert. Der König ist schon
in den jüngeren Bestandteilen des Epos eine Art irdischer Gott für sein Volk, trotz aller
ungeheuren Machtsteigerung der Brahmanen auch seinerseits etwas durchaus Anderes
und wesentlich Größeres als in den alten Brahmanenschriften. Die patriarchale Stel-
lung der Eltern, nach deren Tode des ältesten Sohns, wird überaus stark betont. Zwei-
fellos vor allem durch diese Lehren empfahl sich der Neu - Brahmanismus der Königs-
gewalt als Stütze. Denn eben darin war der Buddhismus trotz allen Entgegenkommens
doch durchweg weniger patriarchal orientiert. Daß die patriarchale Gewalt trotzdem
nicht chinesische ge annehmen konnte, dafür war letztlich nur die, trotz allem auch
bei der Orthodoxie bestehen bleibende, Spaltung der höchsten Gewalt und vor allem
die mächtige Stellung der Asketen und Guru`s, von welchen bald zu reden sein wird,
verantwortlich.
Vermehrt wurden auch die Heilsgüter. Neben dem Heldenhimmel Indras und dem hö-
heren universellen Himmel Brahmas sowie endlich der Absorption in die Einheit mit
dem Brahman steht im Epos auch noch der alte Volksglaube, daß die Seelen guter
Menschen in Sterne verwandelt werden. Also ein buntes Durcheinander, dem nun die
spezifisch sektiererischen hinduistischen Züge hinzutraten. Sie sind teils enthalten in
den spä-
323
Hinduismus und Bnddhismus. [322]
testen Einschiebungen in das Mahabharatha, durch welche die Brahmanen offenbar ei-
ne Art von Gleichgewicht und Ausgleich der Sekten herbeizuführen strebten, teils und
vor allem in den Puranas, welche reine Sektenkatechismen sind.
Wie die lehrhaft umgearbeiteten Teile der Epen, welche in ihrer spätesten Redaktion
schon durchaus auf dem Wege zu dieser Literaturgattung liegen, so sind auch die Pu-
ranas, vor allem das Bhagavata Purana, noch jetzt Gegenstand der Rezitation vor dem
breiten Hindu - Publikurn. Welches nun waren inhaltlich die neuen Elemente ? Es sind
einerseits zwei an sich alte, aber wenigstens innerhalb der offiziellen Intellektuellenleh-
re erst jetzt zu Einflgelangende und zwar persönliche
1
) Götter: Vischnu und Çiva
2
),
andererseits einige neue Heilsgüter und schließlich die Umgestaltungen der hierarchi-
schen Organisation, welche die Sektenbevegung des mittelalterlichen und neuzeitlichen
Hinduismus charakterisieren. Wir sprechen zunächst von den Heilsgütern.
Die alte vornehme Intellektuellensoteriologie hatte, wie wir sahen, alle orgiastisch -
ekstatischen und gefühlsmäßigen, ebenso die damit zusammenhängenden magischen
Bestandteile des urwüchsigen VoIksglaubens abgelehnt und ignoriert. Sie bestanden
als eine verachtete Unterschicht von Volksreligiosität unterhalb des brahmanischen Ri-
tualismus und der Heilssuche auf dem Wege der brahmanischen Gnosis, gepflegt zwei-
fellos, wie überall, von einer Schicht schamanenartiger Zauberer. Aber die Brahmanen
konnten sich im Interesse ihrer Machtstellung dem Einfluß dieser Magie und dem Be-
dürfnis ihrer Rationalisierung nicht dauernd ganz entziehen, wie sie ja schon im Athar-
va - Veda dem unklassischen Zauber Konzessionen gemacht hatten. In der T a n t r a
- Magie hielt schließlich auch die Volksekstatik ihren Einzug in die brahmanische Lite-
ratur, innerhalb deren die Tantra - Schriften von manchen als der fünfte Veda” ange-
sehen wurden. Dies deshalb, weil in Indien wie im Occident die systematische Ratio-
nalisierung der magischen nste, namentlich der Alchemie, und der Nervenphysiolo-
gie zu ekstatischen Zwecken, zu den Vor-
1
) Dies darf freilich nur mit Vorbehalt gesagt werden. Für die Intellektuellen blieb ganz überwiegend
entweder ein noch hinter diesen höchsten Göttern stehender unpersönlicher göttlicher Urgrund
bestehen, oder aber sie selbst wurden als halbunpersönliche Mächte gedeutet.
2
) Da Buddhisten und Jainisten der alten Zeit nicht selten vischnuitische und çivaitische Namen ha-
ben, so schließt Bühler wohl mit Recht auf das Alter der Kulte jener Götter.
324
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [323]
stufen rationaler empirischer Wissenschaft gehörte: das hatte einige hier nicht näher
.zu verfolgende Nebenwirkungen
1
). Die Tantra - Magie war ihrem ursprünglichen We-
sen nach orgiastische Ekstase, hervorgrufen durch gemeinsamen Genuß der in der spä-
teren Terminologie, heiliger Kreis” (puruabhishaka) genannten “fünf Mukara”, der
fünf Dinge mit M” als Anfangsbuchstaben: Madiya: Alkohol, Mamsa: Fleisch, Mat-
sya: Fisch, Maithura: Sexualverkehr, Mudra: heilige Fingergesten (vermutlich ur-
sprünglich Pantomimen). Allen an Bedeutung voran stand die mit Alkohol verbundene
Sexualorgie
2
) und demnächst das blutige Opfer nebst anschließendem Mahl. Ziel der
Orgie war zweifellos ekstatische Selbstvergottung zu magischen Zwecken. Der in den
Gottbesitz Gelangte, der Bhairava oder Vira, hatte magische Kräfte. Er wurde verei-
nigt mit der weiblichen Schöpfermacht, der Sakti, welche später, unter den Namen
Lakschmi, Durga, Devi, Kali, Syana u. a. erscheinend, durch ein nacktes mit Fleisch
und Wein gespeistes Weib (Bhairavi oder Nayika) repräsentiert wurde. In gleichviel
wie gearteter Form sind diese Kulte selbst sicher uralt. Wie überall, war auch hier die
Orgie als Form der Heilssuche bei den, Unterschichten, insbesondere also den Dravi-
das, besonders lange erhalten geblieben, daher gerade in Südindien, wo die brahmani-
sche Kastenordnung erst spät durchgeführt wurde. hrend des Jagannatha - Festes in
Pari en dort bis an die Schwelle der Gegenwart noch alle Kasten zusammen. Niede-
re Kasten, wie die Parayans und die höher stehenden Vellalar in Südindien hatten viel-
fach noch Eigentumsrecht an berühmten Tempeln der alten orgiastisch verehrten Gott-
heiten und zahlreiche Reste aus der Zeit, wo auch die oberen Kasten diese verehrten,
hatten sich erhalten. Es ist selbst der sehr energischen Sittenpolizei der Engländer nur
schwer gelungen, der Sexualorgie Herr zu werden und sie wenigstens aus der Oeffent-
lichkeit ganz zu verscheuchen.
Das Symbol der alten Fruchtbarkeits - Geister, mit welchen die Sexualorgie als Ho-
möopathie in Beziehung gesetzt wurde, war hier wie überall in der Welt der Phallos
(lingam, eigentlich die Kombination des männlichen und des weiblichen Geschlechts-
teils). Es fehlt denn auch über ganz Indien hin in fast keinem
1
) Ueber die wissenschaftlichen Wirkungen der Tantra - Literatur s. oben S. 166.
2
) “Weib und Wein sind das fünffache Mukara und nehrnen alle Sünden fort” sagt ein Spruch der Or-
giastiker.
325
Hinduismus und Buddhismus. [324]
Dorf. Die Veden verspotten den Kult als eine üble Sitte der Unterworfenen. Uns soll
hier diese Orgiastik um ihrer selbst willen nicht weiter interessieren
1
). Wichtig ist r
uns nur ihre zweifellos uralte und ununterbrochene Existenz, weil alle erheblicheren
hinduistischen Sekten ohne Ausnahme in ihrer psychologischen Eigenart aus einer oft
freilich weitgehenden Sublimierung dieser universell verbreiteten orgiastischen Heils-
suche durch brahmanische oder außerbrahmanische Mystagogen entstanden sind. In
dindien läßt sich der Prozeß dieser Verschmelzung noch in seinen Rückständen er-
kennen, weil er nur unvollständig gelungen ist. Ein Teil der Unterkasten und die zuge-
wanderten Königshandwerker widersetzten sich dort der Reglementierung durch die
Brahmanen und so entstand das noch fortbestehende Schisma der Valan - gai (Dakshi-
nacharas) und Idan - gai (Vamacharas), der Kasten rechterund linker” Hand: die
letzteren blieben bei ihren eigenen Priestern und ihrer alten Orgiastik, die ersteren füg-
ten sich der brahmanischen Ordnung
2
). Der Kult dieser als orthodox brahmanisch gel-
tenden Kasten rechter Hand” ist seines orgiastischen Charakters entkleidet, insbeson-
dere also auch des blutigen Opfers; statt dessen wird Reis gespendet.
1
) Das Mißliche an den englischen Darstellungen ist, daß die Autoren fast stets in der üblichen puri-
tanischen prüden Entrüstung über diese “abominabot practices” perorieren, statt die Vorgänge
sachlich so darzustellen, daß man ein Bild des Sinnes gewinnen kann. (Oder sie leugnen die Exi-
stenz einfach ab, wie z. B. die Cyclopaedia of India es in vielen ihrer Artikel tut und wie es übri-
gens auch von gebildeten Hindus gern geschieht.)
2
) Die Kasten linker Hand” umfassen vor allem die früher erwähnten Panchsala (fünf Gewerbe) der
Königshandwerker: Schmiede, Zimmerleute, Kupferschmiede, Steinmetzen, Goldschmiede, dann
die Beri - Sethi, offenbar: alte Gildenkaufleute, ferner die Devangada: Weber, Ganigar: Oelpres-
ser, Gollur: Träger, Palayan (Pariah): früher Weber, jetzt Landwirte, Beda: Vogelsteller, und Ma-
diga: Gerber und Schuster.
Die brahmanischen Kasten “rechter Hand” umfassen außer den aus Nordindien zugewanderten
Angehörigen der Banija (Großhändler), Komati (Detaillisten), Gujarati (Bankiers aus Gujarat),
Kumhar (pfer), Rangajeva (Färber und Kattundrucker), Naindu (Barbiere), Jotiphana (Oelpres-
ser mit einem Ochsen) und den Okhalaya (einer Landwirtskaste) auch die niederen Kasten der Ku-
rubar (Schäfer), Agasa (Wäscher), Besta (Fischer und Schirmträger), Pailma Sharagava (Weber),
Upparava (Deichbauer), Chitragara (Maler) und die als ein Teil der Palayan - Kaste angesproche-
nen Wallia. Im letzten Fall geht der Riß also mitten durch die Kaste (Paria) hindurch. Ihn mit dem
Buddhismus, (dem angeblich die Kasten linker Hand angehangen haben sollen) in Zusammenhang
zu bringen ist kein Grund. Die Kasten linker Hand haben einfach die Brahmanen als Priester (statt
ihrer eigenen Schamanen) nicht akzeptiert nnd ihre alte orgiastische Kultpraxis nicht oder jeden-
falls nicht zur Zeit des Eintritts des Schisma aufgegeben (heut gilt sie als unterdrückt).
326
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [325]
Die alten weiblichen Fruchtbarkeitsgeister wurden bei der Verschmelzung zunächst zu
Gattinnen brahmanischer Gottheiten erhoben. Als geeignete Göttergestalt bot sich da-
für der alte in den Veden aus bekannten Gründen weit zurückgestellte Fruchtbarkeits-
gott
1
) Çiva (der vedische Rudra) dar. Daneben stand auch Vischnu, als Sonnen- und
Fruchtbarkeitsgott, zur Verfügung. Die weiblichen Fruchtbarkeits - Dämonen wurden
einem der drei orthodoxen Götter zugeordnet oder vielmehr: untergeordnet. So z. B.
Lakschmi dem Vischnu, Parvati dem Çiva, Sarasvati (als Patronin der schönen nste
und der Schrift) dem Brahma. Andere Göttinnen folgten nach. Die alten Sagen, die
vielfach an hellenische Mythen erinnern und sicher Ausdeutungen der apotropäischen
oder, umgekehrt, homöopathischen orgiastischen Ritualien waren, wurden rezipiert:
massenhafte Götter und vor allem Göttinnen, von denen die alte Literatur nichts weiß,
tauchen jetzt als orthodox” auf. Der Proz durchzog ganz Indien und die Puranas
sind die Stätte, in welcher er literarisch zum Ausdruck kam. Philosophisch durchaus
eklektisch, hatten sie lediglich die Aufgabe, die Sektenlehren kosmologisch zu unter-
bauen und auszudeuten. Die treibenden Motive des Brahmanentums bei diesem Rezep-
tions- und Akkommodationsprozeß waren zum Teil wohl grob materielle: die massen-
haften Pfründen und Kasualien, welche winkten, wenn man sich dem Dienst dieser nun
einmal unausrottbaren volkstümlichen Gottheiten widmete. Daneben auch der Zwang
der Konkurrenz gegen die mächtigen Erlösungs - Konfessionen der Jaina und Buddhi-
sten, welche nur durch Anpassung an die volkstümlichen Traditionen aus dem Sattel
gehoben werden konnten. Die formellen Methoden der Rezeption waren gegeben: der
volkstümliche Dämon oder Gott wurde mit einem der dafür geeigneten hinduistischen
Götter direkt identifiziert oder - wenn es sich um Tierkulte handelte - als Inkarnation
eines solchen behandelt. r diese Zwecke kamen eben wesentlich die Fruchtbarkeits-
götter, Çiva und Vischnu, in Betracht, welche ja selbst auf eine orgiastische Vergan-
genheit ihrer Kulte zurückblickten. Der Kult aber wurde möglichst im Sinn des ortho-
doxen Vegetarismus, der Alkohol- und Sexual - Abstinenz temperiert. Wir gehen auf
keinerlei Einzelheiten
1
) Die Vereinigung des phallischen Fruchtbarkeitskults mit den Riten, welche der Beschwichtigung
des ursprünglich vorwiegend als Krankheitsdämon auftretenden Rudra dienten, scheint schon vor
dem Mahabaratha vollzogen zu sein.
327
Hinduismus und Buddhismus. [326]
dieses Anpassungsprozesses ein, welchen das Brahmanentum mit der Volksreligiosität
vornahm, lassen auch den noch immer verbreiteten Kult des Schlangengeistes und des
Sonnengeistes
1
) ganz beiseite und halten uns nur an die r uns wichtigen Erscheinun-
gen.
Die verschiedenen Formen der als unklassisch, aber dennoch orthodox brahmanisch
rezipierten Verehrung weiblicher Fruchtbarkeitsgottheiten pflegen als S a k t a - Sek-
ten bezeichnet zu werden. Wichtige Teile der t a n t r i s c h e n magischen esoteri-
schen Literatur, deren Bedeutung r den Buddhismus wir kennen lernten, bildeten ih-
ren literarischen Ausdruck. Ihren religionsphilosophischen Anknüpfungspunkt suchten
diejenigen Brahmanen, welche die Tantrik rationalisierten und sich dabei zum Dienst
der populären Sakti - Göttinnen herbeilien, in den Lehren der Samkhya -Philosophen
von der Prakriti und des Vedanta von der Maya, die sie monistisch als Urmaterie oder
dualistisch als weibliches Prinzip im Gegensatz zum männlichen, durch Brahma als
Weltschöpfer repräsentierten, ausdeuteten. Diese Religionsphilosophie ist so durchaus
sekunren Charakters, daß wir hier ganz von ihr absehen können, obwohl sie, wie wir
sahen, auf die exakten Wissenschaften anregend gewirkt hat. Die intellektualistische
Spiritualisierung der Orgie führte zur meditierenden Verehrung heiliger Kreise (statt
des weiblichen Sexualorgans.) Der bürgerliche Sakta - Kult ging oft dazu über: daß die
Anbetung eines nackten Weibes als Vertreterin der Göttin Kultakt wurde. Mit der im
Volkskult daran anknüpfenden Alkohol- und Sexualorgie verband sich oft das spezi-
fisch saktische Blutopfer, die puja -ursprünglich und bis an die Schwelle der Neuzeit:
ein Menschenopfer - und eine Fleischorgie. Solche gänzlich von jeder Rationalisierung
der Lebens- hrung abliegenden Kulte hatten namentlich im östlichen Nordindien (Bi-
har und Bengalen) Anhang auch unter dem Mittelstand: so war die Kayasth- (Schrei-
ber-) Kaste bis vor nicht langer Zeit zum erheblichen Teil tantristisch. Die vornehme-
ren Schichten des Brahmanentums blieben dieser Akkommodation stets fern, obwohl
auch sie mit den volkstümlichen Kulten Beziehungen suchen mußten. Es finden sich
die verschiedensten Stadien von
1
) Im brahmanischen Rilual war die Anrufung der Sonne (Surya im Rigveda) enthalten. Exclusive
Sonnenverehrer (Saura) entstanden wohl erst unter dem Einfleingewanderter Mithra - Priester
etwa seit Beginn unserer Aera.
328
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligosität. [327]
der kryptoerotischen Sublimierung bis zur asketischen Umkehrung der Sexualorgiastik.
Es gelang den Brahmanen tatsächlich und vor allem, die alte Phallos- (Lingam- oder
Linga-) Verehrung ihres alkohol- und sexualorgiastischen Charakters zu entkleiden und
in einen rein ritualistischen Tempelkult zu verwandeln, der - wie schon bemerkt - zu
den verbreitetsten Indiens gehörte
1
). Dieser als orthodox anerkannte Kult empfahl sich
nun den Massen durch seine nicht zu unterbietende Billigkeit: Wasser und Blumen ge-
gen r die normalen Zeremonien. Die brahmanische Theorie hat den Geist, welcher
das Linga als Fetisch bewohnte oder - nach der sublimierten Auffassung - dessen
Symbol dieses war, durchweg mit Çiva identifiziert. Vielleicht schon im Mahabharata
wurde diese Rezeption vollzogen: in charakteristischem Gegensatz zu der alten Sexua-
lorgiastik freut es dort den gren Gott, wenn das lingam keusch bleibt
2
). Die Tantra -
Literatur bestand umgekehrt, ihrem orgiastischen Ursprung entsprechend, zum erhebli-
chen Teil aus Dialogen Çivas mit seiner Braut Çiva wurde unter der Wirkung von
Kompromissen beider Strömungen der eigentlich “orthodoxe” Gott des mittelalterli-
chen Brahmanentums. Der Çivaismus in diesem ganz allgemeinen Sinn umspannt also
die größten Gegensätze und ist in keinem Sinn etwas Einheitliches.
Als der erste große Polemiker gegen die buddhistische Heterodoxie wird der Brahma-
ne- und Mimamsa - Lehrer Kumarila Bhatta, genannt Bhattacharya, im 7. Jahrh. unse-
rer Zeitrechnung erwähnt. Der erste gr angelegte und dauernd wirksam gebliebene
Versuch aber, die Renaissance des Brahmanentums im Sinn einer Verbindung der alten
philosophischen Tradition der Intellektuellensoteriologie mit den Propaganda - Bedürf-
nissen zu verknüpfen, ging von dem (wahrscheinlich) malabarischen Halbblut -
Brahmanen und gelehrten Kommentator der klassischen Vedanta - Schriften Sankara,
genannt Sankaracharya
3
) aus, der im 8. oder 9. Jahrhundert lebte und angeblich in dem
jugendlichen Alter von 32 Jahren (in Wahrheit erst: 32 Jahre nach Beginn seiner Re-
formtätigkeit) starb. Er zuerst scheint in die eigentlich damit
1
) Es dürften noch jetzt mindestens 80 Millionen Hindu nur Lingam - Verehrer sein.
2
) Mazumdar ( J. R. A. S. 1907 S. 337) nimmt gegen Rhys Davids allerdings an, daß alle Stellen des
Mahabaratha, welche den Kult erwähnen, Interpolationen seien.
3
) Ueber ihn s. Kashinath Trimbuk Telang im Ind. Antiq. Vol. V.
329
Hinduismus und Bnddhismus. [328]
unvereinbare Vedanta - Lehre den persönlichen höchsten - und im Grunde: einzigen -
Gott Brahma - Para - Brahma systematisch wieder eingeführt zu haben. Alle anderen
göttlichen Wesen sind Erscheinungsformen Brahmas, er selbst freilich, obwohl Regent
der Welt, nicht ihr letzter Urgrund, der - im hinduistischen System unvemeidlich -
überpersönlich und unerforschlich bleiben mußte. In jeder hinduistischen Hagiologie
steht Sankara an der Spitze, alle orthodox çivaitischen Sekten betrachten ihn als Leh-
rer, manche als eine Inkarnation Çivas. Die vornehmste Brahmanenschule Indiens, die
Smarta (von Smriti, Tradition), besonders im Süden mit der hochbehmten Kloster-
schule in Shringeri, im Norden vornehmlich mit der Klosterschule in Sankeshwar als
Mittelpunkt shaft, hält sich am strengsten an seine Lehre. Seit seinem Wirken hat je-
de neue brahmanische Reformbewegung einen persönlichen Gott als Weltregenten an-
erkennen müssen, und die synkretistische Orthodoxie hat dann Brahma mit den beiden
Volksgöttern Çiva und Vischnu zur klassischen Hindu - Trias vereinigt. Brahma selbst
blieb freilich, seinem Ursprung aus den Konstruktionen der Philosophenschulen ent-
sprechend, eine wesentlich theoretische Figur und den beiden andern Gottheiten der
Sache nach geradezu subordiniert. Kult wird ihm selbst nur in einem einzigen Tempel
von vornehmen Brahmanen gewidmet; im übrigen tritt er ganz hinter Çiva und Vischnu
zurück, welche dem orthodoxen Synkretismus als seine Erscheinungsform gelten, wäh-
rend die lebendige Sektenreligiosität umgekehrt entweder Çiva oder Vischnu als den
höchsten und eigentlichen, im Grunde den einzigen Gott betrachtet. Die eigentlich
klassische neubrahmanische Soteriologie geht fast durchweg auf den Namen Çiva's.
Wichtiger aber als Sankaracharya's naturgemäß eklektische Lehre war seine praktische
Wirksamkeit: im wesentlichen eine Klosterreform gren Stils, die mit bewußter Ab-
sichtlichkeit zum Kampf gegen die heterodoxen, buddhistischen und jainistischen,
Mönchsorden geschaffen wurde. Der von der offizieilen Tradition in 10 Schulen geteil-
te Mönchsorden, den er ins Leben rief, hrt seinen Namen: Dandi”, vom Wandersta-
be. Nach der strengen Observanz sollte nur ein familienloser (eltern-, weib- und kin-
derloser) Brahmane in den Orden aufgenommen werdenrfen. Den Bettelmönch
scheiden daher die Puranas vom alten klassischen Waldeinsiedler (Vanaprastha und
Asrama). Er hatte das Dharma, in der Wanderzeit
330
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [329]
nicht über eine Nacht in einem Dorf zu sein
1
) : Atit”, der unerwartete Gast”, ist ein
alter Name r den Wandermönch. Die Regeln r die ethische Lebensführung knüpf-
ten durchaus an die überlieferten Vorschriften der brahmanischen Soteriologie an: wa-
che “Selbstbeherrschung”, also Beherrschung von Wort, Körper und Seele im Handeln
und Denken ist die Grundlage hier wie dort. Neu war - wie bei den Jesuiten im Occi-
dent - der spezifisch auf Mission und Seelsorge abgestellte Zweck. Zu diesem Behuf
wurde das Verbot der Annahme von Geld - wohl nach buddhistischem Vorbild - ein-
geschärft, gleichzeitig aber für jedes der 4 großen Klöster, die Sankara persönlich stif-
tete, ein “Novizen”- (Bramacharin-) Orden gegründet, dessen Mitglieder nicht selb-
ständig betteln, sondern nur als dienende Bder” die Dandi begleiten sollten und
eventuell auch Geld r sie in Empfang nehmen durften: die in anderer Form auch bei
europäischen Bettelorden vorkommende Art der formalistischen Umgehung des un-
durchführbaren Verbots. Nach zwölfjähriger Mönchszeit können die Dandi und Sanya-
si zur Würde von Para Hamsa” befördert werden, welche klostersässig sind, vorwie-
gend Literaten - Obliegenheiten haben und an deren Spitze ein Swami” genannter Su-
perior steht. Der Mönch erlebt durch die rituelle Aufnahme in den Orden eine Wieder-
geburt, und zwar als irdischer Gott. Nur die dergestalt vergotteten Vollmönche waren
ursprünglich als Gurus der Laien zugelassen. Die Gewalt der Mönche über diese war
von jeher sehr bedeutend, namentlich diejenige der Klostersuperioren. Der Superior
des Klosters in Shringeri, der mächtigste, konnte bis in die Gegenwart durch Exkom-
munikation in ganz Südindien jeden Çivaiten aus der Gemeinschaft der Gläubigen aus-
schließen. Jeder Mönch und auch jeder korrekte Laie, der einer Sekte angehört, hatte
seinen Guru. Dessen Sitz war r ihn selbst, sozusagen, sein geistiger Wohnsitz. Nur
nach dem Sitz dieses Guru und weiterhin nach dessen spiritueller Deszendenz von an-
deren Gurus kann die Sektenzugehörigkeit eindeutig identifiziert werden, bei den kor-
rekten Sankariten also durch die Frage nach ihrer tirtha” (Pilgerstätte, - wie etwa
Mekka r die Islamiten, - in diesem Fall der Sitz des Klosters oder des Gurus), ebenso
bei anderen, z. B. bei den späteren chaitanitischen Sektenangehörigen durch die Frage
nach dem Sripat (dem Sitz desSri”, des Guru, den der Einzelne verehrt).
1
) So: Vischnu Purana III, 9 f.
331
Hinduismus und Buddhismus. [330]
Der literarisch gebildete Wandermönch sollte nach Sankaras Absicht durch Religions-
gespräche die Gegner vernichten, und der klostersässige als Guru die Seelsorge der
Gläubigen übernehmen. Dabei aber sollten beide in der Hand der geistlichen Leiter der
von Sankaracharya gestifteten Schule bleiben. Die äußere Organisation der Klöster
und des Tempeldienstes fand in der Zeit, der einheimischen Herrscher teils durch kö-
nigliche Stiftungen
1
), oft aber auch so statt, daß der Fürst die formelle freiwillige und
private Stiftung bestätigte und mit bestimmten Zwangsrechten ausstattete, welche ihre
äußere Existenz und ihr Monopol sicherstellten
2
). Es findet sich aber in den monumen-
talen Quellen schon vor unserer Zeitrechnung, für Tempel wenigstens, die heute in In-
dien wie in China übliche Gründung durch Subskription
3
) und Schaffung eines Treu-
händer - Komitees (goshti), welches die Verwaltung führt und sich meist selbst er-
gänzt. Die geistliche Leitung, in Klöstern meist und zuweilen in Tempeln auch die
Wirtschaftsführung, lag in den Händen des vom geistlichen Stifter angestellten Superi-
ors
4
). Die Schulen Sankaracharyas scheinen dauernd, um der Geschlossenheit des
Mönchtums willen, auf das Zölibat der Gurus den stärksten Nachdruck gelegt zu ha-
ben. Die als klassisch geltenden 3 von den ersten 10 Mönchsschulen haben an dem
Grundsatz, daß der Seelensorger ehelos sein müsse, festgehalten. Dies ist indessen bei
den übrigen nicht mehr die Regel. Die sankaritischen, rituell geweihten Grihasthas sind
heute Gurus von Laien wie früher die Kloster-
1
) Dies war die durch eine Unzahl inschriftlicher Dokumente belegte Regel bei allen Klöstern und
Hochschulen.
2
) Beispiel (für einen Tempel:) die im Ind. Antiq. (XX, 1891, p. 289) abgedruckte Inschrift (aus dem
8. Jahrhundert etwa), worin ein (vischnuitischer) Tamil - König ein “Abkommen” mit den Patro-
nen” (Stiftern) eines Tempels bestätigt und dabei verfügt, daß bei Strafe der Vermögenskonfiska-
tion jeder Stifter dem Gottesdienst beizuwohnen hat und keinem anderen Gottesdienst beiwohnen
darf: also eine Zwangseinpfarrung. Bei Strafe müssen ordnungsmäßig gebildete Priester zugezo-
gen werden.
3
) Aeltestes Beispiel (für einen buddhistischen Tempel): in der Inschrift Ep. Ind. II p. 87 f. aus etwa
dem 3. Jahrh. vor Chr.: es wird ein Komitee (Bodhagothi) für die Buddha -Kult - Verwaltung ge-
schaffen. - Für einen hinduistischen Tempel aus dem 9. Jahrhundert nach Chr.: Ep. Ind. I p. 184:
Pferdehändler aus verschiedenen Gegenden tun sich zusammen und erlegen sich eine Umlage auf,
deren Ertrag nach Quoten unter verschiedene Heiligtümer verteilt werden soll. Die Verwaltung
führt ein panchayat von goshthikas, die aus angesehenen Einwohnern gewählt werden und dessen
Vorsteher (desi) die Vertretung nach außen in der Hand hat.
4
) So in der çivaitischen Inschrift eines Kanauj - Königs aus dem 10. Jahrhundert Ep. Ind. III, p. 263.
332
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [331]
mönche, und nur darin ist der Unterschied praktisch geblieben, daß sie niemals als pu-
rohita (Haushaplan) oder überhaupt als Priester fungieren, selbst ihre eigenen purohitas
und Brahmanen außerhalb des Ordens wählen. Vegetarismus und Alkoholabstinenz
herrscht in korrekt sankaritischen Kreisen. Ebenso vedische (Sanskrit-) Bildung und
der Grundsatz, nur wiedergeborene Kasten in die Sekten aufzunehmen, nur Brahmanen
in den Orden. Dies blieb freilich nicht durchweg erhalten. Gerade die heute als Sa-
nyasi” bezeichneten Mönche sind oft illiterat, gestatten auch Mitgliedern nicht wieder-
geborener Kasten den Eintritt, nehmen Geld und treiben eine empirische (übrigens
nicht unwirksame) Therapeutik, die sie als Geheimlehre fortpflanzen.
Jeder Brahmane hoher Kaste hat heut einen lingam - Fetisch im Hause. Aber es ist dem
çivaitischen Revival aus eigner Kraft die Durchdringung der Bevölkerung mit seiner
orthodoxen Heilslehre und die Ausrottung der Heterodoxien nirgends gelungen. r
das 12. Jahrhundert nimmt Nagendra Nath Vasu
1
) r Bengalen eine Schichtung der
Religionen an die etwa so aussah, daß neben den 800 eingewanderten orthodoxen
Brahmanenfamilien die Hinayana - Schule westlich des Ganges herrschte, im übrigen
der Mahayanismus in den oberen Kreisen der Mönche und Laien, Yogismus und einige
buddhistische und hagiolatrische Sekten in den Mittelklassen, die rein buddhistische
Ritualistik und Hagiolatrie in den untersten Schichten, der Tantrismus aber in allen
Klassen verbreitet war. Erst die Eingriffe der Könige, namentlich Vellala Senas, haben
hier die brahmanische Orthodoxie zur Herrschaft gebracht.
Mit dem Spätbuddhismus teilte der Çivaismus die Eigenmlichkeit, die obersten Intel-
lektuellenschichten einerseits, die Unterschicht andererseits anzuziehen. Denn wie der
Buddhismus neben der Erlösungslehre der Intellektuellen den Tantrismus und Man-
trismus als höchst bequeme Ritualistik r die Masse rezipiert hatte, so der Çiva - Kult
neben der altklassischen brahmanischen Tradition, die er auf dem Wege über das Epos
aufnahm, die phallische und apotropäische Ekstatik und Magie. Der Çivaismus ent-
wickelte daraus eine eigene schulmäßige Askese (Charya), welche namentlich in der
im Mahabaratha erwähnten Pasupata - Schule einen dem Ursprung entsprechend,
hochgradig irrationalen Charakter annahm: des Irrereden und
1
) Modern Buddhism.
333
Hinduismus und Buddhismus. [332]
andre paranoide Zustände galten als höchste Heilszuständlichkeiten, welche sowohl
die Zerstörung des Leidens wie magische Wunderkräfte verbürgten
1
).
Namentlich die aus der Epik allgemein bekannte Kasteiungs - Askese hat der Çivais-
mus zu einer Massenerscheinung gemacht, indem seine Sekten sie vielfach auch r die
Laien durchführte. Mitte April jedes Jahres melden sich massenhaft die korrekten çi-
vaitischen Laien niederer Kaste bei ihrem Guru und unterziehen sich eine Woche lang
den heiligen Uebungen der allerverschiedensten Art, an denen hier nur interessiert: daß
sie durchweg - im Gegensatz zur Yoga - Kontemplation - völlig irrationaler Art sind,
oft rein nervöse Virtuosenleistungen darstellen. Neben den meist schreckhaften Gei-
stern und dem furchtbaren Gott selbst, der als gewaltiger Virtuose der Magie sowohl
wie als dürstend nach Opferblut vorgestellt wird, spielte kultisch der allmählich vom
Ursprung des Symbols sich gänzlich loslösende phallische lingam - Fetisch die Haupt-
rolle bei den Massen.
Die vornehme Smarta - Schule rechnet sich als die Fortsetzerin der alten Tradition,
weil sie das vedantistische Heilsziel: Selbstvernichtung durch Vereinigung mit dem
Göttlichen, und den vedantistischen Heilsweg: Kontemplation und Gnosis, am reinsten
festgehalten hat. Die althinduistische Lehre von den drei Gunas: satva, rajas, tamas,
lebt bei ihnen weiter. Ebenso die Unpersönlichkeit des göttlichen Geistes, der in den
drei Formen: Sein, Wissen, Seligkeit lebt, im übrigen unprädizierbar ist, wenn er will,
sich - innerhalb der Maya - Welt der kosmischen Illusionen - als persönlicher Gott ma-
nifestiert und als individueller Geist bewußt” (Viraj) werden kann. Der wache” Gei-
steszustand des individuell Seelischen ist der Tiefstand der Göttlichkeit, traumlose Ent-
cktheit die höchste, weil dem Heilsziel nächste.
Mit dieser Lehre hat der populäre lingam - Kult natürlich kaum die geringste Bezie-
hung. Für den einfachen Lingam - Verehrer war überhaupt nicht Çiva, sondern der lin-
gam - Fetisch und allenfalls die alte, männliche oder meist weibliche, stark animistisch
aufgefte Lokalgottheit, die ihn bewohnte, das Objekt des Kults. Dabei liefen die al-
ten, dem Çivakult und namentlich dem alten Sakti - Kult der als seine Gattin angesehe-
ne Göttin Durga ursprünglich eigenen, Fleischorgien und blutigen Opfer als eine
1
) Dazu, wie überhaupt zu vielen vorstehenden Bemerkungen vgl. R. G. B h a n d a k a r ,
Vaishnavism, Saivism and minor religious systems in Bühlers Grundriß Strburg 1913.
334
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [333]
unklassische Art von Volkskulten weiter. Sexual- und Blutorgie wurden zuweilen in
sadistischer Art miteinander verschmolzen. Daneben stand nun die individuelle çivaiti-
sche Heilssuche scheinbar beziehungslos. Denn sie war besonders oft in sehr starkem
Maße asketischen Charakters im Sinne höchst virtuosenhafter Kasteiung. Çiva selbst
erscheint in der Literatur als starker Asket und bei der Rezeption der volkstümlichen
Heilssuche durch die Brahmanen sind gerade die schroffsten und für uns abstoßendsten
Formen der Mönchsaskese als çivaitisch rezipiert worden, zweifellos weil das alte Pre-
stige des durch Kasteiung zu erlangenden Charisma als Mittel der Konkurrenz gegen
die Heterodoxie geschätzt wurde. Ein Umschlag von extremer und pathologischer Ka-
steiung zu pathologischer Orgie war aber im populären Çivaismus offenbar seit alters
in teilweise furchtbarer Form heimisch, und auch das Menschenopfer hat bis in die
neueste Zeit nicht ganz gefehlt
1
). Gemeinsam war schließlich aller eigentlich çivaiti-
schen Religiositäf im allgemeinen eine gewisse Kälte der Temperierung in der Ge-
fühlsbeziehung zum Gott. Çiva war kein Gott der Liebe und Gnade, und seine Vereh-
rung nahm daher entweder ritualistische oder asketische oder kontemplative Formen
an, soweit sie nicht Bestandteile aus der heterodoxen Orgiastik beibehielt. Gerade jene
Qualitäten hatten ja diesen Gott der kühlen Gedanklichkeit der brahmanischen lntellek-
tuellen - Soteriologie besonders akzeptabel gemacht. Für sie hatte die theoretische
Schwierigkeit ja nur darin bestanden, daß er eben ein persönlicher Gott war und mit
den Attributen eines solchen ausgerüstet werden mußte. Dafür hatte Sankaracharya das
Bindeglied geschaffen.
Praktisch schwierig freilich blieb die Einfügung des ganz unklassischen Lingam - Kul-
tes in das klassische Ritual, welches davon nichts wußte. Das größte çivaitische Fest,
am 27. Februar, ist noch jetzt reine Anbetung des an diesem Tag in Milch gebadeten
und dekorierten lingam. Der ganze “Geist” dieses Kultes stand aber so im Wider-
spruch mit den Traditionen der Intellektuellen -
1
) Zu den Çivaiten gehörten daher (soweit sie Hindu waren) auch jene Räubersekten, welche der Ka-
li, einer der ttinnen Çiva's, außer Anteilen an der Beute auch Menschenopfer darbrachten. Dar-
unter gab es solche, welche - wie die Thugs - das Blutvergießen aus rituellen Gründen verwarfen
und daher die Opfer stets erdrosselten (Hopkins a. a. O. p. 493 Anm. 1, p. 494 Anm. 1 nach Be-
richten britischer Offiziere aus den 30er Jahren. Ueber die sadistischen Durga - Orgien s. das. p.
491 Anm. 2 und p. 492 Anm. 2). Die häufige Art der Darstellung Çivas und der çivaitischen t-
tinnen: eine Mischung von Obsnität und wilder Blutgier in Ausdruck, hängt mit dieser Art der
Orgiastik zusammen.
335
Hinduismus uud Buddhismus. [334]
Soteriologie und auch mit dem klassischen vedischen Ritual, daß die Gefahr eines
Bruchs hier stets bestand, der dann auch jene Zwiespältigkeit orgiastischer und asketi-
scher Orientiertheit, wie sie der Çivaismus umschl, zutage treten lassen mußte. Er
erfolgte im gren Maßstabe vor allem in der Häresie Basavas, des Gründers der Lin-
gaya - Sekte, der, nach allgemeiner Ansicht, bigottesten aller hinduistischen religiösen
Gemeinschaften. Der Stifter, ein südwestindischer çivaitischer Brahmane (12. Jahr-
hundert), geriet mit der Hierarchie in Konflikt, weil er das vedische Ritual bei Anle-
gung der heiligen Schnur, welches Sonnenanbetung einschl, als ketzerisch ablehnen
zu müssen glaubte und wurde dann Hofbrahmane und Premierminister eines kanaresi-
schen Königs. Seine Anhängerschaft war und blieb im kanaresischen Gebiet am stärk-
sten, verbreitete sich aber weit über dindien. Die Ablehnung des vedischen Rituals
hatte bei Basava Lossage von den Brahmanen und Sprengung der Kastenordnung zur
Folge. Die religiöse Gleichwertigkeit aller Menschen, auch der Frauen, wurde gepre-
digt. Die rationalen, antiorgiastischen, ge des Çivaismus erstarkten. Teile der Sekte
galten früher auch in sexueller Hinsicht r “puritanisch”. Doch scheint dies nicht
streng festgehalten worden zu sein. Um so strenger waren und sind sie in anderen ritu-
ellen Hinsichten. Sie lehnten nicht nur den Fleischgenuß ab, sondern weigerten und
weigern sich noch in irgendeiner Art am Fleisch- und Viehhandel oder an der Viehpro-
duktion teilzunehmen oder Kriegsdienste zu tun. Sie verwarfen nicht nur die Tantras,
sondern gehörten, wenigstens in ihren Anfängen, zu den wenigen Sekten, welche die
Samsara - Lehre bezweifelten. Die Heilssuche der Intellektuellen bestand in Meditati-
on über das in der Theorie zum Symbol der verschiedenen übernatürlichen Potenzen
Çivas spiritualisierte lingam bis zu vollkommener Weltindifferenz, dem höchsten Stan-
de der Gnade (prasada). Die volksmliche Soteriologie
1
) aber war rein magischer und
sakramentaler Art. Der Guru vollzog an dem Eintreten - den je nach der Stufe der Ver-
vollkommnung die acht (ashtavarna-) Sakramente, welche allein die Rechte des Voll-
mitglieds gaben. Sie waren in der Doktrin strikt “monotheistisch, anerkannten nur Çi-
va und verwarfen das brahmanisch - hinduistische Pantheon
1
) Das Basava Purana, die Grundschrift dafür, ist m. W. nicht übersetzt. Leider war mir auch die son-
stige Spezialliteratur über die Sekte nicht zugänglich.
336
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [335]
und die Trias der höchsten Götter. Aber sie verehrten Çiva wesentlich in magisch - ri-
tueller Form. Sie trugen das lingam als Amulett ( Jangama -lingam): der Verlust dieses
Objekts galt als schwerstes heilsgefährdendes Ungck. Neben der Verehrung dieses
Amuletts und des Tempel - Phallos (des Sthavara lingam, d. h. standfesten, nicht trag-
baren, lingam) kannten sie die Andacht zu heiligen Worten und Silben (Om). Ihre Prie-
sterschaft, die Jangama, waren teils wandernde und Klöstern zugeteilte Asketen, teils
Lingam - Tempelpriester; die letzteren gehörten zuweilen zum establishment von
Lingayat - Dörfern
1
). Im übrigen fungierten sie als Gurus der Laien. Die Obedienz ge-
gen den Guru war bei den Lingayat sehr streng, wohl am strengsten von allen indi-
schen Sekten, namentlich bei den rituell und ethisch, auch sexualethisch und in der Al-
koholabstinenz strengsten Observanten, den Visesha Bhakta. Zu dem auch sonst übli-
chen Trinken des Fußwaschwassers und ähnlichen hagiolatrischen Praktiken trat hier
hinzu, daß selbst die Götterbilder vor dem Guru geneigt wurden, um seine Götterüber-
legenheit zu symbolisieren. Diese haben auch an der alten Kastenlosigkeit am streng-
sten festgehalten. Dagegen wurde schon früher erwähnt, daß im übrigen die Lingayat
dem allgemeinen Schicksal der Sekten: durch die Gewalt der Umstände in die Kasten-
ordnung wieder hineingedrängt zu werden, nicht entgangen sind. Zuerst entwickelte
sich die Aristokratie der Sippen der Altgläubigen gegenüber den später Konvertierten.
Nur jenen blieben die 8 Sakramente voll zugänglich. Dann begann die ständische Dif-
ferenzierung nach dem Beruf, der ja, auch bei den Lingayat rituell in verschiedenem
Grade unbedenklich war. Schlilich, sahen wir, gliederten sich die Sekten einfach
nach den traditionehen Kasten
2
). Namentlich die Samanya, die gewöhnlichen Lin-
gayat (im Gegensatz zu den pietistischen Observanten) haben sich in dieser Hinsicht
leicht akkommodiert. Alles in allem hat der rationalistische Zug, der sich in dem Pu-
rismus der Sekte äußert, die massive Hagiolatrie und traditionalistische Ritua-
1
) Der Gegensatz der Sekte gegen die Brahmanen war so schroff, daß eine Dorfschaft das Graben ei-
nes Dorfbrunnens ablehnte, weil dadurch ein Brahmane veranlt werden könnte, dort Wohnung
zu nehmen (da er dadurch rituell reines Wasser zur Verfügung gehabt hätte).
2
) Die Oberkaste nennt sich Vira - Saiva - Brahmana. Die Priester und Händler (aus der Baniya - Ka-
ste) bilden den ersten Stand, Handworker und Oelpresser folgen, schließlich die unreinen Kasten.
Konnubium zwischen den Kasten besteht ngst nicht mehr, vielmehr sind die Unterkasten endo-
gam.
337
Hinduismus und Buddhismus. [336]
listik ihrer vorwiegend bäuerlichen Anhängerschaft nicht brechen können. - Einen
vom genuinen Çivaismus - trotz aller gegenseitigen Beeinflussungen und Uebergänge -
merklich verschiedenen Typus zeigt die zweite gre Religiosität (oder Gruppe von
solchen), der hinduistischen Renaissance: der V i s c h n u i s m u s . Der orthodoxe
brahmanische Çivaismus kastrierte die Orgiastik ritualistisch zum lingam - Kult, über-
nahm daneben die alte klassische Vedanta - Soteriologie unter Einfügung des persönli-
chen Weltregenten in das System und fand so in seinen innerlich höchst heterogenen
verschiedenen Formen Anhänger einerseits unter dem vornehmen Brahmanentum als
Neu - Orthodoxie, andererseits unter den Massen der Bauern als dörflicher Tempel-
kult. In Wahrheit freilich blieben die von der Orthodoxie nicht anerkannten Blut-, Al-
kohol- und Sexualorgien die Domäne des im wirklichen Volkskult lebenden Çiva. Der
Vischnuismus dagegen temperierte die Orgiastik zur brünstigen Andacht und zwar
vornehmlich in der Form der Heilandsminne. Die blutigen Opfer des alten Çivaismus
und die radikale Kasteiungs - Virtuosität waren ihm fremd, denn Vischnu war als alter
Sonnengott eine Vegetationsgottheit mit unblutigem Kult, dagegen mit sexueller
(Fruchtbarkeits-) Orgiastik. Durch die bei Sonnenkulten stets naheliegende Verbindung
mit inkarnierten Erlösergestalten wurde er die Form spezifischer H e i l a n d s religio-
sität, welche Indien hervorgebracht hat und fand demgemäß, wie es scheint, seinen
Boden vornehmlich in den mittleren, rgerlichen, Schichten der indischen Gesell-
schaft. Jener Umschwung zur Innigkeit und zum Genrehaften, den man in der italieni-
schen Plastik etwa zwischen Pisano Vater und Sohn beobachten kann und der mit der
Expansion des Bettelmönchtums Hand in Hand geht, kann damit am ehesten verglichen
werden, außerdem natürlich die gefühlsmäßig ähnlichen Erscheinungen in der Gegen-
reformation und im Pietismus. In Indien war vor allem der Krischnakult der Boden, auf
welchem diese Entwicklung sich vollzog. Der Vischnuismus wurde die Religion der
Avatars”, der zur Erde niedersteigenden Inkarnationen des höchsten Gottes. Krischna
war nicht die einzige: 10, dann 20, dann 22, dann immer mehr, wurden erfunden. Aber
ebenbürtig neben Krischna trat nur eine zweite wichtige und höchst populäre Inkarna-
tion Vischnus: Rama, ein - vielleicht historischer - siegreicher König, der Held des
zweiten,
338
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [337]
gren indischen Epos, des Ramayana. Er wird gelegentlich als Bruder Krischnas be-
zeichnet, gelegentlich (im Mahabaratha) sogar als eine von dessen Erscheinungsformen
und war in drei verschiedenen Figuren, die alle als Inkarnationen des gleichen Helden
galten, Nothelfer und Heiland. Im Gegensatz zu dem in seinen Taten durchaus unethi-
schen Krischna ist er weit mehr moralisierend ausgestaltet. Die Beziehung zum alten
Kult der Sonne: Surya, ist bei ihm weit stärker festgehalten als bei Krischna. Es scheint
demgemäß, daß die Vegetationsfeste und unblutigen Opfer, welche dem Vischnuismus
im Gegensatz wenigstens zur alten çivaitischen Fleischorgie charakteristisch waren,
aus seinem Kult stammen. Andererseits traten jene sexualorgiastischen Bestandteile,
welche im Krischna - Vischnuitentum in sublimierter Form stets fortgelebt haben, in
den Rama - Kulten anscheinend mehr zurück. Auch das Ramayana gab Anl zu phi-
losophischer Spekulation. Rama ist daher ein vorwiegend ritualistisch durch Gebets-
formeln angerufener universeller Nothelfer teils der philosophisch Gebildeten, teils
umgekehrt der gänzlich bildungslosen breiteren Massen geworden. Die eigentliche pie-
tistische Heilandsfrömmigkeit des aliterarischen aber wohlhabenden Mittelstandes hat
sich dagegen, scheint es, von Anfang an stärker an die erotische oder kryptoerotische
Krischna - Verehrung angegliedert.
Es wurde ausgeführt, wie in der Bhagavata - Religiosität der “Glaube”, die persönliche
innere Vertrauensbeziehung zum Heiland, in den Vordergrund trat. Die weitere Ent-
wicklung gte einerseits den überweltlichen persönlichen Gott hinzu: Vischnu, den al-
ten, in den Veden weit zurücktretenden Sonnen- und Fruchtbarkeitsgott, mit welchem
die alte Gottheit der Bhagavats identifiziert wurde, und als dessen wichtigste Inkarna-
tion der mythische Heiland Krischna galt
1
). Die Hauptsache aber war die neue Qualität
der Frömmigkeit, welche schon in den späteren Einschiebungen des Mahabharata ent-
wickelt ist. Heiliges Wissen und Gnosis, rituelle und soziale Pflichterfüllung, Askese
und Yoga - Meditation sind alle nicht die entscheidenden Mittel zur Seligkeit. Diese
wird gewonnen durch B h a k t i ”: die leidenschaftlich gottinnige innere Hingabe an
den Heiland und seine Gnade.
Es ist möglich, daß diese Andachtsfrömmigkeit schon in
1
) Diese Identifikation war Zur Zeit des Megasthenes (3. Jahrh. vor Chr.) offenbar schon vollzogen.
339
Hinduismus und Buddhismus. [338]
früher Zeit einer besondern von den Bhagavats verschiedenen Sekte, den Bhaktas, ei-
gentümlich war. Schon in den letzten Redaktionen des Epos ist sie aber mit der Gna-
denlehre jener verbunden. Die orgiastische, und zwar sexualorgiastische, Herkunft der
bhakti - Ekstase steht jedenfalls schon deshalb außer Zweifel, weil die Sexualorgien
der Krischna - Verehrer auch nach der brahmanischen Sublimierung zur gottinnigen
Andacht und bis in die Neuzeit daneben fortbestanden. Die Mahaprasada - Eucharistie,
bei welcher alle Kasten gemeinsam beim Opfermahl saßen, war - ebenso wie die frü-
her erwähnte Jaganath - Orgie der südindischen Kasten linker Hand - ein offenbarer
Rest alter vorbrahmanischer Riten, und sie findet sich bei fast allen eigentlichen bhakti
- Sekten
1
). Von den sehr handgreiflichen Resten der Sexualorgiastik bei den vischnui-
tischen Sekten wird noch die Rede sein. Insbesondere von Chaitanyas später zu er-
wähnendem populärem Revival des bhakti ist bekannt, daß es unteranderem der aller-
gröbsten Sexualorgiastik der Massen den Boden abgraben wollte, dabei aber selbst se-
xualorgiastischen Charakters war. Vor allem liefert die psychologische Qualität des
bhakti selbst den Beweis. Denn die vorgeschriebene Stufenfolge soll über drei (oder
vier) andere Gefühlszuständlichkeiten schließlich zu einer inneren Gefühlsbeziehung
zum Heiland hren
2
), welche derjenigen gleicht, die eine erotisch Liebende dem Ge-
liebten widmet. An die Stelle der realen Sexualorgiastik trat also der kryptoerotische
Genuß in der Phantasie. Zu diesem Zweck wurde die derbe alte erotische Krischna -
Mythologie mit zunehmend kryptoerotischen gen angereichert. Die Jugendabenteuer
des Helden, der nach der Legende ein Hirte (Govinda) war, mit den Hirtinner (Gopis)
standen von jeher im Mittelpunkt der Krischna - Mythen und wohl auch des Krischna -
Mimus. Das im Abendland zuerst durch Rückerts Uebersetzung bekannt gewordene
Gitagovinda war eine glühend erotische poetische Darstellung dieser Abenteuer. Aber
es ist außer Zweifel, daß r gewisse später hinzugekommene Züge auch die Innigkeit
einiger christlichen Legenden - der
1
) Grierson, I. R. As. Soc. 1907, p. 311. Die Ansicht, daß derartiges sekundär, womöglich unter dem
Einfl der Nestorianer (wie behauptet wurde) habe entstehen nnen, bedarf keiner Widerle-
gung.
2
) In den Chaitanya - Sekten ist die Stufenfolge der Verdienstlichkeit: 1. Santi (Meditation) - 2. dasya
(aktiver Gottesdienst) - 3. sakhya (Gefühl wie für einen persönlichen Freund) - 4. vatsalya (Gefühl
wie für einen Vater), endlich: - 5. madhurya (Gefühl wie das des Mädchens für ihren Geliebten, -
ein spezifisch femininer Habitus also).
340
III. Die asiatische Sekten- und Heilamlsreligiosität. [339]
bethlehemitischen Jugendgeschichten vor allem - zur Sublimierung und Anreicherung
dieser Heilandserotik herangezogen wurde
1
). Zur Intellektuellen- Soteriologie der alten
Bhagavata - Religiosität verhielt sich Bhakti” etwa wie der Pietismus, namentlich der
Zinzendorfsche Pietismus, zur Wittenberger Orthodoxie im 17. und 18. Jahrhundert.
An Stelle des maskulinen gläubigen “Vertrauens” ist ein feminines Gefühlsverhältnis
zurn Heiland getreten. Gegen die certitudo salutis, welche diese Heilszuständlichkeit
gab, traten nun alle anderen Heilswege zurück. Sowohl die Advaita - Erlösung der Ve-
dantisten, wie die Mimamsa - Werkgerechtigkeit, wie vollends das kühle Wissen der
Samkhya - Erlösung kam r den Bhakti - Praktikanten nicht in Betracht. Alle rituellen
oder sonstigen Heilsleistungen der hinduistischen Frömmigkeit hatten nicht nur, wie
bei jeder spezifischen Glaubensreligiosität, nur dann Wert, wenn sie ausschließlich und
allein auf den erlösenden Gott oder Heiland bezogen waren, - dies hatte schon die
Bhagavata-Religion gelehrt, - sondern sie waren wichtig letztlich nur als technische
Hilfsmittel r die Erzeugung des allein entscheidenden Heilszustandes. In diesem Sinn
kann allerdings schlechthin alles als Mittel dienen, wenn die rechte Andacht dabei ist.
Die Theologie dieser Gnadenreligiosität geriet in die gleichen Diskussionen, wie sie
der Occident gekannt hat. Der Theorie von der gratia irresistibilis, die so erlöst, wie
die Katze, die ihr Junges im Mund davonträgt, stand die andere von der gratia
cooperativa gegeber, welche die Gnade so wirken li, wie die Affenmutter, deren
Junges sich an ihren Hals klammert
2
). Immer wurde das Opfer des Intellekts”
gefordert: man soll “an den Geboten des Veda nicht deuteln mit menschlicher
Vernunft”. Die “Werke” aber sind nur wertvoll, wenn sie - entsprechend der Lehre des
Bhagavatgita - uninteressiert” (niskama) sind. Interessierte” (sakama) Werke wirken
Karman, die “uninteressierten” dagegen Bhakti
3
).
1
) Das Christentum ist im 6. Jahrhundert in Südindien, im 7. Jahrhundert in Nordindien zweifelsfrei
nachweisbar.
2
) Hierzu Grierson, I. R. A. S. 1908 p. 337 f. Grierson hat auch das moderne theologische Werk des
Pratapa Simha (von 1866) übersetzt (I. R. A. S. p. 1908). Griersons Annahme (I. R. A. S. 1911 p.
800,) daß Bhakti zuerst in Südindien gepredigt worden sei, ist bestritten und nicht glaubhaft.
3
) Das verwendete Gleichnis ist: ein gemieteter Arbeiter (der um Lohn dient) hat den Schaden, den er
verrichtet, zu ersetzen, Schaden dagegen, den ein im Eigentum des Herrn stehender Haussklave
anrichtet, trägt der Herr. (Die Evangelien wenden ein ähnliches Gleichnis an, wenn sie von den
Werkgerechten sagen: “sie haben ihren Lohn dahin”.)
341
Hinduismus und Buddhismus. [340]
Nach der sublimierten Bhakti - Theorie
1
) bewährt sich das echte Bhakti, die Gotteslie-
be, letztlich in der Abwesenheit unreiner Gedanken und Triebe, vor allem: Zorn, Neid,
Begierde. Diese innere Reinheit gibt die certitudo salutis. Diese Konsequenzen mußten
da gezogen werden, wo man statt der akuten ekstatischen Vereinigung mit dem Gott
oder Heiland den dauernden heiligen Zustand erstrebte; vor allem also in den Intellek-
tuellenschichten
2
). Neben Karma - Marga, den Heilsweg der ritualistischen Brahma-
nen, und Iñana - Marga, den Heilsweg der kontemplativen Brahmanen, und neben das
Yoga Marga, den Heilsweg der (zunehmend) aliterarischen Ekstatik, trat so Bhakti -
Marga als ein selbständiges Heilsmittel. Indessen den am meisten sublimierten und
ethisch rationalisierten Formen standen und stehen andere gegenüber, welche den
Bhakti - Zustand wesentlich massiver faßten. Denn Bhakti” wurde eine Form der Se-
ligkeit, welche in allen Schichten des vischnuitischen Hinduismus - und teilweise auch
darüber hinaus
3
) - verbreitet war und ist heute vielleicht von den nicht rein ritualisti-
schen Arten der Heilssuche in Indien die verbreiteste überhaupt, obwohl von der klas-
sischen brahmanischen Tradition jede ihrer Formen nur als ein unklassischer Heilsweg
geduldet war und ist. Als eine gefühlsmäßige Heilandsreligiosität wurde es ganz natur-
gemäß die bevorzugte Form der Heilssuche der aliterarischen Mittelstandsschichten.
Fast alle hinduistischen Reformer vischnuitischer Provenienz haben in irgend einer Art
an der kryptoerotischen Sublimierung
4
) oder umgekehrt Popularisierung der Bhakti -
Heils-
1
) S. dieselbe z. B. in den Aphorismen Sandilyas I. R. A. S. 1907 p. 330.
2
) Eine Vaischnawa - Inschrift aus dem 13. Jahrhundert (Ep. Ind. VII, p. 198) sagt: “Ich habe kein
Verlangen nach Verdienst, noch nach Häufen von Reichtum, und gar nicht nach Sinnenlust. Was
kommen soll, o Gott, laß es kommen entsprechend den vorgetanen Handlungen. Darum allein bit-
te ich dich: auch in jedem künftigen Leben l mich von unverminderter Verehrung zu deinen Lo-
tosfüßen beseelt sein”. Also: der Besitz der andachtsvollen Gottinnigkeit als Selbstzweck. Zu-
gleich zeigt die Inschrift jene inaktive Gestimmtheit des Lebens, die jeder reinen
Glaubensreligiosität (auch dem Luthertum) eigen ist.
3
) Denn wenigstens in Südindien hat auch der Çivaismus Bhakti auf das intensivste gepflegt und ist
der Hauptsitz einer stark asketisch gewendeten, auf dieser Grundlage stehenden, Frömmigkeit
gewesen. Hier wurde Çiva ein Gott, zu dem man nur durch Gnade, nicht durch Verdienst, gelan-
gen kann und nicht das vedantistische Aufgehen in ihm, sondern das Weilen bei ihm galt als Erlö-
sung. Die Konkurrenz gegen Vischnu war daher hier besonders schroff. (Vgl. Senathi Raja auf
dem 6. Orientalisten - Kongreß 1883, Bd. III, S. 291).
4
) Die vischnuitischen Tempel - Fresken gelten als minder phantastisch - grausig, aber als ebenso ein-
deutig und gelegentlich krobsn wie die çivaitischen.
342
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [341]
suche und an ihrer Kombination mit dem alten vedischen Ritualismus gearbeitet
1
). In
dindien schieden sich die berufsmäßigen Lehrer von Bhakti, die Alvar, von den Leh-
rern des Disputierens, den Acharya. Aus den letzteren gingen naturgemäß die am we-
nigsten pietistisch” - gefühlsmäßig orientierten Reformer hervor.
Dahin gehören vor allem die beiden bedeutendsten vischnuitischen Sektenstifter auf
dem Boden des Rama - Kults: Ramanuja (12. Jahrhundert) und Ramananda (14. Jahr-
hundert), beide Brahmanen, die ein Wanderleben als Lehrer hrten und ganz in der
Art Sankaracharyas sich der Organisation und Instruktion von Mendikanten - Mönchen
als des Mittels zur Massenpropaganda ihrer Heilslehren und zur Festhaltung der An-
hänger bedienten. Ramanuja soll persönlich 74 (oder gar 89) Gurus als seine von ihm
eingesetzten nger und Seelendirektoren hinterlassen haben und es scheint, daß die
Festigkeit seiner Organisation wesentlich darauf beruhte, daß diese e r b liche Hierar-
chen waren. Neben die Dandis und Sanayasins - Namen, welcher fortan für die çivaiti-
schen Bettelmönche gebraucht wurden, - traten die Vairaghis, wie (meist) ihre
vischnuitischen Konkurrenten bezeichnet wurden
2
). In der Doktrin wich Ramanuja von
dem vedantistischen System Sankaras, welches hinter den letztlich zur Maya - Welt
gehörigen persönlichen Gott das unerforschliche attributlose Brahman setzte, insofern
ab, als diese Welt keine kosmische Illusion, sondern der Leib und die Offenbarung des
Göttlichen, der persönliche Gott (Parabrahma) eine Realität und ein Weltregent, nicht
ein Teil der Maya - Welt ist, substanziell verschieden sowohl vom Seelischen (chit) als
vom Unbeseelten (achit). Maya und unpersönliches Göttliche gelten als Produkte
liebloser” Lehre. Demgemäß wird als Heilsgut Unsterblichkeit, nicht Aufgehen im
Göttlichen, verheißen. Die einflußreichste seiner Sekten hi deshalb Dualisten”
(Dwaitawadi), weil sie die substan-
1
) Als ein Beispiel solcher Arbeiten kann etwa das Vischnu - Purana (englisch herausgegeben von
Wilson 1864) gelten.
2
) Der Name (namentlich in der Form Baishnab) ist teilweise zum Namen kleiner dnrch Verpfrün-
dung und Säkularisation entstandener Kasten geworden ebenso wie derjenige der Yogins. Die
Strenge der Askese war im allgemeinen bei den vischnuitischen nchen geringer als bei den çi-
vaitischen - ganz entsprechend dem Charakter der Religiosität. Die Bairagi - nche (Bairagi -
von der Welt frei) Ramanandas namentlich, welche allen Kasten ohne Unterschied den heiligen
Gürtel bei der Konfirmation gaben, hatten später meist geduldete Nonnen - Konkubinen und leb-
ten in ihren oft großen und reichen Klöstern oft ziemlich weltlich.
343
Hinduismus und Buddhismus. [342]
zielle Verschiedenheit Gottes von der Seelensubstanz lehrten und daraus die Unmög-
lichkeit des Aufgehens in Gott (des vedantistischen Nirwana) schlossen. Die im An-
schlan das Bhagavadgita entwickelte philosophische Spekulation war bei den Intel-
lektuellenschichten der ramanitischen Vischnu - Sekten stärker entwickelt als bei den
krischnaitischen. Namentlich der Kampf zwischen den Vadagala, den Anhängern der
gratia cooperativa, die zugleich Sanskrit - gebildete Mönche hatten, und den Tengala,
den Anhängern der gratia irresistibilis, deren Mönche Tamil als heilige Sprache hatten,
tobte sehr heftig. Die letztgenannte Schule neigte zu stärkerer Indifferenz gegenüber
den Kastenunterschieden. Nach der genuinen Lehre Ramanujas war die Erlangung des
echten “Bhakti an “upasana”, die altklassische Meditation, also vedische Bildung,
geknüpft, mithin dem Çudra nicht unmittelbar zugänglich. Er konnte nur durch piapat-
ti, unbedingte Hingabe an Gott aus dem Gefühl vollkommener Hilflosigkeit heraus,
Heil erlangen und bedurfte dazu unbedingt der Leitung des vedisch gabildeten Guru als
Mittlers. Dabei ist in den Unterschichten, die sie heranzogen, infolge des Fehlens der
Gefühlsmomente reiner Gebetsformelritualismus mit allerhand Tierkulten (so dem des
heiligen Affen aus dem Epos) kombiniert worden. Die Konkurrenz gegen die Çivaiten
war, namentlieh unter Ramanuja, zeitweise sehr scharf und bitter, gegenseitige Verfol-
gungen und Austreibungen, Religionsgespräche, konkurrierende Klosterstiftungen oder
Klosterreformen im Sinn der Beseitigung der Gegner finden sich in beträchtlicher Zahl.
Die Disziplin der vischnuitischen Gurus war teilweise abweichend und im ganzen we-
niger asketisch als diejenige der çivaitischen. Namentlich hat der Vischnuismus in
stärkerem Maße an das jedem Hindu geläufige Prinzip des Erbcharisma angeknüpft
und also von Anfang an die Gurus meist als erbliche Hierarchen eingesetzt. Die per-
sönliche Guru - Gewalt war überhaupt in den vischnuitischen Sekten besonders stark,
im ganzen stärker als in den çivaitischen entwickelt. Es entsprach dies dem Charakter
der vischnuitischen Religiosität, welche einerseits Hingabe an Autoritäten forder te
1
),
andererseits die stete Anregung zu pietistischen revivals” in sich schl. Die erbliche
Guru - Gewalt erscheint in großem Mstab zuerst in der Sekte Rama-
1
) Jedoch ist im südindischen Bhakti - çivaismus die Priestergewalt verhältnismäßig gering. (Senathi
Raja a. a. O.)
344
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [343]
nujas, dessen Guru - Familien noch jetzt zum Teil (in Conjevoram) existieren. Inhalt-
lich richteten sich Ramanujas Reformen vor allem gegen der, Phallos- (lingam-) Kult.
An Stelle dieses in seinen Augen unklassischen Fetischismus traten daher andere For-
men der Sublimierung der Orgiastik, namentlich die oft als Arkan - Disziplin gehand-
habten Kultmahle. Namentlich aber kamen, entsprechend dem Heilands - Charakter
der ramaistischen Frömmigkeit, die eine Anrufung der Nothelfer enthaltenden Gebets-
formeln als Andachtsmittel hoch: so namentlich bei den Ramats, den Sekten Ramanan-
das, die sich neben andern Einzelheiten auch hierdurch von der Observanz Ramanujas
unterschieden. Die mantra”, die aus wenigen Worten oder aus einer sinnlosen Silbe
bestehende Anrufungsformel, gewann dadurch eine gelegentlich alles andere überwu-
chernde Bedeutung. Krischna und alte Reste der Sexualorgiastik waren hier am voll-
ständigsten zugunsten Ramas und dieser ihm eigenen Andacht in Worten eliminiert.
Der Rama - Kult ist im allgemeinen sexuell rein, die weibliche Gottheit die treue Gat-
tin, im Gegensatz zum Krischna - Kult mit seiner orgiastischen Erotik und der Beschäf-
tigung mit Krischnas Geliebten.
Andrerseits aber fand sich, in der Mission Ramanandas, als Prinzip zuerst eine sozial
wichtige Neuerung: die Durchbrechung der Kasten. Nicht in der sozialen Alltags - Or-
ganisation und im Alltags - Ritual: hier haben, mit den weiterhin angegebenen Aus-
nahmen, alle Sekten die Kastenschranken nicht angetastet. Wohl aber in der Zulassung
der Unterkasten zur Guru - Stellung. Die alten wandernden und lehrenden Philoso-
phen, Sophisten und Heilskünder der Kschatriya - Epoche, sahen wir, waren zum sehr
erheblichen Teil vornehme Laien gewesen, sehr oft solche, welche erst im Alter oder
auch nur zeitweise das Leben des Asketen und Wanderlehrers erwählten. Die Hetero-
doxie, namentlich der Buddhismus, hatte prinzipiell die Kastenzugehörigkeit bei der
Aufnahme in den Orden ignoriert und den Berufsmönchgeschaffen. Die brahmani-
sche Restauration übernahm diesen zwar, hatte aber r die Aufnahme in die Philoso-
phenschulen und Klöster und für die Zulassung als Guru wieder Brahmenenkaste ge-
fordert und die çivaitischen Sekten, wenigstens die offiziell anerkannten, waren im
ganzen dabei geblieben. Zuerst Ramananda wich ausdrücklich ab. Dabei spielte frei-
lich wohl auch der Umstand eine Rolle, daß die islamische Fremdherrschaft inzwi-
schen über Indien hereingebrochen war. Sie hat, wie fher ausgeführt,
345
Hinduismus und Buddhismus. [344]
durch Vernichtung oder Konversion oder politische Entrechtung des weltlichen Adels
die Stellung der nun allein die alte einheimische Tradition tragenden geistlichen Mäch-
te einschließlich der Brahmanen im ganzen eher gestärkt, so sehr sie sie bekämpfte.
Aber die äußerlichen Machtmittel der Brahmanen fielen doch fort und die Sektenstifter
sahen sich noch mehr als bisher darauf hingewiesen, Anschluß an die Massen zu su-
chen. Während alle erheblichen hinduistischen Sektenstifter bis zu Ramananda ein-
schließlich Brahmanen waren und, soviel bekannt, nur Brahmanen als Schüler und Gu-
rus annahmen, brach Ramananda mit diesem Grundsatz. Unter seinen unmittelbaren
Schülern fanden sich - der Tradition nach - neben einem Rajputen: Pipa, und einem Jat:
Dhuana, ein Weber: Kabir, und sogar ein Chamar (Lederarbeiter): Rai Das. Wichtiger
aber als diese schließlich auch bisher nicht gänzlich fehlende Durchsetzung des Medi-
kantentums mit nicht -brahmanischen Elementen war die Erscheinung: daß sich nun-
mehr auch Sekten entwickelten, die entweder in aller Form oder doch der Sache nach
ganz auf dem Boden ständisch oder beruflich gesonderter aliterarischer Schichten
standen. Daß die Smarttas im wesentlichen eine reine Brahmanensekte waren, hing mit
ihrem Charakter als Schule” zusammen. Von den Sekten, welche auf Ramananda zu-
ckgehen, scheint gerade die seinen Namen führende, (die Ramanandi) in charakteri-
stischer Reaktion gegen die demokratischeTendenz seiner Reform, später den Zu-
tritt auf die vornehmen Schichten: die Brahmanen und die als Kschatriya klassifizierten
Kasten, beschränkt zu haben. Die angesehenste ramaistische Mendikanten - Schicht:
die Achari, sind sogar nur aus Brahmanen rekrutiert. Sie sind rein ritualistisch. Die Rai
Das Panthi andererseits aber, die von seinem Schüler, dem Chamar Rai Das gestiftete
Sekte, haben entsprechend ihrer sozialen Lage aus der Bhakti - Frömmigkeit den
sozialen caritativen Liebes -Akosmismus und aus der Gegnerschaft gegen die
Brahmanen die Ablehnung der Priestergewalt und der Idolatrie entwickelt.
Entsprechend der sozialen Lage dieser verachteten Berufskaste ist Traditionalismus
und ein Sichschicken in die unabänderliche Ordnung der Welt die Grundstimmung der
ziemlich zahlreichen Sekte
1
). Die Kon-
1
) Der Sache nach bestand ihre Religiosität bald wesentlich aus Dämonenglauben und “Bhakti” als
magischem Mittel. Ihre heiligen Bücher waren aus den Puranas kompiliert.
346
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [345]
sequenz des Quietismus haben die Maluk Dasis gezogen, hrend die Dadu Fanthi,
eine von einem Baumwollscher im 17. Jahrhundert gegründete Ramanandische Sek-
te, aus den Lehren des Bhagavadgita streng deterministische Konsequenzen zogen.
Weder Himmel noch Hölle soll man absichtsvoll suchen, da alles vorbestimmt ist, und
nur die Fähigkeit spiritueller Liebe zu Rama, die Unterdrückung der Begierden, der Il-
lusionen und des Stolzes gewährleisten den Gnadenstand und werden gepflegt. Neben
Bettelmönchen (Virakta) mit strenger Besitzlosigkeit haben sie eine Schicht, welche
den indischen Rajas Söldner (Naga) stellen und eine dritte (Bhistu Dhari), welche den
bürgerlichen Berufen nachgeht. Ihr Kult beschränkt sich fast gänzlich auf die formel-
hafte Anrufung Ramas. Die von Ramanandas Schüler Kabir gegründete, namentlich
unter den Weberkasten weit verbreitete Sekte der Kabir Panthi endlich leitete aus der
Ablehnung der brahmanischen Autorität und aller Hindu - Gottheiten und - Rituale eine
streng pazifistische, an das Quäkertum erinnernde und asketische Heilssuche ab:
Schonung alles Lebens, Vermeidung der Lüge, Meidung aller Weltlust. Hier wie im
Occident scheint das Textilhandwerk mit seiner Hausgebundenheit und Gelegenheit
zum Grübeln diese fast ganz rituallose Religiosität gefördert zu haben. Der hinduisti-
schen Provenienz aber entsprach es, daß sie nicht aktiv asketischen Charakter annahm,
sondern die andächtige Verehrung des Gründers als Nothelfer und den unbedingten
Gehorsam gegen die Gurus zur Kardinaltugend machte. Eine innerweltliche” autono-
me Lebensmethodik occidentalen Charakters war daher auch hier nicht möglich.
Einem Teil dieser Sekten war gradezu V e r a c h t u n g d e r w i r t s c h a f t -
l i c h e n A r b e i t gemeinsam. Natürlich vor Allem den spezifisch militaristischen.
Die Mendikanten und Asketen der neohinduistischen Religiosität haben nämlich auch
jene Erscheinung gezeitigt, welche sich in Asien vor allen bei den japanischen Buddhi-
sten, am konsequentesten aber bei den islamischen Derwischen entfaltet hat: den mön-
chischen Glaubenskämpfer, ein Produkt der Sekten - Konkurrenz und der Fremdherr-
schaft des Islam und dann der Engländer. Sehr viele Hindu - Sekten entwickelten den
Typus des “Naga”, des nackt, aber bewaffnet, den Glauben propagierenden, unter
scharfer Kontrolle eines Guru oder Gosain stehenden Asketen. Ihrer Kastenzugehörig-
keit nach waren sie teilsdemokra-
347
Hinduismus und Buddhismus. [346]
tisch”, teils, wie die Nagas der Dasu Panthi - Sekte, exklusiv auf wiedergeborene”
Kasten beschränkt. Sie haben den Engländern stark zu schaffen gemacht, aber auch
untereinander blutige Fehden ausgefochten. So fand 1790 unter Hindu - Herrschaft, ei-
ne Schlacht zwischen den çivaitischen Nagas, welche die Vairaghis von der großen
Messe von Hardwar ausschlossen, und diesen letzteren, die 18 000 Tote auf, dem Fel-
de gelassen haben sollen, statt. Ebenso griffen sie wiederholt englische Truppen an.
Zum Teil entwickelten sie sich zu Räuberbanden, die von Kontributionen der Bevölke-
rung lebten, oder zu Berufssöldnern
1
). Das bedeutendste Beispiel dieser Entwicklung
von Glaubenskämpfer - Orden waren die Sikh (“Schüler”, des Sektenstifters und der
ihm nachfolgenden Gurus nämlich), welche zeitweilig, bis zur Unterwerfung 1845,
Souveränität über den Panjab ausübten und dort einen in seiner Art grartigen reinen
Kriegerstaat geschaffen hatten. Ihre an sich sehr interessante Entwicklung soll hier
nicht verfolgt werden.
Für uns wichtiger sind vielmehr einige andere auf dem Boden der vischnuitischen Hei-
landsreligion stehende Sektenbildungen, vor allem diejenigen des Vallabha und einige
auf Schüler Chaitanyas zurückgehende. Alle waren Renaissancen der Orgiastik gegen
die brahmanische Alleinherrschaft der Kontemplation als Heilsmittel. Beide zeigen,
wie die Abwendung vom brahmanischen Ritualismus und der weltflüchtigen Kontem-
plation hier nicht zur aktiven innerweltlichen Askese, sondern zum Aufflammen i r -
r a t i o n a l e r Heilssuche hrte. Und zwar trotz der Einführung des überweltlichen
Gottes.
Die zu Anfang des 16. Jahrhunderts von dem Brahmanen Vallabha begründete Sekte
der Vallabhachari oder Maharadscha oder Rudra Samperadaya ist wenigstens dem
Schwerpunkt nach noch heute eine Händler- und Bankiers - Sekte, vornehmlich Nord-
westindiens, aber verbreitet über das ganze Land. Sie pflegt den Krischna - Kult, sucht
aber das Heil, in Opposition gegen die intellektualistische Tradition, nicht in Askese
oder Kontemplation, sondern in raffiniert sublimierten Krischna - Orgien, neben einem
strengen Zeremonialismus. Der Stifter lehrte, daß nicht Entbehrung, Einsamkeit,
Schmutz, Verachtung der Schönheit, sondern
1
) So in ausgeprägtem Maße die Nagar, welche die Masse der Çudra - Bevölkerung von Malabar
umften, ldner des Königs und daneben - kraft eines systematischen Beurlaubungsverfahrens -
Bauern waren. Ihr Bildungsstand war relativ hoch, sie waren (meist) Vegetarier und Verehrer
Krischnas und Ramas.
348
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [347]
umgekehrt die richtige Anwendung der Herrlichkeiten, Genüsse und Schönheiten der
Erde die Mittel seien, den Gott würdig zu verehren und die Gemeinschaft mit ihm zu
erlangen (die pushui marga, etwa: Diner - Heilslehre). Daneben steigerte er die Bedeu-
tung des Guru gewaltig durch die Vorschrift: daß nur in d e s s e n Hause gewisse
wichtigste Zeremonien in ltiger Art möglich seien. Ein achtmaliger Besuch täglich
war unter Umständem nötig. Er selbst hinterließ seinen Sohn Vittala Nath als Leiter,
dessen Söhne die Dynastie der Gurus in mehreren Branchen fortsetzten. Die vornehm-
sten sind die Nachkommen Gokula Naths, die Gokulastha Gosains. Der Tempel Steri
Nath Dwar in Ajmer ist das Zentralheiligtum der Sekte, zu dem jeder Gläubige einmal
im Leben wallfahrten soll (offenbar eine Nachahmung der Mekka - Pilgerschaft). Die
Macht der Gurus über die Laien ist gr: ein Skandalprozeß von 1862 in Bombay
brachten den Tag, daß sie gegenüber den weiblichen Gemeindemitgliedern gelegent-
lich das jus primae noctis praktizierten, und daß die heilige Begattung dabei nach altem
orgiastischen Brauch in Gegenwart von Gemeindegenossen sich vollzog
1
). Die Fleisch-
und Alkohol - Orgien wurden zu kulinarisch erlesenen Diners sublimiert und entspre-
chend die Sexualorgien. Es ist selbstverständiich, daß die Plutokratie: die reichen hin-
duistischen Händlerkasten, vor allem die Baniya, an dieser Art von Gottesdienst Ge-
schmack fanden und finden. Ein außerordentlich großer Teil von ihnen gehört dieser
sozial ziemlich exklusiven Sekte an
2
). Es zeigt sich hier schlagend: daß asketische Re-
ligiosität ganz und gar nicht, wie immer wieder behauptet wird, aus dem immanenten
Wesen” des bürgerlichen Kapitalismus und seiner heruflichen Vertreter f o l g t , - im
Gegenteil. Die Baniyas, “die Juden Indiens”, stellen ja
3
) das Hauptkontingent dieses
ausgesprochen anti - asketischen, teils hedonischen, teils zeremonialen Kults. Die
Heilsziele und Heilswege sind abgestuft. Dem Bhakti - Prinzip entsprechend kommt es
aufpusti”, die Gnade, allein an. Das auf deren Erlangung
1
) Die Gosains dieser Kaufmanns - Sekte zeichnen sich durch Reellität insofern aus, als sie feste Tari-
fe für ihre Darbietungen haben, z. B. etwa für die Erlaubnis, das Badewasser des Guru zu trinken
17 Rupien, für das Privileg: “being closeted with him in the same room”: 50 - 100 Rupien (Jogen-
dra Nath Battacharya a. a. O. p. 457).
2
) Zugelassen sind im Prinzip alle Kasten außer den Schustern, Schneidern, Wäschern und einer nie-
deren Barbierkaste. Faktisch sind nur reiche Leute, wesentlich Banya dabei.
3
) Insbesondre die Gujarati und Rastogi Banya.
349
Hinduismus und Buddhismus. [348]
gerichtete pustibhaktikann bloße innerweltliche rituelle Werkgerechtigkeit (pravaha
- pustibhakti) sein, oder dauernde Devotion im Dienst des Gottes (maryada - p.), wel-
cher zu sayujya” führt, oder Erlangung des heilsbringenden Wissens” aus eigener
Kraft (pusti - p.), oder endlich es kann die Erlösung durch reine Gnade dem inbrünstig
Gläubigen gegeben werden (suddha - p.): dann erlangt man das Paradies und ewige
Wonne bei Krischna. Ethisch rational ist keiner dieser Heilswege.
So wenig der “Geist” dieses Kults der brahmanischen Tradition entspricht, so haben
sich doch relativ vornehme Brahmanen, wie die Derschaschth, angesichts der überaus
fetten Pfnden, welche die Stellen an den Tempeln der Sekte darstellen, zu deren Ue-
bernahme bereit finden lassen. Die eigentlichen spirituellen Patriarchen der Gemein-
den, die Gosains, sind zwar verehelicht, aber dem allgemeinen Typus entsprechend zu
fortwährenden Inspektionsrsisen in ihren Sprengeln verpflichtet. Da sie selbst meist
gre Geschäftsleute sind, so gestattet dieses ambulante Leben ihnen die Anknüpfung
und Abwicklung von Geschäftsverbindungen. Die feste interlokale Organisation dieser
Sekte überhaupt ist dasjenige Moment, welches unmittelbar den geschäftlichen Opera-
tionen ihrer Mitglieder zugute kommt.
Nächst den Parsi und den Jaina, aber aus gänzlich anderen Gründen als diese, umfas-
sen sie die größte Zahl ganz großer hinduistischer Geschäftsleute.
Der Ausschlder Unterkasten aus der Vallabhachari - Sekte, außerdem aber der gro-
ße Aufwand, den ihre pushui - marga erforderte, gab der von Swami Narayand gestif-
teten, ganz wesentlich moralistischen, Sekte die Möglichkeit, ihnen in den untern, aber
auch in den Mittelstandsschichten neuerdings erheblich Abbruch zu tun.
Genau entgegengesetzt den Vallabhacharis entwickelte sich andererseits die Krischna -
Orgiastik im östlichen Nordindien in einer Anzahl von Sekten, welche ihren Ursprung
auf den zu Anfang des 16. Jahrhunderts lebenden Brahmanen Chaitanya zurückführen.
Er selbst, anscheinend ein epileptoider Ekstatiker, lehrte die Identität von Krischna mit
Parmaturu, dem unerschaffenen Weltgeist, der sich unaufhörlich in zahllosen endlichen
Erscheinungen manifestiert. Sein gres neues Zugmittel war Sankirtan, die große Sing
- Prozession, die namentlich in den Großstädten zu einem Volksfest ersten Ranges
wurde. Panto-
350
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [349]
mimische oder dramatische Tänze traten dazu. Vegetarismus und Alkoholabstinenz
hielten wenigstens die oberen Schichten, zu denen namentlich die Kayasth (Schreiber)
und die Satsudra (rituell reine Gewerbe), in Orissa z. B. aber auch die alte Brauerkaste
(jetzt meist Kaufleute) bedeutende Kontingente stellten, aufrecht. Das Prinzip der erb-
lichen Guruschaft bestand auch bei dieser Reformsekte. Sie ist die populärste, welche
wenigstens Nordindien, vor allem Bengalen, kennt. Im Gegensatz zur Tantristik fehlt
ihr eben jegliche Esoterik, im Gegensatz zu den vornehmen Intellektuellenschichten al-
ler Bedarf nach heiligem Wissen (kein Sanskrit !). Die Bhakti -Andacht kann jeder oh-
ne Hilfe praktizieren. In der Massenreligiosität herrscht krasse Sexualorgiastik. Die
Zugehörigen der aus den unteren Kasten rekrutierten chaitanitischen Sekten bilden die
ziffermäßig bedeutendste Schicht von Vischnuiten (in Bengalen 10 - 11 Millionen) und
pflegen sämtlich die orgiastische Anrufung Krischnas (Hari, Hari, Krischna) und Ra-
mas, daneben aber - wenigstens die meisten von ihnen - die Sexualorgie als Hauptmit-
tel der Selbstvergottung, als welche namentlich die Baul sie verabsolutierten. Den Sa-
haya galt, bei der Sexualorgie, jeder Mann als Krischna, jedes Weib als Radha (seine
Favoritin), die Spashta Dayaka hatten intersexuelle Klöster als Stätten der Sexualorgie.
In minder ausgeprägter Form finden sich Reste der Krischna - Orgien auch sonst. In
einer Anzahl von Kulten, welche noch heute als allgemeine Volksfeste in fast ganz
lndien, und zwar nicht nur von vischnuitischen Sekten, gefeiert werden, bildet neben
Krischna salbst namentlich Radha, deren Liebesleben mit ihm im 10. Buch des Bhaga-
vata Purana - entsprechend dem Hohen Lied” im Alten Testament - als Symbol der
gegenseitigen mystischen Liebe der göttlichen und menschlichen Seele erzählt ist, den
Mittelpunkt. Sie werden mit Gesang, Tanz, Mimus, Konfetti und Rudimenten sexual-
orgiastischer Freiheiten begangen.
Konsequenzen im Sinne einer Bewertung rein i n n e r w e l t l i c h e n Handels als
Heilswegs haben anscheinend nur einige verschwindend kleine vischnuitische Gemein-
schaften gezogen. Am ersten könnte dies bei den von H. H. Wilson
1
) erwähnten Mad-
hava sein, Anhängern der vom Brahmanen (und Minister des Königs Vijayanagar)
Madhava, Abt von Shringeri
1
) Rel. Sects of the Hindus, London 1861. Es standen mir die Quellen nicht zur Verfügung.
351
Hinduismus und Buddhismus. [350]
im 13. oder 14. Jahrhundert begründeten Lehre. Er war
1
) Vischnuit, Gegner des Ve-
danta und Anhänger der unklassischen ramaistischen Dwaita - (dualistischen). Doktrin.
Auch bei ihm ist natürlich Dualismus nicht der Gegensatz zwischen Gut” und Böse”
oder zwischenGott” und Kreatur”, sondern zwischen vergänglichem Leben und
ewigem Sein. Allein nicht das ewige Sein ist das - r das Streben der Menschen we-
nigstens - Reale, sondern gerade umgekehrt: das Leben. Es ist ewig und unentrinnbar.
Eine Absorption in das formal ewige Seinim Sinn der brahmanischen Lehre, na-
mentlich des Vedanta, gibt es für den Menschen nicht. Damit fallen alle Voraussetzun-
gen der brahmanischen Soteriologie. Innerhalb d i e s e s Lebens hat der Mensch sich
sein Heil zu schaffen. Eine Selbstvergottung ist unerreichbar, ein Aufgehen in der Ein-
heit mit dem Göttlichen unmöglich, da der ewige Gott absolut überweltlich und über-
menschlich ist. Yoga und alle Exerzitien der Intellektuellen - Soteriologien sind sinn-
los: der Gott spendet seine Gnade dem richtig Handelnden. Damit scheint die Bahn r
eine Ethik des aktiven innerweltlicllen Handelns im Sinn des Occidents frei. Indessen
gilt auch hier Meditation als der höchste Heilsweg und “interesseloses” Handeln als al-
lein sündlos. Es blieben eben die allgemeinen Voraussetzungen der hinduistischen
Theodizee: Samsara und Karman, bestehen. Ueberdies auch die absolute Autorität des
mit dem heiligen (vedischen) Wissen ausgerüsteten Seelsorgers über den Gläubigen. Ja
das Charisma der qualifizierten Gurus ist gerade in dieser Lehre aufs äußerste gestei-
gert und als ein persönlicher, an qualifizierte Reflektanten verpfändbarer und verkäuf-
licher Besitz behandelt worden
2
). Die unbedingte Hingabe an den Guru gilt als r die
Laien - Erlösung unumgänglich: lediglich von ihm, nicht aus chern, hat man Kennt-
nisse zu erwerben.
Die Stellung des G u r u gegenüber dem Gläubigen war über-
1
) S. über ihn Balfours Cyclopaedia of lndia Vol. lI, p. 766.
2
) Geographisch verbreiten sich - um auch dies zu erwähnen - die vischnuitischen - im Verhältnis zu
den universell verbreiteten çivaitischen - Sekten so, daß die Anhänger Ramanujas und Madhavas
besonders im Dekkan, die anderen besonders in Vorderindien und zwar die Vallabhas insbesonde-
re im Westen, die Chaitanyas in Bengalen, die eigentlichen “Ramas”, die Ramanandi - Sekten also,
in Nordindien im allgemeinen verbreitet sind. Diese geographische Verteilung ist, soviel ersicht-
lich, wesentlich durch politische Umstände bedingt gewesen. Die relativ schwächere Vertretung
der vischnuitischen Sekten im Süden hat ihren Grund darin, daß der Peschwa (s. o. I, S. 662) im
Mahrattenreich ein Çivait war.
352
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [351]
haupt derjenige Zug, welcher in den weitaus meisten seit der brahmanischen Restaura-
tion entstandenen hinduistischen Gemeinschaften beherrschend hervortrat. Vorgebildet
war diese Stellung ja in der absoluten Autorität des vom Schüler (bramacharin) fußfäl-
lig zu verehrenden Lehrmeisters (guru) in den Veden. Indessen damals eben nur r
den internen Schulbetrieb. Diese alten vedisch gebildeten Gurus, von denen noch die
Rechtsbücher sprechen, welche als Hauskapläne von Königen und Adligen und als
Hauslehrer ihrer Söhne die vornehme Bildung der Kschatriya - Zeit vermittelten, waren
aber seit den Kirchenreformen des Neo - Brahmanismus durch eine oft wesentlich ple-
bejischere minder literarische Mystagogen- und Seelsorgerschicht ersetzt, obwohl ge-
rade darin Sankaracharya hatte reformieren wollen. Denn dies: die Schaffung geschul-
ter und klösterlich organisierter wandernder Mendikanten einerseits und die universelle
Durchführung der Guru - Verfassung waren ganz offenbar - neben der Verbindung mit
den Höfen - die Mittel, durch welche die Brahmanen siegten. Ganz ähnlich wie die
Gegenreformationskirche durch Steigerung der Intensität der Beichte und Ordensgrün-
dung ihre geistliche Herrschaft über die Massen neu aufrichtete, brachen diese Mittel
die Konkurrenz der Jaina und Buddhisten. Zunächst wenigstens waren die überwie-
gende Mehrzahl der Mendikanten und Gurus Brahmanen oder doch ganz in deren
Hand. Im wesentlichen ist es auch heute so. Die teilweise rstlichen Einkünfte, wel-
che die Gurus gerade der Massensekten bezogen, mußten das Widerstreben der Brah-
manen gegen die Uebernahme solcher Stellungen stark vermindern. Nicht die neuen
Lehren, sondern die Universalität der Guru - Autorität war also das Kennzeichen des
restaurierten Hinduismus. Er war - ganz abgesehen von den Krischna - und Rama -
Kulten, die er sich einverleibte - Heilands- Religiosität noch in einem andren sehr
besonderen Sinn. Er bot den Massen den leibhaftigen, l e b e n d e n Heiland: den
Nothelfer, Berater, magischen Therapeuten und vor allem: dasAnbetungsobjekt, in Ge-
stalt des, sei es durch Nachfolgerdesignation, sei es erblich, seine Würde übertragen-
den Guru oder Gosain. Alle Sektenstifter wurden vergöttlicht und ihre Nachfahren
wurden und sind Gegenstand der Anbetung. Die Guruschaft galt jetzt als die typische
Stellung des Brahmanen. Der Brahmane ist als Guru lebender Gott (Tha - kur). Kein
korrekter Çudra wird versäumen, Wasser zu trinken,
353
Hinduismus und Buddhismus. [352]
in welches ein Brahmane seine Zehe getaucht hat, oder sich Bissen von den Ueber-
bleibseln auf seinem Teller zu verschaffen. Der Genuß der Exkremente des Guru im
Gayatri - Kriya - Sakrament (angeblich bei der Satnami - Sekte, einer Kschatriya -
Gründung in Nordindien, sogar noch vor kurzem im Gebrauch) war nur ein äußerster
Fall. Der in einem Gebiet leitende Guru ersetzte den Bischof der abendländischen Kir-
che, visitierte in Begleitung seines Gefolges seinen - traditionellen oder auch ausdrück-
lich gesicherten - Sprengel, exkommunizierte im Fall grober Sünden, erteilte die Abso-
lution gegen Buße, erhob die Abgaben von den Gläubigen und war in allem und jedem
Betracht die entscheidende beratende und beichtväterliche Autorität. Jeder Sekten -
Gläubige hatte seinen Guru, der ihm den religiösen Unterricht erteilte, ihn dann durch
Mitteilung der Mantra (Gebetsformel) und Bezeichnung mit den Sektenmerkmalen
durch Brandmarkung oder Bemalung in die Sekte aufgenommen hatte und an den er
sich in allen Lebenslagan um Rat wendete. Bei den Krischna - Sekten wurden die Kin-
der mit 6 - 7 Jahren dem Guru zugeführt und ihnen der Rosenkranz umgelegt. Mit 12
bis 13 Jahren erfolgte die der Konfirmation entsprechende (samupana-) Zeremonie, r
welche die alte Form der Umrtung mit der heiligen Schnur (die Samavartana - Zere-
monie) den Ritus abgab: dem Sinne nach aber war sie die Weihe des eigenen Leibes an
Krischna. Oekonomisch, sahen wir, wurden die Guru - Sprengel teilweise als persönli-
ches Eigentum der Gurus betrachtet, nicht nur - wie meist - vererbt, sondern auch ver-
äußert, wie die jajmanieines Handwerkers. Religiös ersetzte die Verehrung des Gu-
ru gerade bei den Massen oft alle andere Heilandsreligiosität: der lebende Heiland oder
Gott inmitten der Gläubigen ersparte alle transzendenten Anbetungsobjekte. Das prak-
tische Maß der Guru - Autorität in Dingen der Alltagslebensführung war und ist bei
den einzelnen Sekten zwar verschieden, aber sehr begreiflicherweise gerade bei den
spezifisch plebejischen Sekten meist ganz besonders groß. Daß die Institution auch he-
terodoxen Mystagogen die Chance bot, sich als Seelenleiter aufzutun und Anhänger
um sich zu sammeln, - namentlich seit die Stütze der Regierung den Brahmanen fehlte
- mußten die hinduistischen Reformatoren mit in den Kauf nehmen. Im ganzen bedeu-
tete diese Plebejisierung der brahmanischen Lehrer eine ganz ungeheure Stärkung ihrer
Macht. In den Tagen der islamischen Fremdherrschaft und Verfol-
354
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [353]
gung zumal waren die Gurus r die Massen der Hindu ebenso die feste Stütze in aller
inneren und folglich auch äußeren Not, wie die Bischöfe der katholischen Kirche in der
Zeit der Völkerwanderung und schon vorher.
Mit dieser plebejisierenden Entwicklung hängen jene starken Verschiebungen in der
Stellung und Gliederung des Brahmanentums zusammen, welche sich seit der Restau-
ration vollzogen haben
1
). Der vornehme Brahmane der Frühzeit war Hauskaplan eines
Königs (purohita) oder eines Adligen wie dies sich namentlich im Rajputana erhalten
hat. An Würde gleich stand der Purohita - Stellung die des selbständigen Lehrers von
Abkömmlingen von Brahmanen und, demnächst, von Adligen, der durch dakshina”
entgolten wurde. Dakshina durfte und darf ein Brahmane hoher Kaste nur von vorneh-
men Kasten nehmen
2
). Andrerseits beanspruchten das Monopol des Nehmens von
Dakshina von den vornehmen Kasten die nach ihrem Kastenrang vornehmen u n d
v e d i s c h g e b i l d e t e n (Vaidika-) Brahmanen (daher Dakshinacharas ge-
nannt). Die mittelalterliche Entwicklung brachte, wie wir sahen, die großen Pfründen-
stiftungen der Fürsten und Adligen r ritualkundige Brahmanen, deren rituelle Dien-
ste, Schrift- und Verwaltungskunde und Lehrkräfte dadurch r den Bedarf des Fürsten
und seines Adels sichergestellt wurden. Auch die Fähigkeit, solche Lehen r rituelle
und Unterrichts - Dienste zu empfangen, wurde natürlich von den Vaidika - Brahma-
nen vollen Kastenrangs monopolisiert. Oft war sie den als bhikkschu lebenden vorbe-
halten, welche jedoch nicht selten trotz Beibehaltung dieser Bezeichnung später - wie
bei den Buddhisten die Bonzen - zu einem Weltklerus ohne Zölibat wurden, den
eben nur die Abstammung und vedische Schulung von den Laukika oder Grihastha ge-
nannten Laien - Brahmanen unterschied, die an der Pfründenfähigkeit nicht teilnahmen.
Unter diesen Laien - Brahmanen waren die vornehmsten diejenigen, welche weltliche
Lehen r Leistungen im Verwaltungsdienst empfingen, wie z. B. die Bhuinhar -
Brahmanen (von Bhum, Landlehen) in Bihar und Benares, ander-
1
) Die entscheidenden Tatsachen findet man am bequemsten bei Jogendea Nath Bhattaeharya a. a. O.
2
) Aeußerste Grenze sind für Brahmanen, die nicht als völlig degradiert angesehen werden wollen,
die “Satçudra” - Kasten, deren Gaben unter Umständen - in Bengalen, wenn sie hinlänglich
g r o ß sind ! - genömmen werden dürfen. Stets aber sind die “Açudra pratigahi”, die nie vom
Çudra nehmenden, die vornehmsten und verachten die “Çudra yajaka”.
355
Hinduismus und Buddhismus. [354]
wärts ähnliche Schichten. Degradiert waren, wie früher erwähnt, alle Tempelpriester
(in Bengalen: Madhya genannt). Teils deshalb, weil ihre subalternen Manipulationen
keine vedische Schulung voraussetzten, die ihnen denn auch meist fehlte, teils aber
auch, weil sie von Gaben unvornehmer, oft unreiner Kasten, oder von solchen von
fremden Pilgern unsicherer Reinheit lebten
1
). Innerhalb der Vollbrahmanen nahmen ei-
ne hohe, nach ihren eigenen Ansprüchen die höchste, Rangstellung ein die Pandits: re-
spondierende Sakraljuristen und Richter, deren höchster in der Zeit vor der Fremdherr-
schaft oft r den ersten Mann des Landes galt. Die Stellung hat sich in der Restaurati-
onsperiode, und zwar anscheinend wie so viele andere hinduistische Institutionen von
Kaschmir her, entwickelt. Mit ihnen konkurrierten an Macht die Superioren der gren
charismatischen KIöster, deren Srimukh (Dekret, dem Fetwa” des islamischen
Mufti entsprechend) für die Anhänger der betreffenden Lehre in verbindlicher Art Ri-
tualfragen
2
) entscheidet, - aber eben nur innerhalb der betreffenden, freilich unter Um-
ständen eine Mehrzahl von Sekten
3
) umfassenden, Lehrgemeinschaft.
Bei allen diesen althistorischen brahmanischen Machtstellungen war der Besitz des
heiligen W i s s e n s diejenige Qualität, welche das Monopol auf die geistlichen
Pfründen der verschiedenen Arten verlieh, bildete das profanjuristische Wissen und die
Literatenqualität als solche diejenige Eigenschaft, welche auf die weltlichen Stellungen
Anspruch gab.
So stehen unter den studierten Bikkshu - Dershashths in Maharashthra neben den Vai-
dika die Çastri (Juristen), welche dort untereinander und mit den Jotishi (Astrologen),
Baidya (Medizinern), Puranika (Rezitatoren der Purana) im Range gleich stehen.
Nächst dem heraldischen Rang
4
) entscheidet der damit oft, aber nicht immer, zusam-
menfallende
5
) traditionelle Grad
1
) So die überaus reichen Priester gewisser berühmter Wallfahrtsheiligtümer in Benares.
2
) So entschied ein Srimukh des Abts von Shringeri über die Zngehörigkeit einer bestimmten Gruppe
Mysorescher Brahmanen zur Kaste.
3
) Shringeri z. B. alle orthodox çivaitischen in Südindien, für welche das Kloster auch die Exkommu-
nikationsgewalt in Anspruch nimmt.
4
) So der Zugehörigkeit zu den Sapta Sati, den 7 vor König Adisaur (9. Jahrh.). in Bengalen einge-
wanderten Sippen, oder den “Panch Gaur”, den vornehmsten 5 aller nordindischen Sippen.
5
) Bei den hochadligen Kulin - Brahmanen in Orissa z. B., die aus den ausschlilich von Vaidika
bewohnten 16 shashan - Dörfern (alten Königsstiftungen) stammen, gilt die Sanskritbildung als
mittelmäßig.
356
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [355]
der Veda- und Sanskrit - Schulung über die soziale Schätzung. Demnächst der Grad
esoterischen, namentlich also tantristischen Wissens”, einer wichtigen Machtquelle
namentlich çivaitischer Brahmanen. Die Yoga - Schulung gibt dagegen heute z. B. in
dindien (Telinga), wo sie sich bei Brahmanen (Niyogin) häufig findet, ebenso wie
sonst keine Qualifikation für Pfründen
1
). Ganz einheitlich ist die Scheidung von geistli-
chen und Laien - Brahmanen nicht
2
). Die Qualität der kultischen Prozeduren wirkt auf
den Rang je nach deren ritueller Unbedenklichkeit: in Bengalen, Orissa, Mithila und im
Panjab sind gerade vornehme Brahmanen Saktis, jedoch durchweg in der gemäßigten
Form, welche zwar die Teilnahme an blutigen Opfern, nicht aber am Alkohol- und Ta-
bak - Genuß einschließt. Die extremen”, d. h. Alkoholgenießenden, Sakti - Brahma-
nen z. B. in Sindh und Maharashtra gelten als niederen Ranges. Daß in Südindien die
vornehmen dravidischen (Dravira-) Brahmanen fast alle Çivaiten sind, hat rein histori-
sche Gründe; in Rajputana sind gerade die vischnuitischen Srimali besonders vornehm
(weil rein arisch). Degradierend wirken nur diejenigen Formen des Vischnuismus, wel-
che den Sanskrit aufgegeben haben oder welche dakshina von niederen Kasten neh-
men, was beides meist zusam- mentrifft. So namentlich die Stellung als chaitanitischer
Guru trotz Alkoholabstinenz
3
). Zwar in Orissa stehen die chaitanitischen (Adhikari-)
Brahmanen an Rang zwischen den Vaidika- und den Laien - Brahmanen - unter denen
es dort eine rituell befleckende Unterkaste (die Mathan) gibt - in der Mitte. Aber in al-
ler Regel ist der Brahmane als chaitanitischer Guru degradiert, sowohl weil ihm das
vedische und Sanskrit - Wissen, wie die tantristische Esoterik entbehrlich ist und fehlt,
als weil er (meist) dakshina von allen (oder doch fast allen) Kasten nimmt. Diese popu-
lären vischnuitischen (hauptsächlich auf Ramananda und Chaitanya zurückgehenden)
Sekten verschoben nun die Stellung der Brahmanen auf das nachhaltigste. Zunächst,
indem sie jenes an sich schon geringe Maß einheitlicher Organisation, welches für den
orthodoxen Çivaismus die Arbeit namentlich Sarkaracharyas
1
) Dagegen können dort diese als “Niyogin” von den Vaidika geschiedenen Brahmanen Priester sein.
2
) In Nordindien nnen vielfach auch “weltliche” Brahmanen, als Gurus, dakshina empfangen (stets
handelt es sich um Brahmanen niederen Ranges).
3
) Die alte bengalische Brauerkaste (jetzt meist Kaufleute) war abstinent und chaitanitisch.
357
Hinduismus und Buddhismus. [356]
geschaffen hatte, für den Vischnuismus völlig sprengten. In Nordindien fehlt schon
dem dort schwächeren Çivaismus ein solches geistliches Oberhaupt, wie r Südindien
der Abt von Shringeri, neben ihm einige andere Klöster, immerhin sind; denn die
Machtstellung von Sankeshwar scheint auf einige vornehme Brahmanen - Kasten be-
schränkt zu sein. Der Vischnuismus, namentlich der chaitanitische Massenvischnuis-
mus, entbehrt dessen völlig. Jede einmal anerkannte Guru - Dynastie bildet eine
(meist) erbliche hierokratische Gemeinschaft für sich. Neben diese zunehmende Sekten
-Zersplitterung trat die Aenderung der Art der Machtmittel. Vedisches Ritualwissen,
tantristische und saktistische Esoterik als Grundlage der charismatischen Machtstel-
lung fielen bei den demokratisch” orientierten Sekten fort. Emotionale konfessionelle
Agitation und Konkurrenz in der Oeffentlichkeit mit ihren spezifisch plebejischen Mit-
teln der Werbung und Kollekte: neben Prozessionen und Volksfesten auch kollektie-
rende Wanderkarren und ähnliche Veranstaltungen, traten an die Stelle. Die Zunahme
der Zahl der Kleinbürger und proletaroiden Massen und die Zunahme des Reichtums
der bürgerlichen Schichten in den Städten steigerten die Erwerbschancen der an sie
sich wendenden Guru - Demagogie. Die tiefe Verachtung der vornehmen Brahmanen
gegen diese Konkurrenz konnte ihnen die bittere Erfahrung nicht ersparen, daß aus ih-
ren eigenen Kreisen die Neigung zum Ueberlaufen vom Lager der Tantristik und son-
stigen Esoterik zum Vischnuitentum wuchs. Die Autorität der Pandits, ebenso wie die
Benutzung der vornehmen gebildeten sankaritischen und anderen als vollklassisch gel-
tenden Brahmanen als Gurus nahm mindestens relativ ab zugunsten der mindestens re-
lativ aliterarisch (d. h. nicht Sanskritgebildeten) Hierarchen der Masse
1
). Gerade die
durch die englische Herrschaft allmählich propagierte kapitalistische Entwicklung hat -
mit ihrer Schaffung ganz neuer Quellen der Vermögensakkumulation und des ökono-
mischen Aufstiegs - diese Umwälzung stark gefördert. Die alte Anrede Thakur”,
Gott”, r den Brahmanen ist nicht nur abgebraucht, sondern überdies auch entwertet
dadurch, daß heute nur der Guru der
1
) Das Ressentiment darüber spricht deutlich genug aus dem zitierten Buch J. N. Bhattacharyas, eines
Ober - Pandit, loyalen Anhängers der englischen Herrschaft und der Kastenordnung und Veräch-
ters der plebejischen Gurus.
358
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [357]
plebejischen Sekten es ist, der ernstlich und wirklich wie ein Gott verehrt wird.
Diese Entwicklung hat überall da, wo die neohinduistischen Heilsmittel sich mit den
buddhistischen verbunden haben, - was besonders intensiv bei der (namentlich in Java
verbreiteten) yogistisch und mantristisch beeinflußten Mantrayana - Schule der Fall ist,
- auch diese ergriffen: die Autorität des hinayanistischen Guru war in den Missionsge-
bieten ohnehin schon groß und die unbedingte Obedienz gegen ihn wurde nun zum ab-
soluten Erlösungsmittel gesteigert
1
).
Diese göttliche oder gottähnliche Stellung des Guru ist gerade auch bei denjenigen
hinduistischen Sekten, welche alle Idolatrie und alle andern irrationalen, ekstatischen,
orgiastischen oder rituellen Kultmittel radikal beseitigten, sehr oft am allerstärksten
entwickelt, wie wir sahen. A n b e t u n g d e s l e b e n d e n H e i l a n d s war
also das letzte Wort der hinduistischen Religionsentwicklung.
Der Unterschied gegenüber der katholischen Anstaltskirche war bei dieser Organisati-
on, äußerlich angesehen: einmal, daß Mönche und charismatische oder erbliche My-
stagogen die ausschließlichen Träger waren. Dann: ihre formale Freiwilligkeit. Ganz
wie in China vollzog sich die Entstehung der nicht vom Fürsten r die offiziellen Op-
fer oder r Brahmanenschulen gestifteten Tempel regelmäßig im Wege der Subskrip-
tion und der Bildung eines Komitees, welches die äußere Ordnung und die Führung der
Wirtschaft in die Hand nahm. Unter den hinduistischen Fürsten war diese Art der Stif-
tung neuer Kulte schwerlich die vorwiegende. Unter der fremdgläubigen Fremdherr-
schaft aber wurde sie die fast ausschließliche äußere Form der Propaganda der Sek-
tenkulte und diese gerieten dadurch in stärkstem Maß unter die Herrschaft der bürger-
lich erwerbenden Schichten und gewannen nun auch ökonomisch erst die Möglichkeit,
sich vom offiziellen orthodoxen Brahmanentum zu emanzipieren oder dies zu zwingen,
sich ihnen zu akkommodieren. Die Inschriften
1
) S. dazu J. S. Speyer, Z. D. M. Z. 67 (1913) S. 347 über die Edition des Sang Hyang Kamehâyâni-
kam von I. K a t z (Kon. hist. v. d. Taal-, Landen Volkenkunde v. Ned. Indie (1910). Die budd-
histische Ethik ist bis auf Rudimente (statt der Mönchskeuschheit z. B. Verbot der Begattung in
der Nähe heiliger Objekte !) verschwunden. Wer prajña (die höchste Weisheit) durch puja (Vereh-
rung Buddhas), Yoga, Meditation über die mantra und unbedingten Gehorsam gegen den Guru
erlangt hat, dem ist kein Gen verboten (Strophe 37 des Gedichts.)
359
Hinduismus und Buddhismus. [358]
zeigen, daß diese Organisationsform seit langen Jahrhunderten bis heute typisch die
gleiche geblieben ist. Ebenso typisch die gleiche blieb die spirituelle Herrschaft der
Gurus. Auch die politische Macht dieses Klerus war selbstverständlich groß. Der
Mendikanten bedienten sich die Könige als Spione (ein solcher Asket spielt in der
Frühgeschichte von Bombay eine typische Rolle), der Brahmanen überhaupt als ihrer
Beamten und Berater. Festzustellen ist, daß offenbar die äußersten Konsequenzen der
Guru -Verehrung erst in den letzten 5 - 6 Jahrhunderten gezogen worden sind. Und das
ist begreiflich. Sowohl die Könige wie die brahmanische Weltpriesterschaft hatten ein
Interesse daran die Gewalt der Mystagogen und Magier, des Mönchtums überhaupt,
nicht ins Ueberm anwachsen zu lassen. Sie haben die Macht der Sektenhäupter,
auch wo sie sich ihrer zur Domestikation der Massen bedienten, sich nicht über den
Kopf wachsen lassen. Erst die islamitische Fremdherrschaft, welche die politische
Macht der vornehmen Hindukasten brach, gab der Entwicklung der Guru - Gewalt
freie Bahn und ließ sie zu ihrer grotesken Höhe anwachsen. Diese Entwicklung der
Guru - Gewalt zur Menschenvergottung kann lehren: welche gewaltige Bedeutung im
Occident die Entwicklung der Papstgewalt gehabt hat. Sie hat zunächst die Mönchs-
kirchen des Missionsgebietes, die irische und ihre Ausläufer vor allem, unterworfen,
indem sie sie zugleich legitimierte: sie nahm die Ordensgründungen, der Mönche in ih-
re straffe amtliche Disziplin. N i c h t der persönliche überweltliche Gott, den die
Hindugläubigkeit gerade der Sekten ja auch kannte, sondern das Erbteil des antiken
Rom: die bischöfliche A m t s kirche, hat die in Indien eingetretene Entwicklung des
Mönchtums zur Menschenanbetung verhindert. N i c h t , wohlgemerkt, die starke
hierarchische Macht des Papsttums als solche - denn auch der Dalai Lama ist und die
gren Klostersuperioren der Sekten Indiens waren höchst machtvolle Hierarchen.
Sondern der r a t i o n a l e A m t s - Charakter der Verwa1tung war das Entschei-
dende und gegeber dem persönlichen oder Erbcharisma der Gurus Unterscheidende.
Davon wird später zu sprechen sein. -
Zu der ritualistischen und traditionalistischen inneren Gebundenheit durch die Kasten-
ordnung und deren Verankerung an der Samsara- und Karman - Lehre, - an welcher
keine irgend
360
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [359]
in Betracht kommende Sekte gerüttelt hat
1
), - trat also noch die religiöse Anthropola-
trie der hinduistischen Laien gegenüber dem naturgemäß streng traditionalistischen
charismatischen Klerus der Gurus hinzu, um jede Rationalisierung der Lebensführung
von innen heraus zu hindern. Es war ganz offensichtlich gar nicht daran zu denken, daß
eine durch solche inneren Mächte beherrschte Gemeinschaft jemals aus ihrer Mitte das
hätte gebären können, - was wir hier unter Geist des Kapitalismus” verstehen. Selbst
die Uebernahme des ökonomisch und technisch fertigen Gebildes als Artefakt, so wie
sie die Japaner vollzogen haben, stieß offenbar und ganz begreiflicherweise hier, trotz
der englischen Herrschaft, auf ganz bedeutende und offenbar größere Schwierigkeiten
als in Japan. Wenn heut die Durchdringung der indischen Gesellschaft mit kapitalisti-
schen Interessen schon eine so tiefgehende ist, daß sie wohl nicht mehr auszurotten
wäre, so konnten vor wenigen Jahrzehnten noch hervorragende englische. Kenner des
Landes mit guten Gründen die Ueberzeugung vertreten: daß beim Wegfall der dünnen
europäischen Herrenschicht und der von ihr erzwungenen pax Britannica unter den auf
Tod und Leben verfeindeten Kasten, Konfessionen und Stämmen die ganze alte feuda-
le Räuber - Romantik des indischen Mittelalters wieder ungebrochen ins Leben treten
würde.
Machen wir uns noch einmal klar, welche geistigen” Elemente, außer der Kastenge-
bundenheit und der Guru - Herrschaft über die Massen, den ökonomisch und sozial
traditionalistischen Zug im Hinduismus begründeten. Neben der autoritativen Gebun-
denheit war es innerhalb der Intellektuellenschicht vor allem das Dogma von der Un-
abänderlichkeit der Weltordnung, welches allen orthodoxen und heterodoxen hinduisti-
schen Denkrichtungen gemeinsam war. Die Weltentwertung, welche jede Erlösungsre-
ligion mit sich führt, konnte hier nur absolute Weltflucht werden, ihr höchstes Mittel
nicht aktive Askese des Handelns, sondern mystische Kontemplation. Das Prestige
dieses Heilsweges als des höchsten von allen ist durch keine der massenhaften und un-
tereinander so verschiedenen ethischen Lehren
1
) Den sehr starken S c h i c k s a l s - Glauben bezeugt neben ausführlichen Legenden, welche
die Unentrinnbarkeit des Verngnisses zum Thema haben, auch die Spruchweisheit (bei
L i e b i c h , Sanskrit - Lehrbuch, Leipzig 1905 z. B. S. 274 /5, Nr. 87, 80, 93). Allein
K a r m a n : die vorgetanen Werke aus dem früheren Leben, b e s t i m m e n eindeutig das
Verhängnis, welches dann über Menschen sowohl wie ttern steht (ebenda Nr. 88, 93, 96,
101).
361
Hinduismus und Buddhismus. [360]
wirklich gebrochen worden. Immer blieb die Außeralltäglichkeit und Irrationalität der
Heilsmittel bestehen. Entweder waren sie orgiastischer Natur und lenkten also ganz
unmittelbar in antirationale, jeder Lebensmethodik feindliche Bahnen ein. Oder sie wa-
ren zwar rational in der Methodik, aber irrational im Ziel. Die “Berufs” - Erfüllung
aber, welche z. B. in höchster Konsequenz das Baghavadgita forderte, war organi-
schen
1
) und das heißt: streng traditionalistischen, Charakters und dabei mystisch ge-
brochen: ein Handeln in der Welt, aber doch nicht von der Welt. Schlechthin keinem
Hindu wäre es eingefallen, in dem Erfolg seiner ökonomischen Berufstreue das Zei-
chen seines Gnadenstandes zu erblicken oder - was wichtiger ist - die rationale Umge-
staltung der Welt nach sachlichen Prinzipien als eine Vollstreckung göttlichen Willens
zu werten und zu unternehmen.
Dabei will nun immer berücksichtigt sein, wie dünn die Schicht der eigentlich intellek-
tualistischen und überhaupt der an Erlösung” in irgendeinem rationalen Sinn interes-
sierten Schichten in Indien war und ist. Von Erlösung” (moksha, mukhti) weiß die
Masse, zum mindesten der heutigen Hindu, nichts. Sie kennt kaum den Ausdruck, je-
denfalls nicht die Bedeutung. Aehnlich dürfte es, kurze Perioden ausgenommen, immer
gewesen sein. Ganz massive rein diesseitige Heilsinteressen, grobe Magie, daneben
aber die Verbesserung der Wiedergeburtschancen sind und waren das, was sie erstreb-
te. Auch das Sektentum ergreift wenigstens heute nicht die wirklichenMassen”.
Nimmt man als Maßstab die ausdrückliche Aufnahme in eine Sekte (durch Mantra -
Erteilung und Bemalung oder Brandmarkung) nach vorhergehender Unterweisung, so
werden wohl schwerlich mehr als 5 % der Bevölkerung, wahrscheinlich aber weniger,
Vischnuiten, Çivaiten,
1
) Dabei. ist es in der Sektenreligiosität durchaus geblieben, wie namentlich die Spruchweisheit
zeigt. Unter den bei L i e b i c h a. a. O. bequem in Uebersetzung zugänglichen Worten seien
hervorgehoben: S. 281, Nr. 14: entweder Liebe - oder der Wald (Askese). Ein verlorenes Le-
ben hat geführt, wer weder Gedanken für Çiva gehabt, n o c h der Liebe gelebt hat (S. 299,
Nr. 11), wer w e d e r Wissenschaft, n o c h Reichtumserwerb, n o c h Pietät, n o c h
Erotik gepflegt hat (S. 305, Nr. 47), wer w e d e r Wissen, n o c h Kriegsruhm, n o c h
schöne Mädchen besessen hat (S. 313, Nr. 87, dies in der Form besonders schön) und es wer-
den dabei (S. 319 Schlußvers der Sammlung und in den anderenStellen) diese verschiedenen
Werte im Ganzen meist koordiniert. Auch die tter: Çiva, Brahman und Vischnu als “Skla-
ven” des Liebesgottes: S. 278, Nr. 1; andererseits: Çiva als Feind der Weiber (S. 283, Nr. 83)
und des Liebesgottes (S. 302, Nr. 28) oder als dessen Züchtiger” (S. 313, Nr. 90). Das Alles
entspricht der früher schon aus einigen Monumenten illustrierten organisch - relativistischen
Grundlage aller indischen Ethik.
362
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [361]
Jaina und Buddhisten sein. Zwar hat man
1
) die Theorie aufgestellt und geistreich ver-
teidigt: jeder nicht heterodoxe Hindu sei, ohne es selbst zu wissen, entweder Çaiva
oder Vaishnava, d. h. er strebe entweder - im ersten Fall - nach Absorption im Alleinen
oder - im letzteren - nach ewigem Leben, und dies zeige sich in seinem Verhalten in
der Todesstunde, in der Art der Formel zur Anrufung des Nothelfers (Mantra), die er
dann gebrauche. Indessen abgesehen davon, daß es eine solche besondere Mantra r
die Todesstunde wirklich allgemein überhaupt gar nicht gibt und daß es auch çivaiti-
sches Unsterblichkeitsstreben gab, so sind die üblichen und gebräuchlichen Formeln
(vor allem Anrufungen Ramas
2
) so nichtssagend, daß daraus irgendeine Beziehung zu
einem Gott und dessen spezieller Gemeinschaft durchaus nicht geschlossen werden
kann. Die Masse der Hindu kennt Çiva und Vischnu zuweilen nicht einmal dem Na-
men nach
3
); er versteht unter Erlösung” (mukhti) allenfalls eine günstige Wiederge-
burt, und gerade diese ist, der alten hinduistischen Soteriologie entsprechend, nach sei-
ner Ansicht lediglich sein eigenes Werk, nicht das des Gottes. Von seinem lokalen
Dorfgott erwartet er die Spendung von Regen und Sonnenschein, vom Familiengott,
dem Mailar Linga oder Kedar Linga (Fetisch), Hilfe in sonstigen Alltagsnöten. Von ir-
gendeiner konfessionellen” Erziehung durch die Gurus, deren er sich als Berater be-
dient, kann gar keine Rede sein, da der Guru ja neben rituellen Formeln nur die für die
Masse der Laien ganz unverständliche brahmanische Theologie gelernt hat: hier eben
zeigt sich die Kluft der Intellektuellen - Religiosität gegenüber dem Alltagsbedarf der
Massen. Die Zurechnung zu einer Sekte hängt vom brahmanischen Guru ab, der allein
davon etwas versteht. Die Masse bindet sich in keiner Art an eine Konfession. Sondern
wie der antike Hellene Apollon und Dionysos je nach der Gelegenheit verehrte, der
Chinese buddhistischen Messen, taoistischer Magie und konfuzianischen Tempelkulten
andächtig beiwohnt, so behandelt der nicht in Sekten besonders rezipierte einfache
Hindu die Kulte und Gottheiten. Und zwar nicht nur die als orthodox geltenden. Nicht
nur jainistische und buddhistische, sondern auch islamische
1
) So der verdienstvolle Indologe Grierson. S. darüber und dagegen die Ausführungen von Blunt im
Census Report (United Provinces) von 1911.
2
) Etwa: Ram, Ram, satya Ram (vischnuitisch).
3
) Wird in diesem Fall überhaupt ein “höchster” Gott verehrt, dann der alte Paramesvara.
363
Hinduismus und Buddhismus. [362]
und christliche Heilige (so der heilige Franz Xavier, der erste Jesuitenmissionar) er-
freuen sich an ihren Festen seines Zuspruchs. Die Sekten und ihre Heilandsreligiosität
waren und sind eine Angelegenheit der - meist - von Intellektuellen beratenen Mittel-
stände, die Erlösung durch die Kraft der Kontemplation eine solche der Intellektuellen-
schichten. Woraus freilich, wie die Darstellung wohl ergeben hat, nicht etwa folgt: daß
die Eigenart der Intellektuellenreligion und ihrer Verheißungen nicht die allernachhal-
tigsten indirekten Wirkungen auf die Lebensführung der Massen geübt habe. Dies war
vielmehr in hohem Maße der Fall. Aber dem Effekte nach wirkte dieser Einfluß nie-
mals im Sinn innerweltlicher methodischer Rationalisierung der Lebensführung der
Massen, sondern meist gerade umgekehrt. Reichtum und insbesondere Geld genießen
eine fast überschwengliche Schätzung
1
) in der indischen Spruchweisheit. Aber neben
der Alternative: Selbstgenießen oder Verschenken steht als dritte nur: der Verlust
2
).
Statt eines Antriebs zur rationalen ökonomischen Vermögensakkumulation und Kapi-
talverwertung schuf der Hinduismus irrationale Akkumulationschancen für Magier und
Seelenhirten und Pfnden r Mystagogen und ritualistisch oder soteriologisch orien-
tierte Intellektuellenschichten
3
).
Wesentlich eine Angelegenheit der Intellektuellenschicht, und zwar in diesem Fall der
modernen durch europäischen Einflgezüchteten oder doch von daher beeindruckten
Intellektuellenschicht, sind auch die modernen “Reform” - Bewegungen
1
) Vgl. z. B. die Stellen bei L i e b i c h , a. a. O. S. 265, Nr. 40, 41.
2
) Ebenda Nr. 43.
3
) Die für Indien spezifische Form der Akkumulation großer Vermögen illustriert am besten jener
Glückspilz von Vaidika, der im 13. Jahrhunde von einem Rajah, auf dessen Hausdach ein toter
Geier gefallen war, nach Kotalihapur berufen wurde, um die schlimmen Folgen dieser ominösen
Verunreinigung rituell zu beseitigen. Außer immensen Gelüihren für die kostspieligen Zeremonien
selbst wurde er zum Dank dergestalt mit Landlehen und Zamindari - Stellungen ausgestattet, daß
die Familie bis in die neueste Zeit zu den reichsten in Bengalen zählte.
Handel wird gelegentlich im Panchatantra (s. die Stelle bei L i e b i c h a. a. O. S. 99) den
anderen Arten des Gelderwerbes (nämlich: Betteln, Königsdienst, Ackerbau, Wissen, Wucher)
vorangestellt. Als Arten des Handelsbetriebs werden aber dabei neben Spezereihandel, Depositen-
geschäft, Geschäftsführung einer Gesellschaft, Handel mit Fremden, Gütertransport aufgeführt:
Gewinn durch Angabe falscher Preise und durch Gebrauch falscher Maße und Gewichte und dabei
alle diese Arten einander gleichgestellt: ein starker Gegensatz gegen sowohl die puritanische wie
die jainistische Ethik.
364
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [363]
innerhalb des Hinduismus, die bei uns viel erörterte Gemeinschaft Brahmo Somaj”
und die vielleicht noch wichtigere andre Arya Somaj”. Ihre Geschichte gehört in uns-
re Zusammenhänge so wenig wie die Darstellung der durch die anglo - indische Uni-
versitätsbildung gezüchteten, politischen und journalistischen Träger des allmählich in
diesem Lande der Zerklüftung in zahllose einander bitter feindliche Kasten-, Sekten-,
Sprach- und Rassengruppen aufkommenden, modernen indischen Nationalbewußtseins
im occidentalen Sinn des Wortes: - einer Erscheinung, welche dem hier zu schildern-
den bodenständigen Indertum notwendig fremd war. Denn sie wächst nur auf dem Bo-
den einheitlicher bürgerlicher Klassen in Verbindung mit einer auf sie eingestellten na-
tionalen Literatur und - vor allem - Presse und setzt im allgemeinen eine irgendwie
einheitliche (äußere) Lebensführung voraus. Von alle dem bes das Indien des histo-
rischen Hinduismus das gerade Gegenteil. -
Blicken wir nach diesem, gegenüber dem unerhörten Reichtum der Gestaltungen,
überaus oberflächlichen Rundgang durch die asiatische Kulturwelt zurück, so wird sich
etwa Folgendes sagen lassen :
Für Asien als Ganzes hat China etwa die Rolle Frankreichs im modernen Occident ge-
spielt. Aller weltmännische Schliff” stammt von dort, von Tibet bis Japan und Hinter-
indien. Dagegen ist Indien etwa die Bedeutung des antiken Hellenentums zugefallen.
Es gibt wenig über praktische Interessen hinausgehendes Denken in Asien, dessen
Quelle nicht letztlich dort zu suchen wäre. Vor allem haben r ganz Asien die indi-
schen, orthodoxen und heterodoxen, Erlösungsreligionen annähernd die Rolle des
Christentums in Anspruch genommen. Mit dem einen großen Unterschied: daß abge-
sehen von lokalen und meist auch vorübergehenden Ausnahmen keine von ihnen dau-
ernd zur alleinherrschenden Konfession in dem Sinn erhoben worden ist, wie dies bei
uns im Mittelalter und bis nach dem westfälischen Frieden der Fall war. Asien war und
blieb, im Prinzip, das Land der freien Konkurrenz der Religionen, der Toleranz” im
Sinne etwa der Spätantike. Das heißt also: unter Vorbehalt der Schranken der Staatsrä-
son, - die schließlich ja, nicht zu vergessen, auch bei uns heute als Grenzen aller reli-
giösen Duldung fortbestehen, nur mit anderer Wirkungsrichtung. Wo diese politischen
Inter-
365
Hinduismus und Buddhismus. [364]
essen irgendwie in Frage kamen, hat es auch in Asien an Religionsverfolgungen größ-
ten Stiles nicht gefehlt. Am stärksten in China, aber auch in Japan und Teilen von Indi-
en. Wie in Athen in der Zeit des Sokrates, so konnte ferner auch in Asien jederzeit die
Deisidaimonie ein Opfer fordern. Und endlich haben Religionskriege der Sekten und
militarisierten Mönchsorden auch in Asien, bis in das 19. Jahrhundert, ihre Rolle ge-
spielt. Aber im ganzen bemerken wir sonst jenes Nebeneinander von Kulten, Schulen,
Sekten, Orden aller Art, welches auch der occidentalen Antike eignete. Dabei waren
freilich jene konkurrierenden Richtungen in den Augen der jeweiligen Mehrheit der
herrschenden Schichten und oft auch der politischen Mächte keineswegs gleichwertig.
Es gab orthodoxe und heterodoxe und unter den orthodoxen mehr oder minder klassi-
sche Schulen, Orden und Sekten. Vor allem - und das ist r uns besonders wichtig -
schieden sie sich auch sozial voneinander. Einerseits (und zum kleineren Teil) je nach
den Schichten, in denen sie heimisch waren. Andererseits aber (und hauptsächlich) je
nach Art des Heils, das sie den verschiedenen Schichten ihrer Anhänger spendeten.
Die erste Erscheinung fand sich teils so, daß einer, jede Erlösungsreligiosität schroff
ablehnenden, sozialen Oberschicht volkstümliche Soteriologien in den Massen gege-
berstanden: den Typus dafür gab China ab. Teils so, daß verschiedene soziale
Schichten verschiedene Formen der Soteriologie pflegten. Diese Erscheinung ist dann
in den meisten Fällen, nämlich in allen denen, wo sie nicht zu sozial geschichteten Sek-
ten hrte, mit der zweiten identisch: Die gleiche Religion spendet verschiedene Arten
von Heilsgütern und nach diesen ist die Nachfrage in den verschiedenen sozialen
Schichten verschieden stark. Mit ganz wenigen Ausnahmen kannten die asiatischen
Soteriologien Verheißungen, die nur den exemplarisch, meist: mönchisch, Lebenden
zugänglich waren, und andre, die für die Laien galten. Fast ausnahmslos alle Soteriolo-
gien indischen Ursprungs haben diesen Typus. Die Gründe beider Erscheinungen wa-
ren gleichartige. Vor allem zwei untereinander eng verknüpfte. Einmal die Kluft, wel-
che den literarisch “Gebildeten” von der aliterarischen Masse der Banausen abhob.
Dann die damit zusammenhängende, allen Philosophien und Soteriologien Asiens
schließlich gemeinsame Voraussetzung: daß W i s s e n , sei es literarisches Wissen
oder mystische Gnosis, letztlich der eine absolute Weg zum höchsten Heil im Diesseits
und
366
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [365]
Jenseits sei. Ein Wissen, wohlgemerkt, nicht von den Dingen dieser Welt, vom Alltag
der Natur und des sozialen Lebens und den Gesetzen, die beide beherrschen. Sondern
ein philosophisches Wissen vom Sinn der Welt und des Lebens. Ein solches Wissen
kann mit den Mitteln empirischer occidentaler Wissenschaft selbstverständlich nie er-
setzt werden und soll auch von ihr, ihrem eigensten Zweck nach, gar nicht erstrebt
werden. Es liegt jenseits ihrer. Asien, und das heißt wiederum: Indien, ist das typische
Land des intellektuellen Ringens einzig und allein nach Weltanschauungin diesem
eigentlichen Sinn des Worts: nach einem Sinndes Lebens in der Welt. Es kann hier
versichert werden und angesichts der Unvollständigkeit der Darstellung mes bei
dieser nicht voll bewiesenen Versicherung freilich sein Bewenden haben: daß es auf
dem Gebiet des Denkens über den Sinn der Welt und des Lebens durchaus nichts
gibt, was nicht, in irgend e i n e r F o r m , in Asien schon gedacht worden wäre. Je-
nes, nach der Natur seines eigenen Sinnes unvermeidlich und in aller Regel auch tat-
sächlich den Charakter der Gnosis an sich tragende Wissen, welches das asiatische
Denken erstrebte, galt, aller genuin asiatischen und das heißt: indischen, Soteriologie
als der einzige Weg zum höchsten Heil, zugleich aber als der einzige Weg zum richti-
gen H a n d e l n . Nirgends ist daher der allem Intellektualismus naheliegende Satz so
selbstverständlich gewesen: daß die Tugend lehrbar” sei, und daß das richtige Erken-
nen richtiges Handeln zur ganz unfehlbaren Folge habe. Selbst in den volkstümlichen
Legenden z. B. des Mahayanismus, welche r die bildende Kunst etwa die Rolle un-
serer biblischen Geschichten spielten, ist es überall die ganz selbstverständliche Vo-
raussetz- ung
1
). Nur Wissen gibt - je nachdem - ethische oder magische Macht über
sich selbst oder über andere. Durchweg ist jene Lehre” und dies Erkennen” des zu
Wissenden nicht ein rationales Darbieten und Erlernen empirisch - wissenschaftlicher
Kenntnisse, welche die rationale Beherrschung der Natur und der Menschen ermögli-
chen, wie im Occident. Sondern es ist das Mittel mystischer und magischer Herrschaft
über sich und die Welt: Gnosis. Sie will durch ein intensivstes Training des Körpers
und Geistes: entweder durch die Askese, oder, und zwar regelmäßig, durch ange-
strengte methodisch geregelte Meditation errungen werden. Daß das Wissen, der Sa-
che
1
) Siehe etwa die schon früher zitierten Mahasutasomajataka in der Uebersetzung von Grünwedel,
Buddhist. Studien, V. d. Kgl. M. f.lkerk. Berlin V S. 37 f.
367
Hinduismus und Buddhismus. [366]
nach, mystischen Charakters blieb, hatte zwei wichtige Folgen. Einmal den Heilsari-
stokratismus der Soteriologie. Denn die Fähigkeit mystischer Gnosis ist ein Charisma
und bei weitem nicht jedem zugänglich. Dann aber und damit zusammenhängend den
asozialen und apolitischen Charakter. Die mystische Erkenntnis ist nicht, mindestens
nicht adäquat und rational, kommunikabel. Die asiatische Soteriologie hrt den das
höchste Heil Suchenden stets in ein hinterweltliches Reich rational ungeformten und
eben wegen dieser Ungeformtheit göttlichen Schauens, Habens, Besitzens, Besessen-
seins von einer Seligkeit, die nicht von dieser Welt ist und doch in diesem Leben durch
die Gnosis errungen werden kann und soll. Sie wird bei allen höchsten Formen des
asiatischen mystischen Schauens als Leere”: - von der Welt und dem was sie bewegt
nämlich - erlebt. Dies entspricht ja dem normalen Sinncharakter der Mystik durchaus,
ist nur in Asien in seine letzten Konsequenzen gesteigert. Die Entwertung der Welt und
ihres Treibens ist schon rein psychologisch die unvermeidliche Folge dieses, an sich
rational nicht weiter deutbaren, Sinngehalts des mystischen Heilsbesitzes. Rational
ausgedeutet wird dieser mystisch erlebte Heilszustand als: der Gegensatz der Ruhe zur
Unrast. Die erste ist das Göttliche, die letzte das spezifisch Kreatürliche, daher letzt-
lich entweder geradezu Scheinhafte, oder doch soteriologisch Wertlose, zeitlich -
räumlich Gebundene und Vergängliche. Ihre rationalste und deshalb in Asien fast uni-
versell zur Herrschaft gelangte Ausdeutung erfuhr diese erlebnismäßig bedingte innere
Stellungnahme zur Welt durch die indische Samsara- und Karman - Lehre. Dadurch
gewann die soteriologisch entwertete Welt des realen Lebens einen relativen rationalen
Sinn. In ihr herrscht - nach den rational höchstentwickelten Vorstellungen - das Gesetz
des Determinismus. In der äußeren Natur, nach der namentlich in Japan entwickelten
mahayanistischen Lehre, die strenge Kausalität in unserem Sinn. In den Schicksalen
der Seele der ethische Vergeltungsdeterminismus des Karman. Aus ihnen gibt es kein
Entrinnen außer in der Flucht, durch die Mittel der Gnosis, in jenes hinterweltliche
Reich, mag das Schicksal der Seele dabei nun einfach als ein “Verwehenoder als ein
Zustand ewiger individueller Ruhe nach Art des traumlosen Schlafes, oder als ein Zu-
stand ewiger ruhiger Gefühlsseligkeit im Anschauen des Göttlichen, oder als ein Auf-
gehen im göttlichen Alleinen geft werden.
368
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [367]
Die Vorstellung jedenfalls, daß vergängliche Taten eines vergänglichen, Wesens auf
dieser Erde “ewige” Strafen oder Belohnungen imJenseits” zur Folge haben könnten,
und zwar kraft Verfügung eines zugleich allmächtigen und tigen Gottes, ist allem
genuin asiatischen Denken absurd und geistig subaltern erschienen und wird ihm im-
mer so erscheinen. Damit fiel aber der gewaltige Akzent, welchen, wie schon einmal
gesagt, die occidentale Jenseitslehre soteriologisch auf die kurze Spanne dieses Lebens
setzte, hinweg. Die Weltindifferenz war die gegebene Haltung, mochte sie nun die
Form der äußerlichen Weltflucht annehmen oder die des zwar innerweltlichen, aber
dabei weltindifferenten Handelns: einer Bewährung also g e g e n die Welt und das
eigene Tun, nicht in und durch beides. Ob das höchste Göttliche persönlich oder, wie
naturgemäß in der Regel, unpersönlich vorgestellt war, machte - und dies ist r uns
nicht ohne Wichtigkeit - einen graduellen, nicht einen prinzipiellen Unterschied und
selbst die selten, aber doch gelegentlich, vorkommende Ueberweltlichkeit eines per-
sönlichen Gottes war nicht durchschlagend. Entscheidend war die Natur des erstrebten
H e i l s guts. Diese aber wurde letztlich determiniert dadurch, daß eine dem Denken
über den Sinn der Welt um seiner selbst willen nachgehende Literatenschicht der Trä-
ger der Soteriologie war.
Dieser Intellektuellensoteriologie nun fanden sich die praktisch im Leben handelnden
Schichten Asiens gegenübergestellt. Eine innere Verbindung der Leistung in der Welt
mit der außerweltlichen Soteriologie war nicht möglich. Die einzige innerlich ganz
konsequente Form war die Kastensoteriologie des vedantistischen Brahmanentums in
Indien. Seine Berufskonzeption mußte politisch, sozial und ökonomisch extrem tradi-
tionalistisch wirken. Aber sie ist die einzige logisch ganz geschlossene Form der or-
ganischenHeils- und Gesellschaftslehre, welche je entstanden ist.
Die vornehmen Laienschichten haben die ihrer inneren Lage entsprechende Haltung
gegenüber der Soteriologie eingenommen. Soweit sie selbst ständisch vornehme
Schichten waren, gab es mehrere Möglichkeiten. Entweder sie waren eine literarisch
gebildete weltliche Ritterschaft, welche einer selbständigen literarisch geschulten Prie-
sterschaft gegenüberstand, wie die alten Kschatriya in Indien und die höfische Ritter-
schaft Japans. Dann haben sie teils sich an der Schaffung der priesterfreien Soteriolo-
gien beteiligt, wie namentlich in Indien, teils sich zu allem Religiösen
369
Hinduismus und Buddhismus. [368]
skeptisch gestellt, wie ein Teil der altindischen vornehmen Laien und erhebliche Teile
der japanischen vornehmen Intelligenz. Soweit sie im letzteren Fall Anlaß hatten, trotz
ihrer Skepsis sich mit den religiösen Gebräuchen abzufinden, haben sie sie regelmäßig
rein rituell und formalistisch behandelt. So geschah es mit Teilen der altjapanischen
und der altindischen vornehmen Bildungsschicht. Oder sie waren Beamte und Offizie-
re, wie in Indien. Dann trat lediglich diese letztgenannte Haltung ein. Ihre eigene Le-
bensführung wurde in all diesen bisher besprochenen Fällen von der Priesterschaft,
wenn diese dazu die Macht hatte - was in Indien der Fall war -, rituell ihren Eigenge-
setzlichkeiten entsprechend geordnet. In Japan war die Priesterschaft nach ihrer Nie-
derwerfung durch die Shogune nicht mehr mächtig genug, um die Lebensführung der
Ritterschicht mehr als rein äußerlich zu reglementieren. Oder, im Gegensatz zu dem
bisher besprochenen Fall: es waren die vornehmen Laien nicht nur weltliche Beamte,
Amtspfründner und -Anwärter in einer Patrimonialbürokratie, sondern zugleich Träger
des Staatskultes ohne Konkurrenz einer machtvollen Priesterschaft. Dann haben sie ei-
ne eigene streng zeremoniöse, rein innerweltlich orientierte Lebensführung entwickelt
und auch das Ritual als ständisches Zeremoniell behandelt, wie dies der Konfuzianis-
mus in China für dessen (relativ) demokratisch rekrutierte Literatenschicht tat. In Japan
fehlte der von der Macht der Priester relativ freien vornehmen weltlichem Bildungs-
schicht, trotz der auch dort den politischen Herren als solchen obliegenden rituellen
Pflichten, der chinesische patrimonialistische Beamten- und Amtsanwärter -Charakter:
sie waren ritterliche Adlige und Höflinge. Infolgedessen fehlte ihnen das pennalistische
und Scholaren - Element des Konfuzianismus. Sie waren eine zur Rezeption und zum
Synkretismus von allerhand Bildungselementen von überall her besonders stark dispo-
nierten Schicht von Gebildeten” schlechthin, im innersten Kern aber fest am feudalen
Ehrbegriff verankert.
Die Lage des aliterarischen Mittelstandes” in Asien, der Kaufleute und der zu den
Mittelstandsschichten gehörigen Teile des Handwerks, war infolge der Eigenart der
asiatischen Soteriologie eine eigentümlich von occidentalen Verhältnissen abweichen-
de. Ihre obersten Schichten haben die rationale Durchbildung der Intellektuellen - So-
teriologien teilweise mitgetragen,
370
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [369]
namentlich soweit diese negativ die Ablehnung des Ritualismus und Buchwissens, po-
sitiv die alleinige Bedeutung des persönlichen Erlösungsstrebens propagierten. Allein
der doch schließlich gnostische und mystische Charakter dieser Soteriologien bot keine
Grundlage r eine Entwicklung der ihnen adäquaten methodisch rationalen innerwelt-
lichen Lebensführung dar. Sie sind daher, soweit ihre Religiosität unter dem Einfluß
der Erlösungslehren sublimiert wurde, Träger der Heilandsreligiosität in ihren ver-
schiedenen Formen geworden. Auch hier wirkte aber der penetrant gnostische und my-
stische Charakter aller asiatischen Intellektuellensoteriologie und die innere Verwandt-
schaft von Gottinnigkeit, Gottesbesitz und Gottesbesessenheit, von Mystiker und
M a g i e r entscheidend ein. Ueberall in Asien, wo sie nicht, wie in China und Japan,
gewaltsam niedergehalten wurde, nahm die Heilandsreligiosität die Form der Hagiola-
trie an und zwar der Hagiolatrie l e b e n d e r H e i l a n d e : der Gurus und der ih-
nen gleichartigen, sei es mehr mystagogischen, sei es mehr magischen Gnadenspender.
Dies gab der Religiosität des aliterarischen Mittelstandes das entscheidende Gepräge.
Die oft absolut schrankenlose Gewalt dieser, meist erblichen, Charismaträger ist nur in
China und Japan, aus politischen Gründen und mit Gewalt, ziemlich weitgehend ge-
brochen worden, in China zugunsten der Obedienz gegenüber der politischen Litera-
tenschicht, in Japan zugunsten einer Schchung des Prestiges aller klerikalen und
magischen Mächte überhaupt. Sonst ist es in Asien überall jene charismatische Schicht
gewesen, welche die praktische Lebensführung der Massen bestimmte und ihnen ma-
gisches Heil spendete: die Hingabe an den lebenden Heiland” war der charakteristi-
sche Typus der asiatischen Frömmigkeit. Neben der Ungebrochenheit der Magie über-
haupt und der Gewalt der Sippe war diese Ungebrochenheit des Charisma in seiner äl-
testen Auffassung: als einer rein magischen Gewalt, der typische Zug der asiatischen
sozialen Ordnung. Es ist den vornehmen politischen oder hierokratischen Literaten-
schichten zwar im allgemeinen gelungen, die massive Orgiastik zur Heilandsminne,
Andacht oder zur hagiolatrischen Formalistik und Ritualistik zu sublimieren oder zu
denaturieren, - übrigens mit verschieden vollständigem Erfolg, am meisten in China,
Japan, Tibet, dem buddhistischen Hinterindien, am wenigsten in Vorderindien. Aber
die Herrschaft der Magie zu brechen hat sie nur gelegent-
371
Hinduismus und Buddhismus. [370]
lich und nur mit kurzfristigem Erfolg überhaupt beabsichtigt und versucht. Nicht das
Wunder”, sondern der Zauber” blieb daher die Kernsubstanz der Massenreligiosität,
vor allem der Bauern und der Arbeiterschaft, aber auch des Mittelstands. Beides -
Wunder und Zauber - ist dem Sinn nach zweierlei. Man kann sich davon leicht beim
Vergleich etwa occidentaler und asiatischer Legenden überzeugen. Beide können ein-
ander sehr ähnlich sehen und namentlich die altbuddhistischen und die chinesisch
überarbeiteten Legenden stehen den occidentalen zuweilen auch innerlich nahe. Aber
der beiderseitige Durchschnitt zeigt den Gegensatz. Das Wunder” wird seinem Sinn
nach stets als Akt einer irgendwie rationalen Weltlenkung, einer göttlichen Gnaden-
spendung, angesehen werden und pflegt daher innerlich motivierter zu sein als der
Zauber”, der seinem Sinn nach dadurch entsteht, daß die ganze Welt von magischen
Potenzen irrationaler Wirkungsart erfüllt ist und daß diese in charismatisch qualifizier-
ten, aber nach ihrer eigenen freien Willkür handelnden Wesen, Menschen oder Ue-
bermenschen, durch asketische oder kontemplative Leistungen aufgespeichert sind.
Das Rosenwunder der heiligen Elisabeth erscheint uns sinnvoll. Die Universalität des
Zaubers dagegen durchbricht jeden Sinnzusammenhang der Geschehnisse. Man kann
gerade in den typischen durchschnittlichen asiatischen Legenden, etwa der Mahayani-
sten, diesen innerweltlichen Deus ex machina in der scheinbar unverständlichsten Art
mit dem ganz entgegengesetzten, ebenso tief unkünstlerischen, weil rationalistischen
Bedürfnis, irgendwelche ganz gleichltigen Einzelheiten des legendenhaften Ge-
schehnisses möglichst chtern historisch zu motivieren, ineinandergreifen sehen. So
ist denn der alte Schatz der indischen Märchen, Fabeln und Legenden, die geschichtli-
che Quelle der Fabelliteratur der ganzen Welt, durch diese Religiosität der zaubernden
Heilande später in eine Art von Kunstliteratur absolut unkünstlerischen Charakters
umgestaltet worden, deren Bedeutung r ihr Lesepublikum etwa der Emotion durch
die populären Ritterromane, gegen welche Cervantes zu Felde zog, entspricht.
Dieser höchst antirationalen Welt des universellen Zaubers gehörte nun auch der öko-
nomische Alltag an, und aus ihr hrte daher kein Weg zu einer rationalen innerweltli-
chen Lebenshrung. Zauber nicht nur als therapeutisches Mittel, als Mittel, Geburten
und insbesondere männliche Geburten zu erzielen,
372
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [371]
das Bestehen von Examina oder die Erringung aller nur denkbaren innerirdischen Gü-
ter zu sichern, Zauber gegen den Feind, den erotischen oder ökonomischen Konkurren-
ten, Zauber r den Redner zum Gewinn des Prozesses, Geisterzauber des Gläubigers
zur Zwangsvollstreckung gegen den Schuldner, Zauber zur Einwirkung auf den Reich-
tumsgott r das Gelingen von Unternehmungen, - all das entweder in der ganz groben
Form der Zwangsmagie oder in der verfeinerten der Gewinnung eines Funktionsgottes
oder Dämons durch Geschenke, - mit solchen Mitteln bewältigte die breite Masse der
aliterarischen und selbst der literarischen Asiaten ihren Alltag. Eine rationale prakti-
sche Ethik und Lebensmethodik, welche aus diesem Zaubergarten allen Lebens inner-
halb der Weltherausgeführt hätte, gab es nicht. Gewiß gab es den Gegensatz des
Göttlichen und der Welt”, welcher im Abendlande geschichtlich die Konstituierung
derjenigen einheitlichen Systematisierung der Lebensführung bedingte, die üblicher-
weise als ethische Persönlichkeit” bezeichnet wird. Allein in Asien war der Gegen-
satz nirgends
1
) ein solcher des ethischen Gottes gegen eine Macht der Sünde”, des
radikal Bösen, welche durch aktives Handeln im Leben zu überwinden wäre. Sondern
entweder die ekstatische Gottbesessenheit, durch orgiastische Mittel zu gewinnen, im
Gegensatz zum Alltag, in welchem das Göttliche nicht als lebendige Macht gefühlt
wird. Also: eine Steigerung der Mächte der Irrationalität, welche die Rationalisierung
der innerweltlichen Lebensführung geradezu hemmte. Oder der apathisch - ekstatische
Gottbesitz der Gnosis im Gegensatz zum Alltag als der Stätte vergänglichen und sinn-
losenTreibens. Also: ebenfalls eine außeralltägliche und zwar passive, dabei vom
Standpunkt innerweltlicher Ethik aus irrationale, weil mystische, Zuständlichkeit, die
vom rationalen Handeln in der Welt abführte. Wo die innerweltliche Ethik fach-
menschlich” systematisiert war, wie mit großer Konsequenz und mit praktisch hinläng-
lich wirksamen soteriologischen Prämien r das entsprechende Verhalten in der hin-
duistischen innerwelt-
1
) Nur in diesem Sinn darf man Percival L o w e l l s (The soul of the Far East, Boston and New
York 1888) geistreich durchgeführte These von der Unpersönlichkeitals dem Grundzug des
Ostasiaten verstehen wollen. - Was übrigens sein Dogma von der Monotonie” des asiatischen
Lebens anlangt, so m sie, zumal von einem Amerikaner ausgesprochen, sicher das begründete
Erstaunen aller Ostasiaten hervorrufen. Ueber das eigentliche Kernland der “Monotonie” wird ein
Bürger der Vereinigten Staaten wohl James Bryce als klassischen Zeugen gelten lassen müssen.
373
Hinduismus und Buddhismus. [372]
lichen Kastenethik, - da war sie zugleich traditionalistisch und ritualistisch absolut ste-
reotypiert. Wo dies nicht der Fall war, tauchten zwar Ansätze organischer Gesell-
schaftstheorien” auf, aber ohne psychologisch wirksame Prämien r das entsprechen-
de praktische Handeln; und eine konsequente und psychologisch wirksame Systemati-
sierung fehlte. Der Laie, dem die Gnosis und also das höchste Heil versagt ist oder der
sie r sich ablehnt, handelt ritualistisch und traditionalistisch und geht so seinen All-
tagsinteressen nach. Die schrankenlose Erwerbsgier des Asiaten im Großen und im
Kleinen ist in aller Welt als unerreicht berüchtigt und im allgemeinen wohl mit Recht.
Aber sie ist eben Erwerbstrieb”, dem mit allen Mitteln der List und unter Zuhilfenah-
me des Universalmittels: Magie nachgegangen wird. Es fehlte gerade das r die Oe-
konomik des Occidents Entscheidende: die Brechung und rationale Versachlichung
dieses T r i e b charakters des Erwerbsstrebens und seine Eingliederung in ein System
rationaler innerweltlicher Ethik des Handelns, wie es die innerweltliche Askesedes
Protestantismus im Abendland, wenige innerlich verwandte Vorläufer fortsetzend,
vollbracht hat. Dafür fehlten in der asiatischen religiösen Entwicklung die Vorausset-
zungen. Wie sollte sie auf dem Boden einer Religiosität entstehen, die auch dem Laien
das Leben als Bhagat, als heiliger Asket, nicht nur als Altersziel, sondern sogar die
zeitweise Existenz als Wanderbettler während arbeitloser Zeiten seines Lebens über-
haupt - und nicht ohne Erfolg
1
) - als religiös verdienstlich anempfahl ? -
Im Occident ist das Entstehen der rationalen innerweltlichen Ethik an das Auftreten
von Denkern und Propheten geknüpft, die, wie wir sehen werden, auf dem Boden
p o l i t i s c h e r Probleme eines sozialen Gebildes erwuchsen, welches der asiati-
schen Kultur fremd war: des politischen rgerstandes der S t a d t , ohne die weder
das Judentum noch das Christentum noch die Entwicklung des hellenischen Denkens
vorstellbar sind. Die Entstehung der Stadt” in diesem Sinn aber war in Asien teils
durch die erhaltene Ungebrochenheit der Sippenmacht, teils durch die Kastenfremdheit
gehemmt.
Die Interessen des asiatischen Intellektuellentums, soweit sie über den Alltag hinaus-
gingen, lagen meist in anderer als in
1
) In Indien kam namentlich im April das zeitweise Leben vom Wanderbettel bei Mitgliedern der un-
teren Kasten als rituelle Leistung vor.
374
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [373]
politischer Richtung. Selbst der politische Intellektuelle: der Konfuzianer, war mehr äs-
thetisch kultivierter Schriftgelehrter und allenfalls Konversations- (also in diesem Sinn:
Salon-) Mensch als Politiker. Politik und Verwaltung war nur seine Pfründnernahrung,
die er im übrigen praktisch durch subalterne Helfer besorgen li. Der orthodoxe oder
heterodoxe, hinduistische und buddhistische Gebildete dagegen fand seine wahre In-
teressensphäre ganz außerhalb der Dinge dieser Welt: in der Suche nach dem mysti-
schen, zeitlosen Heil der Seele und dem Entrinnen aus dem sinnlosen Mechanismus
des Radesdes Daseins. Um darin ungestört zu sein, mied der hinduistische, um die
Feinheit der ästhetischen Geste sich nicht vergröbern zu lassen, mied der konfuziani-
sche Gentleman die nähere Gemeinschaft mit dem westländischen Barbaren. Es schied
ihn von diesem die nach seinem Eindruck strotzende, aber ungebändigte und unsubli-
mierte Ungehemmtheit der Leidenschaften und der Mangel an Scheu, mit welchem ihm
gestattet wurde, sich in Lebensführung, Geste, Ausdruck zu entblößen: die in diesem
Sinne fehlende Herrschaft über sich selbst. Nur hatte die spezifisch asiatische Beherr-
schung seiner selbst wiederum ihr eigentümliche Züge, welche vom Occidentalen im
ganzen als rein negativ” gewertet werden mußten. Denn auf welchen Mittelpunkt war
jene stets wache Selbstbeherrschung, welche alle asiatischen Lebensmethodiken ohne
alle Ausnahme dem Intellektuellen, Gebildeten, Heilssucher vorschrieben, letztlich ge-
richtet ? Was war der letzte Inhalt jener konzentriert angespannten Meditation” oder
jenes lebenslangen literarischen Studiums, welche sie, wenigstens wo sie den Charak-
ter des Vollendungs - Strebens annahmen, als höchstes Gut gegen jene Störungen von
außen gewahrt wissen wollten ? Das taoistische Wu wei, die hinduistische “Entlee-
rung von Weltbeziehungen und Weltsorgen, und die konfuzianische Distanz” von
den Geistern und der Befassung mit fruchtlosen Problemen lagen darin auf der gleichen
Linie. Das occidentale Ideal der aktiv handelnden, dabei aber auf ein, sei es jenseitig
religiöses, sei es innerweltliches, Zentrum bezogenen Persönlichkeit” würden alle
asiatischen höchstentwickelten Intellektuellensoteriologien entweder als in sich letzt-
lich widerspruchsvoll oder als banausisch fachmäßig vereinseitigt, oder als barbarische
Lebensgier ablehnen. Wo es nicht die Schönheit der traditionellen und durch das Raf-
finement des Salons sublimierten Geste rein als solche ist, wie
375
Hinduismus und Buddhismus. [374]
im Konfuzianismus, da ist es das hinterweltliche Reich der Erlösung vom Vergängli-
chen, wohin alle höchsten Interessen weisen und von wo aus die Persönlichkeit” ihre
Würde empfängt. In den höchsten, nicht nur den orthodox buddhistischen, Konzeptiti-
nen heißt dies Nirwana”. Zwar nicht sprachlich, wohl aber sachlich, re es ganz un-
bedenklich, dies, wie es populär oft geschah, mit Nichts” zu übersetzen. Denn unter
dem Aspekt der Welt” und von ihr aus gesehen, wollte es ja in der Tat nichts anderes
sein. Freilich: vom Standpunkt der Heilslehre aus ist der Heilszustand meist anders und
sehr positiv zu prädizieren. Aber es darf schließlich doch nicht vergessen werden: daß
das Streben des typisch asiatischen Heiligen auf Entleerung ging, und daß jener
positive Heilszustand der unaussagbaren todentronnenen diesseitigen Seligkeit als
positives Komplement des Gelingens zunächst nur e r w a r t e t wurde. Aber nicht
immer auch erreicht. ImGegenteil: ihn wirklich, als Besitz des Göttlichen, haben zu
können, war das hohe Charisma der Begnadeten. Wie stand es aber mit dem großen
Haufen, der ihn nicht erreichte ? Nun, bei ihnen war eben in einem eigentümlichen
Sinn das Ziel Nichts, die Bewegung Alles”: - eine Bewegung in der Richtung der
Entleerung”. Der Asiate, gerade der ganz- oder halbintellektuelle Asiate macht dem Occidentalen
leicht den Eindruck des “Rätselhaften und “Geheimnisvollen”. Man sucht dem ver-
muteten Geheimnis durch Psychologie” beizukommen. Ohne nun natürlich irgendwie
zu leugnen, daß psychische und physische Unterschiede der Disposition bestehen
1
): -
übrigens sicher nicht größere, als zwischen Hindus und Mongolen, die dennoch beide
der gleichen Soteriologie zugänglich gewesen sind, - mdoch betont werden, daß
dies nicht der primäre Weg zum Verständnis ist. Durch Erziehung eingeprägte und
durch die objektive Lage aufgezwungene Interessenrichtungen, nichtGefühlsgehalte”,
sind das zunächst Greifbare. Das für den Occidentalen vornehmlich Irrationale am
Verhalten des Asiaten war und ist durch zeremonielle und rituelle Gepflogenheiten be-
dingt, deren Sinn” er nicht versteht, - wie übrigens, bei uns ebenso wie in Asien, der
ur-
1
) Namentlich würde für unsere Zusammenhänge rassenneurologisch die vermutlich sehr starke Hy-
sterisierbarkeit und Authypnotisierbarkeit der Inder in Betracht kommen. Fraglich bliebe: wie weit
ein etwa feststellbarer Unterschied der Disposition durch die im Keim wohl bei fast allen “Natur-
völkern” zu findende, hier aber zur Kunst entwickelten Technik neuropathischer Ekstasen erst
erworben ist.
376
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [375]
sprüngliche Sinn solcher Sitten dem, der in ihnen aufgewachsen ist, selbst oft nicht
mehr klar zu sein pflegt. Darüber hinaus pflegt die reservierte würdevolle Contenance
und das höchst bedeutsam erscheinende Schweigen des asiatischen Intellektuellen die
occidentale Neugier zu foltern. Bezüglich dessen aber, was letztlich hinter diesem
Schweigen an Inhalten steht, wird es vielleicht oft gut sein, sich eines naheliegenden
Vorurteils zu entschlagen. Wir stehen vor dem Kosmos der Natur und meinen: sie
müsse doch, sei es dem sie analysierenden Denker, sei es dem auf ihr Gesamtbild
schauenden und von ihrer Schönheit ergriffenen Betrachter, irgendein letztes Wort”
über ihren Sinn” zu sagen haben. Das Fatale ist - wie schon W. Dilthey gelegentlich
bemerkt hat -, daß eben die “Naturein solches letztes Wort” enttweder nicht zu ver-
raten hat oder dazu sich nicht in der Lage sieht. Aehnlich steht es recht oft mit dem
Glauben, daß, wer geschmackvoll schweigt, wohl viel zu verschweigen haben müsse.
Das ist aber nicht der Fall, beim Asiaten so wenig wie sonst, so gewiß es wahr ist, daß
die soteriologischen Produkte der asiatischen Literatur die meisten auf diesem eigenar-
tigen Gebiet auftauchenden Probleme weit rücksichtsloser durchgearbeitet haben, als
dies der Occident getan hat.
Das Ausbleiben des ökonomischen Rationalismus und der rationalen Lebensmethodik
überhaupt in Asien ist, soweit dabei andere als geistesgeschichtliche Ursachen mitspie-
len, vorwiegend bedingt durch den k o n t i n e n t a l e n Charakter der sozialen Ge-
bilde, wie ihn die geographische Struktur hervorbrachte. Die occidentalen Kulturherde
haben sich durchweg an Stätten des Außen- oder Durchgangshandels gebildet: Baby-
lon, das Nildelta, die antike Polis und selbst die israelitische Eidgenossenschaft an den
Karawanenstraßen Syriens. Anders in Asien.
Die asiatischen Völker haben sich überwiegend auf den Standpunkt des Ausschlusses
oder der äußersten Beschränkung des Fremdhandels gestellt. So, bis zur gewaltsamen
Oeffnung, China, Japan, Korea, noch jetzt Tibet, in wesentlich minderem, aber doch
fühlbarem Maße auch die meisten indischen Gebiete. Bedingt war die Einschränkung
des Fremdhandels in China und Korea durch den Prozeß der Verpfründung, welche au-
tomatisch zur traditionalistischen Stabilität der Wirtschaft führte. Jede Verschiebung
konnte Einnahme - Interessen eines Mandarinen gefährden. In Japan wirkte das Inter-
esse des Feudalismus an
377
Hinduismus und Buddhismus. [376]
der Stabilisierung der Wirtschaft ähnlich. Ferner - und dies galt ebenso für Tibet -
wirkten dahin rituelle Gründe: das Betreten heiliger Stätten durch Fremde beunruhigte
die Geister und konnte magische Uebel zur Folge haben: die Reiseschilderungen lassen
(namentlich r Korea) erkennen, wie die Bevölkerung beim Erscheinen von Europäern
an den heiligen Stätten von wahnsinniger Angst vor dessen Folgen ergriffen zu werden
pflegte. In Indien - dem Gebiet geringster Abgeschlossenheit - haben doch die zuneh-
mend wirksame rituelle Verdächtigkeit des Reisens, zumal im rituell unreinen Barba-
rengebiete, gegen den Aktivhandel, politische Bedenken für möglichste Einschränkung
der Fremdenzulassung gewirkt. Politische Bedenken waren in allen übrigen, besonders
aber den ostasiatischen Gebieten, auch der letzte entscheidende Grund, weshalb die
politischen Gewalten der rituellen Fremdenfurcht freie Bahn lien. Hat nun diese
strenge Klausur der einheimischen Kultur so etwas wie ein Nationalgefühl entstehen
lassen ? Die Frage mverneint werden. Die Eigenart der asiatischen Intellektuellen-
schichten hat im wesentlichen verhindert, daß nationale” politische Gebilde auch nur
von der Art entstanden, wie sie immerhin schon seit der Spätzeit des Mittelalters im
Occident sich entwickelten, - wenn auch die volle Konzeption der Idee der Nation
auch bei uns erst von den modernen occidentalen Intellektuellenschichten entfaltet
worden ist. Den asiatischen Kulturgebieten fehlte (im wesentlichen) die Sprachgemein-
schaft. Die Kultursprache war eine Sakralsprache oder eine Sprache der Literaten:
Sanskrit im Gebiet des vornehmen Indertums, die chinesische Mandarinensprache in
China, Korea, Japan. Teils entsprechen diese Sprachen in ihrer Stellung dem Lateini-
schen des Mittelalters, teils dem Hellenischen der orientalischen Spätantike oder dem
Arabischen der islamischen Welt, teils dem Kirchenslavischen und Hebräischen in den
betreffenden Kulturgebieten. Im mahayanistischen Kulturgebiet ist es dabei geblieben.
Im Gebiet des Hinayanismus (Birma, Ceylon, Siam), welcher grundsätzlich das Volks-
idiom als Missionssprache kannte, war die Guru - Theokratie eine so absolute, daß von
irgendwelchen weltlich - politischen Gemeinschaftsbildungen der Intellektuellen-
schicht, die hier aus Mönchen gebildet wurde, keine Rede war. Nur in Japan hatte die
feudale Entwicklung Ansätze eines wirklich nationalen” Gemeinschaftsbewußtseins
mit sich gebracht, wenn
378
M a x W e b e r, Religionssoziologie II.
III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität. [377]
auch vornehmlich aufständisch - ritterlicher Grundlage. In China aber war die Kluft,
welche die konfuzianische ästhetische Schriftkultur von allem Volkstümlichen trennte,
so ungeheuer, daß hier lediglich eine bildungsständische Gemeinschaft der Literaten-
schicht bestand und das Bewußtsein einer Gemeinsamkeit im übrigen nur soweit reich-
te, wie ihr unmittelbarer, freilich nicht geringer Einfluß: Das Imperium war, sahen wir,
im Grunde genommen ein Bundesstaat der Provinzen, zu einer Einheit verschmolzen
nur durch den obrigkeitlichen periodischen Austausch der überall in ihren Amtsbezir-
ken landfremden hohen Mandarinen. Immerhin war in China doch, wie in Japan, eine
den rein politischen Interessen zugewendete und dabei literarische Schicht vorhanden.
Eben diese fehlte aber in ganz Asien, wohin immer die spezifisch indische Soteriologie
ihren Fsetzte, - außer wo sie, wie in Tibet, als Klostergrundherrenschicht über der
Masse schwebte, eben deshalb aber nationale” Beziehungen zu ihr nicht hatte. Die
asiatischen Bildungsschichten blieben mit ihren eigensten Interessen ganz “unter sich”.
Wo immer eine Intellektuellenschicht den Sinn” der Welt und des eigenen Lebens
denkend zu ergründen und, - nach dem Mißerfolg dieser unmittelbar rationalistischen
Bemühung -, erlebnismäßig zu erfassen und dies Erleben dann, indirekt rationalistisch,
ins Bewußtsein zu erheben trachtet, wird sie der Weg irgendwie in die stillen hinter-
weltlichen Gefilde indischer unformbarer Mystik hren. Und wo andererseits ein
Stand von Intellektuellen, unter Verzicht auf jenes weltentfliehende Bemühen, statt
dessen bewußt und absichtsvoll in der Anmut und Würde der schönen Geste das höch-
ste mögliche Ziel innerweltlicher Vollendung findet, da gelangt sie irgendwie zum kon-
fuzianischen Vornehmheitsideal. Aus diesen beiden, sich kreuzenden und ineinander
schiebenden Komponenten ist aber ein wesentlicher Teil aller asiatischen Intellektuel-
lenkultur zusammengesetzt. Der Gedanke, durch schlichtes Handeln gemäß der For-
derung des Tages” jene Beziehung zur realen Welt zu gewinnen, welche allem spezi-
fisch occidentalen Sinn von Persönlichkeit” zugrunde liegt, bleibt ihr ebenso fern wie
der rein sachliche Rationalismus des Westens, der die Welt praktisch durch Aufdecken
ihrer eigenen unpersönlichen Gesetzlichkeiten zu meistern trachtet
1
). Durch die strenge
zeremoniöse und hiera-
1
) Nicht daß gewisse (nicht alle) chinesischen Erfindungen im Dienst der
379
Hinduismus und Buddhismus. [378]
.
tische Stilisierung ihrer Lebensführung ist sie zwar davor bewahrt, nach moderner oc-
cidentaler Art den Versuch zu machen, durch die Jagd nach dem, was gerade und nur
diesem Einzelnen, im Gegensatz zu allen anderen, eigentümlich sei, sich selbst am
Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen und zu einer Persönlichkeit” zu machen, - ein Be-
mühen, ebenso fruchtlos wie der Versuch der planvollen Erfindung einer eigenen
künstlerischen Form, die Stilsein will. Aber jene teils rein mystischen teils rein in-
nerweltlich - ästhetischen Ziele ihrer Selbstdisziplin konnten allerdings nicht anders als
durch Entleerung von den realen Mächten des Lebens verfolgt werden und lagen den
Interessen der praktisch handelnden Massen” fern, welche sie daher in der Ungebro-
chenheit magischer Gebundenheit belien. Die soziale Welt klaffte auseinander in die
Schicht der Wissenden und Gebildeten und in die der bildungslosen plebejischen
Massen. Den Vornehmen blieben die sachlichen inneren Ordnungen der realen Welt,
der Natur wie der Kunst, der Ethik wie der Oekonomik, verborgen, weil sie ihnen je-
den Interesses bar schienen. Ihre Lebensführung orientierte sich, im Streben nach ei-
nem Außeralltäglichen, an dem Beispiel ihrer durchweg dem Schwerpunkt nach e x -
e m p l a r i s c h e n Propheten oder Weisen. Den Plebeern aber erschien keine ethi-
sche, ihren Alltag rational formende, S e n d u n g s prophetie. Das Auftreten dieser
aber im Occident, vor allem in Vorderasien, mit den weittragenden Folgen, die sich
daran knüpften, war durch höchst eigenartige geschichtliche Konstellationen bedingt,
ohne welche, trotz allen Unterschieds der Naturbedingungen, die Entwicklung dort
leicht in Bahnen hätte einmünden können, welche denen Asiens, vor allem Indiens,
ähnlich verlaufen wären.
.
Kunst und nicht der Oekonomik verwertet wurden, ist, wie wiederum Percival Lowell meint, das
Charakteristische. Das Experiment wurde auch bei uns aus der Kunst geboren und ihr gehörte,
chst den auch in Asien wichtigen kriegstechnischen und therapeutischen Zwecken, die Mehrzahl
der Erfindungenursprünglich an. Aber d a ß die Kunst “rationalisiertwurde und daß dann das
Experiment von ihrem Boden aus auf den der Wissenschaft überging, war das für den Occident Ent-
scheidende. Nicht die “Unpersönlichkeit”, sondern die - rational gewertet - Unsachlichkeit” ist das,
was im Osten den von uns sogenannten “Fortschritt” zum fachmenschlich Rationalen hemmte.
____________________
380
[VI]
Inhaltsübersicht.
Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. II. Seite
Hinduismus und Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 - 378
I. D a s h i n d u i s t i s c h e s o z i a l e S y s t e m . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 - 133
Indien und die allgemeine Stellung des Hinduismus 1. - Die Art der Propa-
ganda des Hinduismus 8. - Lehre und Ritus im Hinduismus 22. - Die Stellung
des Veda im Hinduismus 27. - Die Stellung der Brahmanen und das Wesen der
Kaste im Verhältnis zum “Stamm” , zur “Zunft” und zum “Stand” 33. - Die
soziale Rangordnung der Kasten im Allgemeinen 45. - Die Stellung der Sippe
und die Kasten 51. - Die Hauptgruppen der Kasten 57. - Kastenarten und
Kastenspaltungen 98. - Die Kastendisziplin 106. - Die Kasten und der Traditiona-
lismus 109. - Die religiöse Heilsbedeutung der Kastenordnung 116. -
Historische Entwicklungsbedingungen der Kasten in Indien 122.
II. D i e o r t h o d o x e n u n d h e t e r o d o x e n H e i l s l e h r e n d e r
i n d i s c h e n I n t e l l e k t u e l l e n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .134 - 250
Antiorgiastischer und ritualistischer Charakter der brahmanischen Religiosität
- Vergleich mit den hellenischen und konfuzianischen Intellektuellen-
schichten 134. - Das Dharma und das Fehlen des Naturrechtsproblems 141.
- Wissen, Askese und Mystik in Indien 146. - Der Sramana und die brahma-
nische Askese 157. - Das brahmanische Schrifttum und die Wissenschaft in
Indien 162. - Die Heilstechnik (Yoga) und die Entwicklung der Religions-
philosophie 167. - Die orthodoxen Erlösungslehren 170. - Die Heilslehre und
die Berufsethik des Bhagavadgita 189. - Die heterodoxe Soteriologie des
vornehmen Berufsmönchtums: I. Der Jainismus 202. - Der alte Buddhismus 217.
III. D i e a s i a t i s c h e S e k t e n - u n d H e i l a n d s r e l i g i o s i t ä t .. 251 -
378
Allgemeine Gründe der Umwandlung des alten Buddhismus 251. - König
Açoka 253. - Der Mahayanismus 264. - Die Mission: 1. Ceylon und Hinter-
indien 279. - 2. China 288. - 3. Korea 294. - 4. Japan S. 295. - Innerasien:
Der Lamaismus 309. - Die orthodoxe Restauration in Indien. Allgemeiner
Charakter 316. - Çivaismus und lingam-Kult 327. - Vischnuismus und bhakti-
Frömmigkeit 336. - Die Sekten und die Gurus 351. - Allgemeiner Charakter
der asiatischen Religiosität 363.